Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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6

Der Gemütssturm bemächtigte sich Hildes erst, als sie die Schule hinter sich hatte. In steigender Erregung lief sie und achtete nicht des Weges, versäumte das Mittagsbrot bei Mutter Illing, und als sie am Frühabend todesmatt in ihre Dachkammer hinaufschwankte, wußte sie in ihren bebenden Sinnen kaum, woher sie kam. Irgendwelche Wege über die weite Ebene zwischen Schwabing und Schleißheim war sie wie eine Traumwandelnde gegangen und hatte auf den einsamen, winddurchsausten Wiesen und Feldern wie stets, wenn sie von einer starken Seelenbewegung ergriffen war, an ihren Vater gedacht, an sein frühes, siechendes Abscheiden von Weib und Kindern, von seiner lieben Kunst und der schönen Erde, an seinen lichten Glauben in Todesnöten, daß sie eine Künstlerin werde. Noch nie zuvor aber hatten ihr die Erinnerungen so grimmige Schmerzen bereitet wie heute, da ihr plötzlich und erschreckend grell über ihre Lage Klarheit geworden war. Am liebsten hätte sie sich neben den Vater in die stille Erde gebettet. Nein, leben, kämpfen! –

Mit leidblassem Gesicht und mit verkrampften Händen, mit dem Ausdruck, als wäre sie eine Fremde in ihrem eigenen Stübchen, lehnte Hilde aufrecht stehend mit dem Rücken an den kleinen Tisch und schaute wie geistesabwesend ins Fenster, in die grauschweren, treibenden Abendwolken, die auf baldigen Schneefall deuteten.

Nachdem des sterbenden Vaters wie aus überirdischer Kraft geschöpfte Zuversicht in ihre Künstlerschaft an den harten Tatsachen der Erfahrung zuschanden geworden war, kannte sie ihren Weg. Sie brauchte nur der Stimme in ihrem Innern zu folgen, die ihr zuschrie: »Hilde, geh heim! – heim! Du bist ja doch nur ein verirrtes, hoffnungsloses Kind in der großen, grausamen Stadt. Heim, heim, an das von Spätherbstwinden umrauschte Grab deines Vaters. Dort sinke nieder, birg dein Gesicht ins falbe Gras und lege dem Toten Rechenschaft über deine Münchner Jahre ab, bekenne ihm: »Ich habe gelitten und gestritten, aber, Vater, ich habe nicht halten können, was ich dir als Letztes in deine Hand versprochen habe –« So wird sie mit dem Toten reden, und er wird ihr mild verzeihen. Ohne Zögern heim in die alpenschöne Heimat! Sie hat für die wunde Brust den Frieden.

Was ließ sie Liebes in München zurück? – Nichts! Die schlichte, liebenswürdige Gesellschaft bei der Mutter Illing, die einfachen Studenten und Kunstbeflissenen, die wie sie in halber Verborgenheit um ein künftiges Stück Brot kämpfenden Mädchen, die jungen Leute, von denen jeder und jede ein geheimes Bündel Sorgen trug, vergaßen sie bald. Auch die beiden Polytechniker, Siegfried und sein schwäbischer Freund. Die beiden hatten sie wohl heute vermißt, ein paar Tage noch würden sie sich vielleicht am Siegestor nach ihr umschauen, aber wie bald erinnerten sie sich kaum mehr an den »feinen und gediegenen Kerl«, wenn sie aus den Gestalten des Mittagsweges an der Ludwigstraße verschwunden war. Aus war das stumme Freundschaftsspiel, ihre platonische Neigung für Siegfried. – Es gab keine andere Losung mehr als: heim, heim!

In der Heimat aber an wen sich wenden und halten? Wo unterkommen, was beginnen und treiben? Die Frage der Heimkehr war doch nicht so einfach, wie sie im ersten wallenden Schmerze gedacht hatte.

Wohl besaß sie noch die Mutter in St. Agathen – und zu der Mutter zieht es urmächtig jedes Kind, wenn die Wogen des Lebens über seinem Haupt zusammenschlagen. Die Mutter aber konnte ihr keine Heimat bieten. Die immer noch hübsche und lebensfrohe Frau hatte sich den Tod des Vaters nicht so tief zu Herzen genommen, wie man hätte erwarten dürfen, und war nach dem Ablauf der üblichen Witwentrauer ohne viel Bedenken mit einem verwitweten Werkführer, einem achtbaren und ehrenwerten Manne, eine neue Ehe eingegangen. Nun hatte die Mutter für ein paar Stiefkinder und ein neugeborenes Töchterchen zu sorgen. Mannigfaltige Umstände schlossen den Gedanken aus, bei ihr ein Heim zu suchen. Und ohne daß Hilde der Mutter wehe tun wollte – ein wenig hatte die Eingehung der zweiten Ehe die Kindesliebe doch verdunkelt, die ihrige und die ihres Bruders Adolf.

Adolf, der Bruder! An die frische, hoffnungsreiche Gestalt des nun zwanzigjährigen Jünglings durfte sie in inniger Freude denken. Er ging den bescheidenen, aber sicheren Weg eines Fein- und Präzisionsmechanikers in den Glürschen Werkstätten und wohnte seit der Wiederverheiratung der Mutter bei dem alten Lehrer Hardmeyer, dem Freunde des seligen Vaters. Mit fast bewundernder Liebe hing der treuherzige Junge an ihr, aber die schönen Briefe, die er schrieb, bereiteten ihr die tiefsten Schmerzen.

»Liebes Schwesterchen, Du bist in St. Agathen nicht vergessen!« meldete er ihr voll herzlicher Wärme. »Du ahnst nicht, wieviel hier nach Deinem Ergehen und Deiner Kunst gefragt wird. Je länger die Menschen nichts von Dir hören, um so neugieriger sind sie. Und von allen habe ich Dir Grüße. Ich aber und der Lehrer kommen oft durch die Frage in Verlegenheit, warum von Dir nie eine Kunstnotiz in der Zeitung stehe. Geschähe es einmal, ich wäre der glücklichste Mensch.« –

Da lag die Qual! Der Entschluß des Vaters, sie nach seinem Tod als Kunstschülerin nach München ziehen zu lassen, hatte in der praktisch und nüchtern denkenden Bewohnerschaft von St. Agathen große Überraschung hervorgerufen; hier Zustimmung, dort Bedenken und Zweifel. In ihrem dreijährigen Kampf um die Kunst war ihr die Teilnahme der Heimat nur ein schmerzhafter Sporn gewesen, sowohl die Gunst jener, die in ihr ein sieghaftes, junges Talent erkennen wollten, wie das schulterzuckende Mißtrauen der anderen, die ihren toten Vater und sie der Überhebung und des Hochmuts bezichtigten. Nun war sie die Gescheiterte. Und wenn sie jetzt in die Heimat kam, dann durften die Böswilligen über ihr ruhmloses Erscheinen die Stimme frei erheben und höhnen: »Seht, das ist nun die stolze Künstlerin, die in München nichts gelernt, aber das von ihrem Vater sauer verdiente Erbe in ein paar Jährchen durchgetan hat!« Ihr ferneres Leben in St. Agathen würde ein Spießrutenlaufen zwischen bösen Zungen sein, ja, wenn sie schon ein altes Jüngferchen wäre, würde noch der Spottname »die Künstlerin« an den Mißerfolg ihrer Jugend erinnern. Auf einem Dorf vergißt man nichts.

Und nicht nur über sie, auch über das Grab ihres Vaters würde es kommen: »Da liegt der Narr, der sein Töchterlein für eine Künstlerin hielt!«

Nein, dieses Grab durfte sie nicht durch billigen Spott entehren lassen. Sie durfte um ihret- und des Vaters willen nicht heim. Mochte das Heimweh in ihrer Seele wüten und brennen, stärker als das Heimweh war ihr Ehrgefühl und ihre Scham. Wenn sie nicht in die Heimat zurückkehrte, dann sickerte es dort wohl auch langsam in die Kenntnis der Leute, daß sie den Kampf um die Kunst erfolglos gefochten habe, aber doch nicht mit der Schärfe, wie wenn sie unvermittelt selber in St. Agathen erschien und man mit Fingern auf sie zeigen konnte. Kunst ohne Erfolg! Etwas vom Grausamsten im Leben. Selbst von der Heimat trennt sie.

In der Welt also bleiben – als – als? – Sie mußte irgendeine Stelle suchen, um das Brot zu verdienen. Vielleicht taugte sie zur Erzieherin! – –

Ihr hämmerte der Kopf. Sie ging einige Schritte auf und ab, sie preßte die glühende Stirn ans kalte Fenster.

Draußen hatte es sachte zu schneien begonnen. Leis und lind fielen die Flocken durch die Dämmerung auf die gegenüberliegenden Dächer und hinab in die Straße. Überall lag schon der zarte Flaum. –

Morgen kommt ja Kuno Glür, fuhr es ihr durch die Sinne. Sie war aber jetzt nicht in einer Gemütslage, in der sie Besuch annehmen konnte. Und tat sie überhaupt wohl, den Studenten auf ihrem Zimmer zu empfangen? Sie wollte ihn noch rasch durch den Fernsprecher unten bei Mutter Illing bitten, auf den Besuch zu verzichten. Sie war aber willensunfähig, die vier Treppen hinunter- und wieder hinaufzusteigen. Auch die Gedanken versagten ihr. –

Der erste Schnee! Sie hatte ihn als Kind so sehr geliebt. –

Ein Weinkrampf bemächtigte sich Hildes, und vor das Bild ihres Vaters hingelehnt, schluchzte sie lange und bitterlich.


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