Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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7

Ein kräftiger Schnee war in der Nacht gefallen. Auf Schnee aber glitzerte der Strahl der Morgensonne, und auf den Dächern freuten sich die Spatzen, ihrer ein Dutzend nebeneinander gereiht, zwitschernd und mit wohlig gesträubtem Gefieder über das Ereignis.

Hilde fühlte sich vom gestrigen Tag schwach und erschöpft. Sie wäre am liebsten ein Stunde an die frische, wintersonnige Luft gegangen; aber sie erwartete, wenn auch mit widerstrebender Seele, Kuno Glür und ordnete ihre Zeichnungen, die er zu sehen wünschte. Da lagen sie zur Hand, die Ernte der drei letzten Jahre; neben allem, was sie aus künstlerischen oder stofflichen Gründen ausgeschieden hatte, wohl ein Viertelhundert Bilder, und nachdem sie die Arbeiten lange nicht mehr durchgegangen hatte, war es ihr eine halb freudige, halb wehmütige Entdeckung, daß sich neben den anfängerischen und schülerhaften doch eine Folge von Bildern befand, die durch gute Beobachtung und natürliche Wiedergabe, durch ihre unmittelbare künstlerische Wahrheit vor jedem Kenner für ihr Talent sprachen – für ihr armes Talent, das sie nun, ach, aus Mangel an Lebensluft mußte begraben lassen. Wieviel Spannkraft verlor sich damit, wieviel Träume verrauchten, wieviel heilige Sehnsucht verklang! Die guten Blätter waren vornehmlich die aus freier Modellwahl und freiem schöpferischem Antrieb entstandenen Porträts ihrer Ferientage im Gebirge, doch auch wenigstens eines aus ihrem Atelierunterricht: das Profilbild einer Sechzehnjährigen, deren aufgelöstes Haar in Strähnen über die zart gebaute, entblößte Schulter floß und zwischendurch den Blick auf ein von jungen Leiden schon vergeistigtes Antlitz freigab; auf den Knien ruhten die gefalteten Kinderhände. Sie hatte das rührende und reizende Geschöpf erst mit einer bis zum Herzklopfen gesteigerten künstlerischen Intuition gezeichnet und es dann gemalt. Ausgeglichen war das Bild in den Farben freilich nicht, das war über ihre Kraft gewesen, aber gerade auf den Partien, auf die es ankam, lagen die Töne zart und licht – es war ein Hauch sechzehnjähriger Jugend in dem Bild. Und daran hatte Professor Waldhier seine großen Hoffnungen geknüpft – damals, kurz nach ihrem Eintritt in seine Schule. – Hilde kam in ein trübes Sinnen.

Da schlug es von einer nahen Kirche elf Uhr. Nun konnte Glür jeden Augenblick erscheinen.

Ob er wirklich Teilnahme und Verständnis für die Kunst besaß? Wenn ja, dann mußte er sie in München erworben haben, denn in der Familie lag's nicht. Die verheirateten Brüder besaßen in ihren herrschaftlichen Villen wohl eine Menge Gemälde, aber wie schon der Vater gespottet hatte, lag ihr Wert am wenigsten in den flüchtigen und geschleckten Darstellungen und am meisten an den schweren Goldrahmen.

Nur ja Kuno Glür ein heiteres und gelassenes Wesen zeigen, ihm nichts verraten von ihren Schmerzen! Sie gingen ihn nichts an.

Hilde warf einen Blick durch ihr Dachstübchen, in das hinein der Sonnenstrahl hell und goldig brach. Wenn sie nun von München scheiden mußte, um in irgendeine Stellung zu gehen, tat es ihr um ihr kleines Heim doch sehr leid. Es war ja wohl in der halben Höhe der Fensterseite abgeschrägt und die Möbel etwas ausgediente Garnitur. Im übrigen aber war das Zimmer so lieb und freundlich, daß es auch auf einen verwöhnten Manschen den Eindruck der Behaglichkeit machen mußte. Am Fenster stand das wohlbesetzte Blumenbrett, und ein kleiner Frühling blühte darauf selbst im Spätherbst, Heidekraut mit zarten, roten Glöckchen, Alpenveilchen mit ihren zierlich hängenden Krönchen; ihr Liebling, der Rosenstock, hatte eine Knospe halb geöffnet, und blaßrot drängte die Blumenspitze zum Licht.

Die Blumen waren ihre dankbaren Freundinnen, ihre Freunde waren die Bilder und Bücher aus dem Nachlaß ihres Vaters. Seine entzückend luftigen und duftigen Baumschläge, seine Zeichnungen aus der Dorfheimat und dem hellen Berggelände von St. Agathen waren ihr liebster Besitz. Dazu die guten alten Stiche schöner Schweizer Landschaften! Nein, ebensoviel Wert setzte sie auf ihre schöne und auserlesene Bibliothek. Kein mittelmäßiges Buch war darin zu finden, dafür die Werke der vornehmsten Geister: neben den Klassikern ihr Jeremias Gotthelf, ihr Gottfried Keller – und sie sämtlich waren ihr kein totes Kapital, sondern aus unendlich vielen Abendstunden, die sie über den Büchern verbracht hatte, lebendiger Seelenstrom.

Auf einem Sims stand geblümtes Geschirr, das sie auf einer der Münchner Dulten erworben hatte, und vollendete den Eindruck schöner Heimeligkeit in ihrem Stübchen.

Diesen mußte auch Kuno Glür fühlen, wenn er kam, und gewiß konnte er nicht in die Heimat melden, daß er sie in einer ungünstigen Lage angetroffen habe. Er ließ warten. Nun, wenn er gar nicht kam, war es ihr auch recht. – Sie warf einen Blick in den altmodischen Spiegel. Allerdings war sie etwas blaß von den Kämpfen der letzten Tage, aber die weiße Wollbluse und das zarte Musselintuch, das den Hals wie eine Kelchlinie begrenzte, standen ihr doch sehr gut, dazu ihr einziger Schmuck, ein fast handgroßer, runder und durchbrochener Schild aus mattem Silber, der ihr als Hafte auf der Brust saß. Es war Kölner Kunstschmiedearbeit des sechzehnten Jahrhunderts, ein kostbares Erinnerungsstück jener rheinländischen Freundin, die den Schmerzen der Mitschülerschaft durch eine glückliche Heirat entronnen war. –

Aber da ging die Klingel, und die Fistelstimme der Hauswirtin rief nach ihr. – »Ja, bitte, lassen Sie den Herrn eintreten!« gab sie zurück.

»Sie wohnen hoch, Fräulein Rebstein!« grüßte Glür, vom Treppensteigen etwas prustend, »Und entschuldigen! Eben noch kurze Sitzung in einer Ehrenangelegenheit gehabt. Sie gestatten doch!«

Er hatte sich gesetzt und entledigte sich umständlich der hechtgrauen Handschuhe. In einem Jargon, den Hilde noch nie von ihm gehört hatte, erzählte er mit wichtigem Lächeln: »Kolossales Fest gewesen, die Hochzeit meiner Schwester Lili! Hatte mich endlich gefaßt, Rausch ausgeschlafen und wurde zu den Eltern gerufen. Na, die Vater- und Mutterworte an einen Studenten kennt man. Bin zerknirscht dagesessen. Habe eine Stunde von München erzählen müssen und dabei erwähnt: Sehe zuweilen Fräulein Rebstein. Vater erwidert: ›Ist ja eigentlich noch mein Patenkind – ihr Vater hervorragender zeichnerischer Kopf im Geschäft gewesen.‹ Fragen nach Ihrer Kunst. Konnte keine Auskunft geben, aber ich habe von Mutter Auftrag empfangen, bei Ihnen anzufragen und nachzusehen, ob Geeignetes Ihrer Hand vielleicht für Weihnachtstisch vorrätig sei. Vater hat den Auftrag sehr unterstützt. Ich beim Mittagstisch Sektglas in die Hand genommen, Rede gehalten auf steigende Kulturhöhe des Hauses Glür, Pflicht reicher Leute, Schützer der Künste zu sein, großer Beifall. – Und nun ist Ihnen der Zweck meines Besuches bekannt. Ich darf wohl die Bilder sehen, Fräulein Rebstein? Gestatten? Ja!«

Das war ja, wenn sie auch etwas protzig klang, verwunderliche und erfreuliche Botschaft. Hilde hatte Mühe, sich zu beherrschen. Fast jubelnd wallte der Gedanke in ihr empor: das kann deine Rettung sein! Und sie kommt aus der Heimat. Es ist doch eine liebe Heimat. Das Herz schlug ihr höher. Doch nein – klug bleiben!

»Ich danke Ihnen sehr, Herr Glür!« erwiderte sie einfach. »Da Sie mir in dem Brief von den Zeichnungen schrieben, habe ich sie bereitgelegt. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie darunter etwas Geeignetes für Ihre Eltern fänden, aber selbstverständlich haben Sie bei der Durchsicht zu bedenken, daß es die Arbeiten einer erst Werdenden sind. Ich bitte also um Nachsicht. Und nun bloß einen Augenblick!« –

Sie holte aus dem Flur die leichte Staffelei, die ihr der Dienstmann aus dem Atelier Professor Waldhiers zurückgebracht hatte, und stellte sie gegen das Fenster. »So geht's!«

»Sie sind aber reizend eingerichtet. Man erwartet es im vierten Stockwerk nicht so hübsch«, bemerkte Kuno Glür, der wieder seinen natürlichen Unterhaltungston gefunden hatte. »Die Zeichnungen Ihres Vaters sind übrigens wirkliche Kunstblätter. Schade, daß unser Haus gar nichts davon besitzt.« Er plauderte treuherzig und sah im schwarzen Anzug trotz seiner geringen körperlichen Vorzüge so gut aus, daß Hilde fand, sie habe sich eigentlich unnötige Bedenken über seinen Empfang gemacht. Und in den Tagen der Fährden und Beklemmnisse ist ja der Überbringer einer guten Botschaft stets eine angenehme Erscheinung.

Sie stellte Blatt um Blatt, Karton um Karton auf die Staffelei vor ihn hin. Er betrachtete sie wie ein Kenner schweigend oder mit ganz kurzen Bemerkungen.

»Dieses Bild wollen wir gleich vorweg auf die Seite stellen. Das ist gewählt«, versetzte er. »Entzückend, das Mädchen!«

Es war ihr Lieblingsbild, die Sechzehnjährige. Zum erstenmal spürte Hilde, wie es schmerzen kann, Jugendarbeiten dahinzugeben, Bilder zu verkaufen, die aus dem Herzblut geschaffen sind. Aber es mußte ja sein. Sie bedurfte des unerwartet daherfließenden Geldes, um sich eine bescheidene Zukunft gestalten zu können.

Kuno Glür bewies einen guten Geschmack. Er wählte gerade diejenigen ihrer Arbeiten aus, die sie am wenigsten gern fahren ließ, neben dem ersten ein sonnig treuherziges Mädchenpaar vom Starnberger See und die in die Sterne schauende Alte. »Dabei wollen wir's bewenden lassen«, versetzte er. »Wenn die Bilder den Beifall meiner Eltern finden, so können wir ja stets noch über Weitererwerbungen sprechen. Und wie berechnen Sie nun die drei Stücke?«

Da war Hilde in Verlegenheit.

»Ich möchte doch um eine Angabe bitten«, drängte er lächelnd.

Nachdenklich erwiderte sie: »Anfängerarbeiten sind es ja schon, aber wenn ich die Zeit bedenke, die ich für die Blätter aufgewendet habe, so komme ich mit einem raschen Überschlag auf zweihundert Mark – hundert für das erstgewählte Bild, meine ich – je fünfzig für die beiden Zeichnungen wird wohl nicht zuviel sein?«

Blühendes Erröten ging über ihre Wangen. Sprach sie nicht zu kühn?

»Meine Eltern und ich werden nicht markten. Haben Sie den Preis tatsächlich hoch genug gestellt? – Na, machen wir's so!«

Glür hatte etwas wichtig das Portefeuille hervorgeholt und legte zwei blaue und eine grüne Note vor sie hin. »Zweihundertfünfzig Mark«, sagte er langsam und mit einem eigenartigen Lächeln, einem Lächeln, als wollte er sagen: »Was verschlägt für uns diese Kleinigkeit«, zugleich mit einem lauernden Blick, wie die Noten auf Hilde wirkten.

»Wenn ich darf – dann mit großem Dank«, erwiderte sie schlicht und nahm die Scheine mit einer Ruhe zu sich, als wäre sie gewohnt, jeden Tag so viel Geld für ihre Arbeiten einzustreichen.

Kuno Glür war vielleicht ein bißchen enttäuscht, für seine Großmut keinen stärkeren Widerhall zu finden. »Daß Sie für Ihre Eltern das Mädchen mit der bloßen Schulter ausgewählt haben, überrascht mich«, leitete sie das Gespräch von der Geldangelegenheit hinweg. »Soweit ich Ihre Mutter, Frau Glür, in Erinnerung habe, ist sie als fromme Frau eine Gegnerin der Darstellung alles Nackten, selbst wenn es so dezent ist wie diese Schulter. Ich weiß nur noch, daß auf ihren dringenden Wunsch einmal eine harmlose Frauengestalt von dem Vorhang eines Liebhabertheaters entfernt werden mußte.«

»Sie erinnern sich der Geschichte«, lachte der Student hellauf.

»Gewiß ist meine Mutter etwas Muckerin. Das Mädchen mit der bloßen Schulter wird sie auch nicht behalten wollen, um so lieber meine Schwester Lili.«

Die zwanglos hingeworfenen Worte zerstreuten einen kleinen Verdacht Hildes, und der Bilderkauf hatte sich zu gegenseitiger Zufriedenheit erledigt.

»Soll ich Ihnen die drei Stücke durch irgend jemand in Ihre Wohnung bringen lassen?«

»Nein, mein Wagen wartet unten. Da nehm ich sie selber mit.«

Kuno Glür und Hilde plauderten noch eine Weile, nicht ohne Selbstbespiegelung sprach er von seinen mannigfaltigen Beziehungen zu Künstlern.

»Stephan Dombaly kennen Sie!« unterbrach ihn Hilde. »Von Dombaly spricht jetzt jedermann. Seine Herbstausstellung war auch außerordentlich schön. Ich bin einigemal hingegangen und stets mit großem Genuß. Ich glaube übrigens, daß ich vorgestern dem Künstler auf der Menterschwaige begegnet bin.« »Wünschen Sie ihn kennenzulernen?« versetzte er lebhaft. »Dombaly und ich treffen uns jeden Dienstag im ›Gläsernen Himmel‹. Es ist die Stammkneipe, in der er früher jeden Abend verbrachte. Jetzt kommt er wöchentlich nur noch einmal hin. – Darf ich Sie Dienstagabend zu einem Gang in die Künstlerkneipe abholen?« Er sprach sehr lebhaft.

»Gehen überhaupt Damen hin?« warf Hilde ein.

»Damen – fast die Hälfte der Gäste sind Damen.«

»Ich meine, Damen von gutem Ruf?«

»Wer fragt denn im ›Gläsernen Himmel‹ nach dem Ruf?« lachte er. »Gott sei gedankt, München ist nicht St. Agathen. Und der ›Gläserne Himmel‹ am wenigsten. Er ist einfach die Kneipe derer, die einen genialen Vogel im Kopf haben, der fröhlichen, künstlerisch empfindenden Jugend, der Bildhauer und Maler, der Dichter und Komponisten und der jungen Weiblichkeit, die ihnen zugetan ist.«

Ja, so hatte Hilde den »Gläsernen Himmel« auch schon schildern hören. Einmal einen Blick hineinwerfen – wunderhübsch! Und Dombaly sprechen, wenigstens einmal einen jener Künstler, die vom Geheimnis des Erfolges und des Ruhmes umspielt sind, von dem Geheimnis, das um so größer erscheint, je mehr man selber vom Mißerfolg daniedergedrückt liegt. Vielleicht wußte er ihr einen Rat. In der letzten Not der Kunst klammert man sich wie der Ertrinkende an einen Strohhalm. Kuno Glür hatte sich heute bei seinem Besuch über Erwarten gut und anstandsvoll benommen, und sie war ihm für den überaus erfreulichen Bilderkauf eine Genugtuung schuldig.

»Ich komme sehr gern mit«, sagte sie freundlich.

»Dann hole ich Sie am Dienstagabend mit großem Vergnügen ab, Fräulein Hilde«, schloß er das Gespräch, erhob sich und nahm sichtlich erfreut von ihr Abschied.

Nun aber kränkte sie sich doch noch an ihm. »Fräulein Hilde« hatte er sie angesprochen und seine Hand länger und vertraulicher in der ihrigen ruhen lassen, als schicklich war, und ein forderndes Lächeln hatte um seine aufgeworfenen Lippen gespielt. – – Hilde war von dem überraschenden Bilderverkauf in der Seele stärker verwirrt, als Kuno Glür ahnen durfte; sie mußte die Eindrücke seines Besuches erst ordnen.

Es wogte in ihren Sinnen hin und her. Das wesentliche aber: sie besaß, als wären sie urplötzlich vom Himmel geschneit, zweihundertfünfzig Mark! Das war viel, viel Geld in ihren Händen und gewährte eine Fülle schöner Möglichkeiten. Wußte ihr auch Stephan Dombaly, der berühmte Maler, keinen Rat, jetzt wußte sie ihn selbst. Ihr Weg ging zum Direktor der Kunstgewerbeschule. Bei ihm wollte sie sich als Schülerin melden!

Ein Gefühl der Erlösung war über sie gekommen, eine Stimmung, wie wenn der Regen die dürstende Flur erquickt. Sie faltete dankbar die Hände. Ja, es gibt doch noch ein Glück in der Welt!


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