Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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8

Ja, es gab noch ein Glück in der Welt! – Welche merkwürdige Anwandlung der Eltern Kuno Glürs, ihrer so freundlich zu gedenken, besonders der frommen Mutter! Nein, gar so merkwürdig war es nicht. Der alte Herr war eben doch ihr Pate und mußte ihren Vater in ehrender Erinnerung halten. Nachdem er sich von der Fabrik zurückgezogen hatte, besaß er die Muße, über mancherlei nachzudenken, was ihm früher im Drang des Geschäftslebens für seine Erwägungen als zu klein und unbedeutend erschienen war. Nun hatte ja Kuno vor seinen Eltern ihren Namen genannt. Der Name hatte den alten Herrn daran erinnert, daß er ihr kein aufmerksamer Pate gewesen war. Fast selbstverständlich, daß er das Versäumte durch den Bilderkauf in guter Form nachholen wollte, wie ja überhaupt dann und wann Paten ihren schon erwachsenen Patenkindern noch einmal edelmütig und hilfreich an die Hand gehen.

So überlegte Hilde. Sie hatte die Empfindung, als seien glühende Kohlen auf ihr Haupt gesammelt worden. Die Familie Glür stand menschlich höher, als sie dieselbe je eingeschätzt hatte. Und nicht nur wegen des Geldes durfte sie sich an dem Bilderhandel freuen, sondern auch weil die Heimat jetzt erfuhr, daß ihre Studien nicht ganz umsonst gewesen waren. Welche Genugtuung für Adolf und für den alten Lehrer Hardmeyer! Sie mußte der Familie Glür mit ein paar Zeilen danken – am besten wäre es auf Weihnachten. Das war ja in nicht ferner Zeit!

Kuno Glür aber? Wenn er sich aus dem Bilderkauf das Recht ableiten wollte, sich als ihren Freund, Gönner und Beschützer aufzuspielen? Darüber war Hilde etwas unruhig. Nun, am Dienstagabend, wenn sie mit ihm in den »Gläsernen Himmel« ging, würde sie ja sehen.

Die Zeit bis dahin wollte sie mit der Durchsicht und Ausbesserung ihrer Kleider und Wäsche verbringen. Dazu war aber ein Geschäftsgang in die Stadt nötig. Ein Vergnügen, in die Stadt gehen zu können, ohne an das muffige Atelier und an die häßlichen Modelle denken zu müssen, die ihr wie ihre besonderen Feinde erschienen waren. Frei! – frei! –

War es Zufall, war es Absicht? Auf dem Rückweg von ihrer Besorgung kam sie um die Mittagszeit an dem alten, weitläufigen Gebäude vorüber, in dem das Schülerinnenatelier Waldhiers lag. Sie begegnete einigen ihrer ehemaligen Kolleginnen, und selbst diejenigen, mit denen sie früher kaum je ein Wort gewechselt hatte, kamen grüßend auf sie zu.

»Sie hinausgeworfene Glückliche! Das Rätsel ist jetzt gelöst«, erzählte die Frankfurterin, das zierliche Nippfigürchen. »Eine mußte fliegen. Daß aber Sie es waren und nicht ich, darüber dauert mein Erstaunen fort. Raten Sie, wer sitzt an Ihrem Platz? – Eine echte junge Baronesse! Darf man fragen, was Sie jetzt beginnen? Ich bin ja vielleicht bald in der gleichen Lage wie Sie.«

Hilde sprach von einer Anmeldung an der Kunstgewerbeschule.

Es war ihre feste Absicht, nach dem Rettungsanker zu langen, nach dem die meisten greifen, die an den Aufgaben der hohen Kunst scheitern. Sie erinnerte sich an ein paar ehemalige Kunstschülerinnen, die diesen Weg mit Erfolg eingeschlagen hatten. Da war eine Nürnbergerin, eine allerdings für ihren Wirkungskreis hochtalentierte Dame, in einem ersten Geschäft Münchens als Entwerferin modern künstlerischer Frauengewänder fest angestellt. Eine andere ehemalige Kunstschülerin zeichnete für eine österreichische Metallwarenfabrik moderne Serviceformen und durfte sich rühmen, dem Etablissement durch ihren erfinderischen Geschmack die Aufmerksamkeit einer weiten Kundschaft erworben zu haben. Also bot auch das Kunstgewerbe eine schöne Welt der Betätigungsmöglichkeiten. Welches aber unter den außerordentlich vielen Fächern der angewandten Kunst entsprach ihrer innersten Begabung? Vielleicht irgendein Zweig der Töpferindustrie oder höheren Keramik. Aus ihrer Jugend, aus dem Beispiel des Vaters besaß sie eine schöne Fertigkeit der Baum- und Landschaftszeichnung, in der sich etwas künstlerisch Reifes viel leichter gestalten ließ als im Porträt. Wenn sie versuchte, den altbeliebten Ofenschmuck – Baum- und Landschaftsbilder – in modernem Stil zu erneuern? Freilich mußte es sich bei ihr um ein rasches Studium auf Brot handeln. Das Geld aus dem gestrigen Bilderverkauf und die Beträge, die ihr Hardmeyer noch verabfolgen konnte, reichten nur für ein halbes Jahr. Wie weiteres verdienen? Die nächtliche Hilfe einer Damenschneiderin werden? Dafür besaß sie ja auch Talent. Nur sich nicht ergeben, ehe der Kampf bis zum Erfolg oder zum bittersten Ende gefochten war. Am Siegestor begegnete sie wie stets um diese Zeit den beiden Polytechnikern – und wie stets grüßten sie stumm; in den Augen Siegfrieds, des Blonden, aber leuchtete doch die Frage auf: »Wo steckten Sie denn am Samstag, Fräulein?« Das erfreute sie. Wenn sie aber in die Kunstgewerbeschule trat, dann hatte sie künftig einen anderen Mittagsweg oder fast keinen mehr, denn das Institut lag ihrer Wohnung nahe. Und wegen des Grußes hin und wieder eigens die Ludwigstraße gehen – nein, das durfte sie nicht – aus Selbstachtung nicht. Was hätte es für einen Sinn?

Sie stichelte an ihren Kleidern und besserte mancherlei. Draußen flockte es weiß in die Gasse hinab, und im Ofen knisterte die Flamme. Wußte ihr wohl Dombaly etwas Besseres als die kunstgewerblichen Pläne? Wenn nicht, ging sie doch gern einmal in den »Gläsernen Himmel«. Sie sah dort Menschen, fröhliche Menschen. Kolleginnen, die sich schon in die Künstlerkneipe getraut hatten, erzählten freudig von dem frohbewegten Abendleben bei der Wirtin Kathi Kreuzer.

Hilde saß beim selbstzubereiteten Abendbrot.

»Gewiß, Fräulein Rebstein ist zu Hause«, hörte sie die Stimme der Wirtin. Das war ja schon Kuno Glür. Er kam ihr viel zu früh und sah nun, wie einfach sie lebte. Blumen brachte er ihr auch. Wozu? –

Sie trat ihm aber gefaßt entgegen und lud ihn zu einer Tasse Tee ein.

»Ihre Bilder sind bereits nach St. Agathen unterwegs. Vater und Mutter werden sich sehr freuen«, plauderte er. »Aber wirklich hübsch und heimelig, wie Sie sich eingerichtet haben, Fräulein Hilde. Die Zeichnungen Ihres Vaters, auch die Art, wie Sie alles angeordnet haben, geben Ihrem Zimmer eine feine persönliche Note. Das meine ist ja wohl viel größer, überhaupt ich habe zwei Zimmer und bezahle ein Heidengeld dafür, die Wohnung ist elegant eingerichtet, aber so gemütlich wie bei Ihnen ist es bei mir nicht. Es fehlt das Intime – na, was bei Ihnen so heimelig ist, Fräulein Hilde.«

Wozu das schmeichelhafte Plaudern? Und »Fräulein Hilde« nun wieder!

Ohne ihren mißbilligenden Blick zu beachten, fuhr er fort: »Na, die anmutigen Heimatbilder Ihres Vaters sind wohl unverkäuflich. – Wäre sonst sehr Liebhaber für meine Wohnung.«

»Von den schönsten, lebendigsten Erinnerungen meiner Jugend kann ich mich natürlich niemals trennen«, erwiderte Hilde.

»Habe mir schon gedacht. Erinnere mich sehr gut an Ihren Vater, sehr lebhaft auch an Sie. Stolzes Mädchen schon damals, Hängezopf, hohe Knopfstiefel, Bachstelzengang, schon bißchen Künstlerin. – Damals bereits mich an dem reizenden Backfisch erfreut!«

»Kaum glaublich«, lachte Hilde, »ich habe Sie nur in Erinnerung, wie Sie als Gymnasiast nach St. Agathen in die Ferien kamen, jedes Jahr mit einer Kappe von anderer Farbe – weiß, grün, blau, rot – und wie Sie hochmütig über das halbwüchsige Mädchen hinwegsahen.« – Um aber das Gespräch von Verfänglichem hinwegzuleiten, fragte sie ernsthaft: »Um welche Zeit geht's denn in den ›Gläsernen Himmel‹?«

»Nicht vor neun, das eigentliche Leben beginnt erst gegen elf. Früher kommt auch Dombaly nicht.«

So lange mit Kuno Glür allein zusammen zu sein, erregte das Bedenken Hildes. Aber wohl oder übel mußte sie sich darein finden.

»Späte Vögel, die Herren«, scherzte sie, »aber wann kommen Sie denn zur Ruhe, damit Sie am Morgen wieder frisch für Ihre Studien und Arbeiten sind?«

»Danach fragt man besser nicht!« lächelte Glür mit etwas verlegenem Humor. »Trage mich übrigens ernsthaft mit der Absicht, neuen Lebenswandel zu beginnen, namentlich will ich die Studien mit Nachdruck betreiben. Und würde mir sehr, sehr Ihre Hilfe erbitten, Fräulein Hilde!« Er blickte sie eigenartig hoffnungsreich und fordernd an.

»Meine Hilfe! Ich verstehe wirklich nicht!« Die Wendung des Gespräches war ihr unangenehm.

»Ich meinte – ich dachte«, versetzte Glür, »wenn ich etwa die Abende mit Ihnen verbringen dürfte – gerade hier auf dem heimeligen Zimmer. – Würde mir gestatten, für das Abendbrot zu sorgen. Vielleicht auch mal Konzert, Theater miteinander besuchen. München hat ja viel Schönes. Dafür weniger in die Kneipe gehen! Sie leben doch auch sehr einsam und freudlos, Fräulein Hilde. Und wir stammen ja beide von St. Agathen.«

Hilde war errötet. Unter ihrem prüfenden und mißbilligenden Blick brach Glür den Faden des Gespräches ab. »Sie sind mir doch nicht böse?« sagte er kleinlaut.

»Ein wenig«, erwiderte sie ernst. »Sie müssen doch selber einsehen, daß Sie Unsinn daherschwatzen. Ein junges Mädchen, das so allein in der Welt steht wie ich, ist sich und ihrem guten Ruf Rücksichten schuldig, und ich möchte nicht einmal vor meiner Hauswirtin durch Ihren häufigen Besuch in ein falsches Licht kommen.«

»Oh, die Hauswirtinnen, die kennt man«, lächelte Glür, »was fragen sie nach Besuch, wenn nur der monatliche Zins regelmäßig bezahlt wird. Nein, das ist kein Grund!«

»Und Ihre Eltern!« ereiferte sich Hilde. »Ich zweifle, ob sie einen engeren Verkehr zwischen uns gern sähen.«

»Wozu darüber gleich nach St. Agathen schreiben«, warf er ein.

»Sehen Sie, Sie haben kein gutes Gewissen!«

»Aber Fräulein Hilde«, stammelte Glür und spielte unruhig mit seinem schwergoldenen Siegelring.

»Ich wünsche für Sie auch nicht Fräulein Hilde, sondern Fräulein Rebstein zu sein!« Sie war ins Feuer geraten und setzte ihm ihre volle jugendliche Würde entgegen.

Er biß sich auf die Lippen, wurde purpurrot und sah sich nach seinem Hut um. »Äh – äh – Fräulein Rebstein – ich bin sehr schmerzlich berührt«, stotterte er etwas verletzt über ihre Zurechtweisung, zugleich mit steigendem Verlangen nach ihr. »Aber Sie kommen doch mit in den »Gläsernen Himmel«?«

»Gewiß, ich halte mein Versprechen«, erwiderte sie.

Das Gespräch lief etwas gezwungen weiter, und endlich wurde es für den Gang Zeit. Wie seltsam es Hilde vorkam, die Wirtin um den Hausschlüssel zu bitten. Sie konnte sich kaum erinnern, es je getan zu haben. Heute abend noch Kuno Glür und nie wieder! Oh, wenn sie statt an seiner Seite an der des blonden Nordländers gehen könnte! Das wäre Glück.


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