Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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15

Nun stand das Bild der kleinen Ellen in der Kunsthandlung Kunz und Abel. Die Händler hatten dafür einige Anerkennung und Hoffnung auf einen Verkauf geäußert, ja sogar versprochen, das Blatt an zwei Nachmittagen ins Schaufenster zu stellen. Das mußte Hilde mit eigenen Augen sehen – nach langer, aufreibender Sehnsucht die erste Erfüllung ihres Künstlerinnentraumes – still und heimlich das Bild mit dem Namen Hilde Rebstein sehen. Kunz und Abel waren freilich nicht die Kunsthandlung am Odeonsplatz, vor der sie so oft gestanden hatte. Das Geschäft lag an einer lebhaften Straße der Altstadt. Am winterlich frühen Dämmerabend erreichte sie es.

Da stand das Porträt der kleinen Ellen, von einer elektrischen Blendlampe gut beleuchtet, mitten unter anderen Bildern auf einer Staffelei. Die Freude über den Anblick durchwallte ihr die Seele. Zwar eilten die im Vorgefühl der Weihnacht lebenden Manschen meist achtlos daran vorbei, es gab aber doch auch einzelne, die vor die Auslagen traten, schweigend Überschau über die kleine Ausstellung hielten und weitergingen oder dem Geschäft einen Besuch abstatteten.

Ein Herr und eine Dame traten herzu und besichtigten das Bild mit lebhafter Neugier.

»Hilde Rebstein – ein Name, dem man noch nicht begegnet ist!« wandte sich die junge Frau an ihren Begleiter.

»Die Kleine auf dem Bild ist pikant«, antwortete der Herr, »das Schmeichelmündchen, die großen Augen und das fliegende Haar. Wollen wir uns mal im Laden erkundigen?«

Hilde, die tief in ihren Mantel gehüllt auf ein anderes Gemälde blickte, hoffte schon.

Da versetzte aber die Dame kühl: »Nein, auf das Werk einer Unbekannten können wir uns nicht einlassen. Unsere Besucher fragen vor dem Bild nach dem Künstler, und wir wissen keine Auskunft. Man hält sich doch besser an gute Namen, selbst wenn man sie etwas teurer bezahlt!«

»Na, fragen wir mal!« – Und nun trat das Paar doch in die Handlung.

Verkaufte sich das Blatt? – Hilde hätte das Ergebnis gern abgewartet; aber sie durfte nicht länger stehenbleiben. Zwei junge Männer flirteten auffällig um sie.

»Die Laffen«, knirschte sie und wandte sich vom Schaufenster. Wozu sich den schönen Winterfrühabend verderben lassen? München, die Altstadt mit den Kirchen, Toren und Giebeln, stand im schweren, frischen Schnee und im Jubel der Lichter. Mit dem strömenden Verkehr der Weihnachtsnähe ergriff der Abend Herz und Sinne wie ein an- und aufregendes Lebensmärchen. Die Steingestalten am Rathaus schienen sich im rötlichen Duft und Zwielicht geheimnisvoll zu regen. Schicksalsflüstern ging um die alt und groß ragenden Gotteshäuser. Das freudige Menschengetriebe in Gassen und Straßen, die vielen frohen und jungen Gestalten, die alle von einem Glück träumten und es in den winkenden Bildern des Abends suchten, weckten in Hilde selber ein wallendes Gefühl der Jugend, der Schicksalserwartung.

Mit hochaufatmender Brust sog sie das Leben in sich. Gehörte sie in ihrem wonnigen Kraftempfinden nicht selber unter die Glückhoffenden und Glückträumenden der menschenreichen Stadt? Wie anders die Stimmung strömt, wenn wieder Lebensglaube in die Seele eingezogen, als wenn das Herz von Kummer und Sorge umwoben und umsponnen ist! Der unglücklich Kämpfende sieht in den lebensvollen Bildern nur die große lieblose Lüge, der Freudige nur die Gestalten, die seine Freude bestätigen und erheben. Wandern unter den vielen Menschen – wandern! Nur eine Freundin sollte sie dazu haben, eine teilnahmvolle Freundin, mit der sie sich über die Fülle dessen hätte aussprechen können, was ihr die Brust bewegte.

Oder einen Freund! Sie lachte bei diesem Gedanken über sich selbst. Dombaly? Nein, aber Siegfried Kulbach, den blonden Nordländer, den in Befangenheit erwarteten Siegfried Kulbach, der ihrer so freundlich gedacht hatte! Wenn er heute abend in die Familie Herdhüßer käme! –

Da erschreckte sie der Ruf: »Ah, guten Abend, Fräulein Rebstein!«

Kuno Glür stand, wohl unabsichtlich, plötzlich und dicht vor ihr. Er hatte einen Dienstmann mit sich, der mit Weihnachtspaketen beladen war, und schwatzte eine Menge Zeug daher. »Bild in Kunsthandlung gesehen! Feines Stück, aber wirklich fein! Hätte es gekauft, doch Geld ist knapp geworden, reicht nur für die dringendsten Einkaufe, werde aber Eltern davon erzählen.«

»Sie fahren schon wieder heim?« unterbrach Hilde seinen Redefluß, damit er von dem Bild nicht weiter spreche.

»Heimbefohlen auf zwanzigsten – auf übermorgen«, fuhr er fort, »leider! Bin von Natur aus grundsätzlicher Gegner der Familiensimpelei, aber –« Er zuckte die Schultern. »Freu mich doch auch ein wenig. Mutter und Vater von Ihren Bildern sehr befriedigt, sehr befriedigt! Muß Ihnen Brief zeigen – doch nein, habe ihn nicht mit in der Tasche. Wenn Sie mir aber morgen noch rasch Besuch gestatten –«

»Nein, leider ist morgen keine Zeit. Tag und Abend sind besetzt«, erwiderte Hilde kühl. »Richten Sie einfach meinen Dank und meine Weihnachtswünsche an Ihre Eltern aus. Gute Heimfahrt, Herr Glür!«

Und frei war sie. Ein wenig ärgerte sie sich doch wieder über den schützer- und gönnerhaften Ton, zugleich aber empfand sie ein befreiendes Gefühl, daß er von dem elterlichen Brief gesprochen hatte. Damit dürfte sie doch wohl endlich den unbestimmten Verdacht begraben, daß etwas Schiefes bei dem Bilderhandel untergelaufen sei. Wenn doch nur Frau Glür ihr selber eine Zeile über die Bilder geschrieben hätte! – Und Hilde ermaß unruhig, ob sie auf Weihnacht einen kleinen Dankbrief an die Dame richten solle oder nicht. Die Höflichkeit erforderte es doch wohl.

Es drängte sie noch einmal nach der Kunsthandlung, in deren Schaufenster das Bild Klein-Ellens stand. Oh, daß ihr Vater noch lebte, fuhr es ihr durch den Kopf, daß er bei ihr auf Besuch wäre und sie ihn durch das lebensprächtige, weihnachtsvorfreudige München vor das Blatt hinführen könnte. Die unsägliche Freude in seinem Antlitz wollte sie sehen, seine Stimme hören: »Hilde, du meine Künstlerin!« und aus seinen Worten neue, größere Hoffnungen für ihren Weg schöpfen.

Als sie wieder vor den Laden Kunz und Abel kam, war das Bild aus dem Schaufenster verschwunden und durch irgendein Genregemälde ersetzt. Die kleine Ellen war wohl von dem Paar gekauft worden, dessen Gespräch sie belauscht hatte. Oder hatten die Händler das Bild nur aus der Auslage zurückgezogen, um Raum für das andere Gemälde zu gewinnen? Wenn sie sich danach erkundigen dürfte! Es ging nicht, der Laden war gerade jetzt von Käufern und Käuferinnen sehr besucht, und vor den Händlern wollte sie sich nicht mit dem Anschein bloßstellen, als ob sie heimlich auf rasche Bezahlung hoffe oder dränge. Im stillen aber war sie doch unendlich neugierig nach dem Schicksal ihres ersten den Augen der Öffentlichkeit unterbreiteten Werkes.

Schon drei Viertel fünf! Da war es ja Zeit, in die Privatstunde bei der Familie Herdhüßer zu gehen. Wie hübsch wäre es gewesen, noch länger durch den Winterabend zu schlendern, da und dort in die Schaufenster zu gucken und vor den Buch- und Kunsthandlungen von kleinen Weihnachtseinkäufen zu träumen, oder den Trödel- und Antiquitätenläden in den Winkeln der Altstadt nachzugehen und vor dem wirren Kram der Auslagen mit sanftem Spiel der Phantasie darüber nachzudenken, was wohl an Menschenfreude und Menschenleid über die Stücke gegangen sei, die, von alten Zeiten erzählend, nun in die Hände neuer Besitzer wandern sollen.

Hildes Teilnahme an der Stadt, ihrem Leben und Weben war wieder erwacht; das Gefühl liebloser Enttäuschung, das sich bis zur Abneigung gegen München gesteigert hatte, war der Hoffnung gewichen, daß sie doch noch einem Glück, irgendeinem sonnigen Schicksalslächeln in der Stadt begegnen werde. – Und da war sie ja schon an der Steinsdorfstraße.

Als sie in das Haus Herdhüßer trat, eilte ihr Gertrud mit lachenden Augen entgegen: »Denken Sie, Fräulein Rebstein, heute abend kommt Siegfried Kulbach zu uns zu Tisch, nein, der läßt nicht lange auf sich warten!«

So wunderlich zerstreut, wie das letztemal, durfte Hilde die Stunde doch nicht geben, aber »Siegfried Kulbach – Siegfried Kulbach« sang und klang es in ihren Sinnen, und der Gedanke an das bevorstehende Wiedersehen erfüllte sie mit einer stillfreudigen Andacht über das Spiel des Lebens, das nach dunkeln Nächten stets wieder einen lichten Tag heranbrechen läßt.


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