Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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40

Wenige Tage nur noch, und der Abschied von München, die Heimkehr kam! –

Siegfried, der junge Doktor, hatte noch manches zu tun und zu ordnen. Während er die Dankbesuche bei seinen Professoren abstattete, blickte Hilde noch einmal in die kleine Pension der Mutter Illing, drückte jenen einfachen jungen Leuten die Hand, die ihr stets liebenswürdige Tischgenossen gewesen waren, und stieg zum letzten Gruß in ihr Dachstübchen hinauf, in dem sie die schönsten und die dunkelsten Stunden ihres stillen, langen Kampfes um die Kunst verbracht hatte. Die Brust wogte ihr beim Darandenken. Die Blumen, ihre lieben Freundinnen, ließ sie da. Ob aber eine Nachfolgerin in die Dachkammer einzog, die so viel Hingabe und Verständnis für ihre Pfleglinge besaß wie sie? Ob die Nachfolgerin auch so gute Freundschaft mit dem Spatzenvolk hielt, das auf der Dachrinne in die Frühlingsluft zwitscherte? Überhaupt, was war es wohl für ein Menschenkind, das nun seine Jugend, seine Hoffnungen, sein Leid, seine Träume und seine Enttäuschungen in die der Sonne und dem Himmel offene Kammer trug? –

»So lieb wie Sie werde ich keine Mieterin mehr bekommen, Fräulein Rebstein!« plauderte die Hauswirtin. »Und so gut wird's bei mir keiner mehr gehen wie Ihnen. Einen vornehmen Herrn Doktor als Bräutigam! Aber freilich, zu denen, die still zurückgezogen leben, kommt am ehesten das Glück.«

Die gute Frau, die tief in Sorgen stak, vergoß die hellen Tränen des Abschieds in ihre Schürze. – –

Und nun zu dem biederen Jakob Steiger und seiner fröhlichen Frau!

Noch einmal ließ sich Hilde von dem bescheidenen Künstler vor die Bilder des Doktorpaares führen. Das Porträt des Mannes durfte als eine gute, ungemein gewissenhafte Arbeit gelten, nur beeinträchtigte die Menge scharf beobachteter Einzelheiten den Schwung der gesamten geistigen Auffassung. Und an der Wiedergabe der zartblühenden, vornehmen Gestalt der Frau Herdhüßer war das Können Steigers gescheitert. Gewiß, so sagte sich Hilde, jeder Einzelheit des Urbildes entsprach eine Einzelheit des Porträts, und eine äußere Ähnlichkeit war vorhanden, aber es wirkte doch hart und gequält, wie ein lyrisches Lied, das man in Prosa zerpflückt.

Steiger war eine zu ehrliche Natur, um sich aus dem geringen Wert des Bildes ein Hehl zu machen. Nur vor seiner Frau durfte man nicht davon sprechen. »Ich weiß wohl, Sie hatten die Frau Doktor besser gemacht!« scherzte er etwas wehmütig gegen Hilde. »Sie – Sie haben etwas im Handgelenk, was vorher nur Dombaly besaß, und können die zartesten Lichter geben.«

Und er sprach von dem großen Erfolg, den ihre beiden Kinderporträts auf der Ausstellung erringen würden. –

Von den Malersleuten hinweg wandte sich Hilde in die Altstadt. In ein warmes Dankesgefühl gegen Steiger mengten sich ihre Selbstbetrachtungen. Das künstlerische Gewissen sagte ihr, daß ihre Porträts die Note eines starken und individuellen Talentes trugen und ehrenvoll durch die Ausstellung gehen würden. Zum Ende ihres Münchner Studienganges durfte sie eine reife Frucht ihres jugendlichen Schaffens ausbreiten und zu der Welt sprechen: »Nun urteile du!«

Vor ihr lag die Stadt in Frühlingsleuchten und Lenzstimmung. Über den Türmen und Giebeln zogen die silbernen Wolkenkähne am lichtblauen Himmel. In den Anlagen spielten die Kinder, durch die Straßen und über die Plätze wandelten die Menschen in hellfarbigen Frühlingskleidern; sie lachten und plauderten von Märzenbier und ersten Radieschen. Kutscher- und Droschkengäule sonnten sich, jedermann hielt Frühlingslüften, und durch das Bild der alten Stadt ging es wie träumerische Jugenderinnerung. Sorglos schlenderte Hilde. Sie gedachte jener schwärmerischen Liebe, mit der ihr Vater, der nie ganz zu seinem Recht gekommene Künstler, an München gehangen hatte. In dunkeln Stunden des Kampfes war ihr diese Liebe manchmal unverständlich geworden und die Stadt ihr wie ein großer Knäuel fremder, herzloser Menschen erschienen, von denen keiner ein warmes Mitgefühl für den anderen besaß. Nun sie aber offenen Auges und gehobenen Herzens, in friedevoller Abschiedsstimmung durch die grauen Tore, die alten Gassen, die malerischen Winkel wandelte, in das frische, frohe, derbgesunde Volkstreiben blickte und sich die vielen Baudenkmäler kirchlicher und weltlicher Kunst noch einmal in die empfänglichen Sinne prägte, ging doch das Gefühl warmer Anhänglichkeit für die schöne Stadt durch ihre Seele. Der Vater hatte recht: Geheimnisvoll rauschen in München für alle diejenigen die Quellen, die nach Kunst und Schönheit dürsten – es ist eine Luft, eine Scholle, in der vieles reift, wofür in der übrigen Welt nicht Raum, nicht Wachstum ist.

Sie ging über die Kausinger Straße. Da und dort blickte sie in die prächtigen Auslagen der Verkaufsläden.

Aus den ersten Erträgen ihrer Kunst besaß sie die Mittel, den Ihrigen bei der Ankunft in der Heimat eine Überraschung zu bereiten, und freudig überlegte sie sich ihre Einkäufe.

Da ein helles, stürmisches Grüßen: »Fräulein Rebstein!«

Vor ihr stand mit innig lachenden Augen Mizzi Schäfer, frisch und fröhlich wie der Frühling selbst, überschüttete sie mit Dankesbezeigungen, sprach mit einem volkstümlich religiösen Hinweis von Dombaly, über den nun die ewige Gerechtigkeit für die Sünden gekommen sei, die er an Mädchen und Frauen begangen habe, und erzählte ihr mit sprudelnder Lebendigkeit, daß am Tag nach Ostern ihre Trauung mit dem Postsekretär stattfinde; Hilde möchte doch die Freundlichkeit haben und dem feierlichen Gottesdienst in der Gärtnervorstadtkirche beiwohnen. Alles in überschwenglichen Worten.

Ein Glückwunsch, eine Entschuldigung, und Hilde ließ die ihr etwas enttäuscht nachblickende Mizzi stehen.

Als wäre durch die Begegnung mit der ehemaligen Geliebten Dombalys ein böser Zauber über sie gekommen, war die schwungvolle Glücksstimmung, die sie eben noch erfüllt hatte, plötzlich aus ihrer Seele verschwunden. In Unruhe und Bedrückung machte sie ihre Besorgungen. Doktor Herdhüßer hatte leicht ihr gebieten, daß sie den Namen Dombalys und die Erinnerungen an ihn weit von sich bannen solle. Zuweilen gelang es ihr, zuweilen aber gewannen die nachtdunklen Augen des Unglücklichen, sein fahles, verzerrtes Gesicht, wie sie es bei der Künstlerkirchweih gesehen hatte, mit beängstigender Lebendigkeit Gewalt über sie. Der Gedanke an Dombaly verdüsterte ihr die letzten paar Münchner Tage.

Da und dort – auch von Herdhüßer und Steiger – hatte sie einiges über das Ergehen des Ärmsten gehört, der das Opfer seiner Ausschweifung geworden war. In der Enzenhofer Anstalt taumelte er in unheilbarem Größenwahn dahin, hielt sich für einen König und Künstler zugleich, sprach seine Leib- und Lieblingsstrophe von Leuthold mit großem Pathos vor sich hin und krönte sich mit Tannenreis. In die Irrsinnsgänge des Verlorenen fielen aber stets lichte Stunden. Dann erkannte er sein Elend, weinte oder wütete über die Kunsthändler, bis ihn wieder die Schatten des Wahnsinns umfingen. Um die Außenwelt kümmerte er sich kaum mehr, sogar nach seinen Bildern fragte er nicht.

Wenn sie solches hörte, da kam es über Hilde, sie dürfe unmöglich von München scheiden, ohne dem Schwerkranken da draußen Lebewohl gesagt zu haben. Wie viele Fehler an dem Menschen Dombaly haften mochten, als Künstler war er doch derjenige gewesen, der ihr gütig und großmütig das Tor ins Licht aufgeschlossen hatte. Und was Schweres zwischen ihnen vorgefallen war, die Stimme des Mitleids war stärker als die trennenden Erinnerungen. Gewiß gedachte er in seinen lichten Stunden manchmal auch ihrer! Und er murmelte dann wohl zähneknirschend in sich hinein: die undankbare Rebstein, die kein Herz für mein Unglück hat! – Das durfte nicht sein.

Der Drang, Dombaly noch einmal zu besuchen, zu sehen, zu sprechen, trieb sie hin und her. Stets aber schreckte sie wieder vor dem Plan zurück. Ihr war, als ob sie einen schnöden Verrat an Dombaly begangen habe, indem sie ihre Bilder unter der Führung Steigers in die Ausstellung gelangen ließ, und als ob sie gar nicht mehr würdig sei, unter seine Augen zu treten. Sie wagte es auch nicht, Herdhüßer und Siegfried von ihrer Absicht zu sprechen. Beide würden den Besuch auf dem Enzenhof sehr ungern sehen.

Der Doktor mochte den Namen des Künstlers überhaupt nicht mehr hören, weniger wegen Dombaly selbst, als wegen des großartigen Schachers, der nun mit dem Namen und den Werken des Erbarmungswürdigen getrieben werden sollte. In tiefer Stille und mit dem Ausschluß aller Privatkäufer hatte eine Vereinigung mächtiger Kunsthändler die Hand über das Atelier und die Werke geschlagen und den gesamten Nachlaß nach Berlin übergeführt, wo die Bedingungen für eine unerhörte Preissteigerung der Gemälde günstiger als in der süddeutschen Kunststadt lagen. Unter dem Schein des Mitleids für den der Kunst zu früh Verlorenen, in Wahrheit wegen einer ebenso selbstsüchtigen wie riesigen Reklame für eine Sonderausstellung der »letzten Dombaly«, wurde in den Blättern, die dem Kunsthandel dienten, von Berlin aus zugleich mit den mächtigsten Lobeserhebungen die Unrettbarkeit des Künstlers in die Welt posaunt.

Dieses Treiben stieß Herdhüßer ab. – Es gab auch Hilde zu denken. Was wurde aus ihrem Porträt von der Hand Dombalys? Sie wußte, der Doktor hatte sich durch einen Händler um das Bild bemüht, aber der Preis, den er als äußerste Grenze angegeben hatte, war durch einen Gläubiger Dombalys weit, weit überboten worden. Eine sonderbare und bedrückende Vorstellung: das eigene Bild in Händen, die man nicht kennt! Doch gab es dafür eine Beruhigung: das Gemälde war würdig und vornehm, und wo es wieder auftauchen mochte, konnte es ihr nicht schaden. Was war aber wohl aus dem Torso des Mizzi-Schäfer-Aktes geworden? So oft sie daran dachte, überfiel sie ein leises Grauen! – –

Da, ein Brief vom Ersten Arzt der Irrenstalt Enzenhof! Er bat um ihren Besuch bei Dombaly, es handle sich darum, den schwerkranken Künstler durch ihr Erscheinen von einer dunkeln Wahnvorstellung zu befreien, in der er ihretwegen befangen sei. Sie möge, schrieb der Arzt, schon morgen kommen, weil sich nach den bisherigen Beobachtungen auf diesen Tag eine Zwischenzeit verhältnismäßiger Geisteshelle für den Unglücklichen erwarten lasse.

Hilde war tief erschüttert. Morgen war Karfreitag. Der richtige Tag für die traurige Fahrt. Und das richtige Wetter! Draußen auf die Isar regnete es, und dazwischen fielen die Schneeflocken, als ob es noch einmal Winter werden wollte. –

»Armes Kind – Sie glühen!« – Frau Herdhüßer strich Hilde mit linder Hand über die Stirn, setzte sich neben die Zitternde und flüsterte ihr alles zu, was sie erfreuen könnte. »Ich weiß ein süßes Wort«, sagte sie: »Heimat! – Ich freue mich auch, meine Heimat bald wiederzusehen! – Ich weiß ein süßeres Wort: Liebe! Und eines, das nur sanft wohltut: Freundschaft! Ich bin Ihre Freundin, und wenn ich in meiner nordischen Heimat weile, so will ich horchen und lauschen, und wenn ich glaube, daß die Zeit der Saat gekommen ist, auf dem Holm das Korn in die Erde legen und dabei sprechen: Wir haben die Freude gehabt, in München eine junge Künstlerin kennenzulernen.«

Hilde horchte wie ein frommes Kind der wohltönenden Frauenstimme.

Nacheinander kamen Herdhüßer und Siegfried und schüttelten den Regen von sich, der trostlos in die Straßen herniederlief.

Der Doktor las das Schreiben, das Hilde aufforderte, Dombaly zu besuchen. Erregt ging er im Zimmer auf und ab, stand vor ihr still und blickte ihr ernst in die Augen: »Was gedenken Sie zu tun?«

»Es ist meine Pflicht. Ich muß! In der Heimat fände ich über dem Versäumnis keine Ruhe; ich käme mir selber verächtlich vor«, bebte es herzergreifend von ihren Lippen.

»Ich sehe selber ein, daß Sie den Besuch nicht absagen können«, versetzte der Doktor nachdenklich und gepreßt, »aber gern lasse ich Sie nicht auf den Enzenhof ziehen. Das Leben hat mich auch schon in Irrenhäuser blicken lassen, doch, Hilde, keiner tritt wieder aus den Toren, ohne daß ihm über den Bildern des seelischen Zerfalls ein Grauen wie Gift ins Gemüt, in Fleisch und Gebein gefahren wäre, Und je höher der Mensch, den wir nun in seiner geistigen Umnachtung sehen, in seinen gesunden Tagen die denkende Stirne erhoben hat, um so tiefer ist das Erschauern vor den dunkeln Gängen menschlichen Schicksals, den finsteren Mächten der Zerstörung.«

»Ich muß«, stammelte Hilde leise vor sich hin. Die Blicke des Doktors ruhten bekümmert auf ihr. »Nun, Sie sind ja bei aller künstlerischen Empfindsamkeit eine gesunde und starke Natur, Sie werden überwinden«, versetzte er, »und hoffentlich können wir morgen doch noch stillschönen Abschied voneinander feiern.«

Hilde versank in ein ernstes Träumen. Morgen der schwere Besuch bei Dombaly – dann am Abend die Abschiedsstunde in der Familie Herdhüßer, die in wenigen Tagen München gleichfalls verließ. Am Samstag früh Abfahrt mit Siegfried in die Heimat, Um vier Uhr abends Ankunft in St. Agathen – selige Heimat-Ostern! –

Weiter wollte sie nicht denken. Siegfried beabsichtigte, alsbald nach den Feiertagen, am Dienstag abend schon, nach Holstein zu reisen, bei den Seinen eine Weile Ferien zu halten, dann in seine Berliner Direktionsstellung einzutreten; jeder Tag gab wohl das seine, bis sich Hildes höchster, sehnlichster Wunsch erfüllte: das trauliche, von Kunstgedanken erhellte Heim an der Seite Siegfrieds – der große Lebensfriede. –

Da war Siegfried! Sie umschlang seinen Hals. »Lieber – Lieber – du – du!« Sein Kommen und Erscheinen war ihr stets die stärkste Befreiung von den Anfechtungen der Welt, und unter seinem Geleite ging die Fahrt auf den Enzenhof zu Dombaly nicht über ihre Kräfte. –


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