Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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Durch einen trüben Tag, Regen und Schnee ging die schwere Fahrt zur letzten Begegnung mit Dombaly. Sein Zusammenbruch hatte Hilde mächtiger erschüttert, als sie jemand verriet. Sie ließ selbst Siegfried nicht ganz in die Tiefe der Unruhe und Traurigkeit sehen, unter der ihr Busen erbebte. Die Gedanken an das Nächstliegende bang verhüllend, sprach sie mit fieberischer Lebhaftigkeit von der morgigen Heimkehr ins Tal ihrer Jugend. Aber da war ja der kleine Bahnhof erreicht, an dem sie von einem Wagen der Anstalt Enzenhof abgeholt wurden. Er rollte durch das abscheuliche Wetter. Sie erreichten den Enzenhof, ein weitläufiges Gebäude, halb Schloß, halb Villa, in der Nähe eines kleinen Dorfes und am Eingang eines großen Waldparkes, der von einer hohen Mauer umschlossen war.

Hilde war still und blaß geworden. Durch eine Halle führte der Pförtner das Paar in einen Wartesalon. Siegfried war darauf gefaßt, eine lange Stunde, während der Hilde bei Dombaly weilte, über den Büchern zu verbringen, die in dem eleganten und doch öden Gemach umherlagen. Leise sprach er der Fröstelnden Mut zu.

Da erschien auch schon der leitende Arzt, ein, wie es schien, vom Umgang mit den Kranken selbst etwas angegriffener Mann von höflichen Formen. Nach einem Augenblick der Begrüßung bat er Hilde, ihn zu begleiten. In einer Besprechung unter vier Augen erkundigte er sich nach ihren Beziehungen zu Dombaly, der von einer rasenden Liebe für sie besessen sei und oft ihre Gegenwart verlange. Da er sie aber entbehren müsse, bilde er sich seit einigen Tagen ein, er, Dombaly, habe sie auf irgendeine geheimnisvolle Weise ermordet. Darum möge sie die dringende Einladung entschuldigen; es wäre die größte Wohltat, die man dem Unglücklichen erweisen könne, wenn ihn ihr Anblick, ihre Stimme von seinem Irrtum überzeugten.

Hilde horchte wie gebrochen. Wie kam Dombaly auf den dunkeln Wahn?

Ehe sie sich Antwort gegeben hatte, sagte der Arzt: »Dombaly, der seine lichte Stunde hat, erwartet Sie mit sehnsüchtiger Freude; halb glaubt er, daß Sie kommen würden, halb nicht. Sprechen Sie, als ob es aus eigenem Antrieb geschehen wäre!«

Er führte sie in ein luxuriöses Gemach. Da saß Dombaly blaß und abgezehrt. Er erhob sich aus seinem Fauteuil und kam ihr mit raschem, elastischem Schritt und wie in geschwelltem Künstlerstolz entgegen. Schrecklich, seine Augen standen nicht mehr in der Achse! Um seinen verzogenen Mund aber schwebte jenes gütige knabenhafte Lächeln, das sie stets an ihm bezaubert hatte.

»Da bis! du ja, Kind – du meine Hilde«, zitterte seine Rede. »Ich danke dir, daß du auf mein Schloß gekommen bist. Im ›Gläsernen Himmel' hab' ich's dir gesagt: Wir Künstler sind die geheimen Könige! Du bist meine Königin! Ihr Pagen, bringt meiner Königin einen grünen Kranz!« – Und prahlerisch, doch mit erloschenem Feuer sprach er die Strophe:

»Uns aber laßt zechen – und krönen
Mit Laubgewind –«

Er brach ab, besann sich, schüttelte schmerzlich das Haupt. »Laubgewind?« stammelte er, »nein, nicht Laubgewind – vergiftete Stacheln! – Siehe, Kind, wie ich, der König, blute. – Das sind die Wunden von den Streichen der Manichäer! – Aber auch du, Hilde, Königin, blutest!« –

»Dombaly!« rang es sich wehvoll von Hildes Lippen. Sie versuchte zu sprechen, ihn aus den düsteren Phantasien in die Wirklichkeit zurückzuführen.

Beim Ton ihrer Stimme aber wandelte sich sein schon entstelltes Angesicht in das bare Entsetzen.

»Hilde, siehst du denn das Blut nicht an meinen Händen?« stöhnte er. »Und dir rinnt es über die Stirn. – Oh, die Indierin, das schlechte Weib!« Er stockte, brütete; einen Augenblick schien es, als sollten seine Gedanken zur Klarheit kommen, plötzlich aber griff er mit den abgemagerten Händen in die Luft und erhob seine Stimme bis zum Gebrüll. »Heran, ihr Schergen«, schrie er, »bindet mich! – richtet mich! – kreuziget mich! – Ich habe meine Schülerin, meine Hilde Rebstein ermordet. – Seht, wie das Blut aus ihren Wunden fließt!«

Der Arzt klingelte. Zwei Wärter kamen herbeigestürzt. Sie nahmen Dombaly hinweg. »Hilde – meine Rebstein!« gellte noch der Ruf aus seiner Zelle. –

Eine kurze, doch furchtbare Begegnung! – Hildes hatte sich über dem schaurigen Erlebnis das Entsetzen bemächtigt. Sie taumelte, als wäre sie selber halb irrsinnig.

»Legen Sie den Wahnvorstellungen des Unglücklichen doch kein Gewicht bei – das lebt ja nur in seinem kranken Gehirn«, tröstete der Arzt und reichte der fast Ohnmächtigen eine Erfrischung. Nach einer halben Stunde hatte sie sich so weit erholt, daß er sie Siegfried wieder zuführen konnte. Sie sank in die Arme des tief Erschütterten.

Während der ganzen Rückfahrt lag sie in einem Weinkrampf, hielt sie Siegfried leidenschaftlich und unter Liebesbeteuerungen umschlungen, aber von dem Schweren, das soeben zwischen ihr und Dombaly vorgefallen war, sprach sie nicht. Ein dumpfer Zwang, das Gräßliche zu verschweigen, lag über ihrer blutenden Seele.

Als das Paar im Laufe des Nachmittags wieder in München ankam, erkannte Herdhüßer auf den ersten Blick, daß es schlimm um Hilde stand. Ihr Gesicht war von Tränen gerötet, und es schüttelte und rüttelte ihre Gestalt wie von Frost, von Fieber und schwerer Krankheit. Warum hatte er sie nicht von der verhängnisvollen Fahrt zurückgehalten, sie nicht mit einem Telegramm durch ihre eigene Angegriffenheit bei der Anstaltsleitung von Enzenhof entschuldigt! –

Ihre Hand umklammerte die seine, als müsse sie Schutz vor irgendeinem drohenden Unheil bei ihm suchen – das Weinen zuckte ihr um den Mund.

»Wer in das zerfallene Gesicht Dombalys geblickt hat«, stammelte sie, »in die erloschenen Augen, wer sein wahnwitziges Lachen gehört hat und seine gellenden Schreie, als ihn die Wärter von mir hinwegrissen, der glaubt nicht mehr an ein Glück in dieser Welt, dem sind Licht und Sonne eine Lüge. Ich habe auf dem Enzenhof in einen Jammer geschaut, wie das Volk auf Golgatha bei der Kreuzigung des Herrn. Ich kenne nun den Karfreitag, den schrecklichen Tag! Sein Weh verfinstert die Erde, schwarze Fäden und schwarze Tücher fliegen durch die Luft, und schwarze Särge stehen überall für die Lebendigen bereit!«

Sie schauerte und zuckte zusammen.

»Hilde – Hilde!« bat der Doktor betroffen.

Ihre Stimme brach sich in Tränen und Schluchzen, der Frost schüttelte sie. Frau Herdhüßer brachte sie zu Bett, einen Arzt aber lehnte die Fassungslose ab.

»Ich will es in mir selbst verwinden«, schluchzte sie. »Was soll mir ein Arzt? Wenn er mir die morgige Reise verböte, dann müßte ich sicherlich sterben. Daheim aber wird das Entsetzliche vorübergehen. Ich muß ja wieder gesund werden – für dich, Siegfried! – Nur jetzt heim – heim – weit weg von Dombaly!«

Ihr fiebernder Mund bebte, unter dem Zuspruch der Frau Herdhüßer aber, die ihr mit linder Hand über die Stirne fuhr, beruhigte sie sich allmählich. Ein wohltätiger Schweiß trat auf ihre Wangen.

»Ich weiß, wie schwer sich selbst Männer von den trostlosen Eindrücken eines Irrenhausbesuches erholen«, wandte sich Herdhüßer an Siegfried. »Was aber ist denn unserer armen Hilde dazu noch Fürchterliches geschehen? Ich sehe nicht klar!«

»Auch ich nicht«, gestand Siegfried, der angegriffen und elend aussah.

Herdhüßer schüttelte den Kopf. »Ich habe freilich von einem schöneren Abschied geträumt«, sagte er verdüstert, und eine Weile war es still zwischen den beiden Männern.

Da kam Frau Herdhüßer. »Hilde ist ruhig geworden, sie schläft!«

»Sonderbar, nach dem heftigen Anfall!« murmelte der Doktor. »Aber so sind die phantasievollen Künstlernaturen, zu denen Hilde gehört. Irgendein Anstoß der Außenwelt, und sie schwingen nach den Höhen und Tiefen des Daseins stärker als wir andern. Was sie erleben, scheint mit einer Wucht erlebt, die den nüchtern denkenden Menschen zu Boden risse, aber mit gleicher Kraft drängen in diesen Naturen auch sofort wieder die Kräfte der Bejahung und Genesung durch Seele und Leib. Ich hoffe, du wirst morgen doch mit ihr reisen können!«

Der jähe Gemütsanfall Hildes war gebrochen. Als Siegfried nach ihr sah, standen auf ihrer Stirne die hellen Schweißtropfen. Nur einmal erwachte sie kurz aus dem Schlaf einer fast zu Tod Ermatteten. Sie fragte nach der Uhr.

»Gott, wie langsam die Stunden gehen«, seufzte sie. »So lange noch, bis die Zeit der Abfahrt da ist!«

Der Gedanke an die Heimkehr hatte nach und nach die Erinnerung an den Besuch bei Dombaly wohltätig verdrängt – der Schlaf der Jugend siegte über die dunkle Bedrohung, der ihre Seele anheimgefallen war. Wovor sollte sie sich fürchten, sie hatte ja gegen Dombaly, gegen die Welt ein gutes Gewissen! –


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