Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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28

Der Abendgang in die Familie Herdhüßer war für Hilde stets eine freundliche Erholung von den Anstrengungen der Atelierarbeit. Der Doktor und seine Frau begleiteten die Entwicklung der jungen Liebe, die zwischen ihr und Siegfried erwacht war, mit einer stillen, warmen Anteilnahme. Auch jetzt erkundigte sich Herdhüßer leicht nach dem Freund.

»Ich habe ihn zweimal diese Woche je ein halbes Stündchen gesehen«, gestand Hilde errötend, »und wenn morgen am Erscheinungsfest das Wetter uns wohl will, unternehmen wir einen gemeinsamen Ausflug an den Tegernsee.«

Der Doktor nickte stumm verständnisvoll und ließ sein Gespräch zur Kunst hinübergleiten. »Das Bild des Italienerjungen, das Sie mir durch den Dienstmann haben zustellen lassen, war mir eine frohe Überraschung. Sie haben das schülerhaft Tastende überwunden, der Strich sitzt ohne Ängstlichkeit, eine freie und großzügige Anmut lebt in der Arbeit. Ei, ei, den Namen Hilde Rebstein muß man sich als Kunstfreund merken, es ist ein Name, der kommt!«

Die Herzfreude zog über das frische Gesicht des Doktors, allmählich aber wich sie einem väterlichen Ernst.

»Nun mal von der Leber weg, Hilde – wie stehen Sie mit Dombaly? – Daß Sie bei ihm rasch und sehr viel lernen, ist gar keine Frage. Aber er treibt es gegenwärtig toll. In den engeren Kunstkreisen spricht man fast nur von ihm und der Indierin. Seine Händler, die zugleich seine Gläubiger sind, verfolgen das Spiel der beiden mit heimlicher Verzweiflung – bald vielleicht mit offener! Da ist meine Frau Ihretwegen stets etwas beunruhigt, und das gerade, weil sich zwischen Ihnen und ihrem Vetter Siegfried ein so schönes Verhältnis entfaltet. Sie fürchtet, es könnte durch das tolle Wesen Dombalys auch ein Schatten auf Sie fallen, und möchte Sie am liebsten aus seinem Atelier heraushaben.«

Die Warnung erschreckte Hilde, doch schlug sie die großen, braunen Augen voll zu dem Doktor auf und hielt den seinen ruhig stand. »Ich weiß nicht, was Dombaly außerhalb des Ateliers treibt; in unserer täglichen Zusammenarbeit ist er der edelmütigste und vornehmste Mensch, dem ich in meiner Münchner Studienzeit hätte begegnen können. Unser gegenseitiges Verhältnis hat sich nie durch einen Hauch jener Begehrlichkeit getrübt, die man ihm sonst nachredet. Es wäre eine Tat der Feigheit und des schwarzen Undanks, wenn ich jetzt von ihm gehen wollte. – Auch habe ich ihn als Lehrer für meine junge Kunst noch so bitter nötig, das sehen Sie ein, Herr Doktor!«

»Nun ja, wenn Sie Dombaly mit den ernsten Augen ansehen, Hilde, wie mich jetzt«, lächelte Herdhüßer, »da verstehe ich sehr wohl, daß selbst er die Grenze zwischen sich und Ihnen einhalten muß. Auch der genialste Lump hat vor einer ernsten, großen Frauenseele Ehrfurcht, und ich habe Dombaly nie für einen geringen, nur für einen zuchtlosen Menschen gehalten – zuchtlos im Leben, nicht zuchtlos in der Kunst. – Gegenwärtig also zieht er mit der Indierin, die Sie bei ihm kennengelernt haben, durch die Stadt. Ich sah das Paar in der Loge und im Foyer des Hoftheaters, Sakuntala, wie die Fremde allgemein genannt wird, umworben, verschlungen von den Augen und Gläsern der männlichen Zuschauerschaft. Man ist darüber einig, daß in der Fremdenkolonie von München seit etlichen Jahren ein ähnlicher orientalischer Teufelszauber nicht gesehen worden ist.«

»Ich mag sie aus dem Grund meiner Seele nicht«, stieß Hilde hervor, in ihren Zügen aber stand doch die Neugier, mehr über die Fremde zu hören.

»Wie Sie, mißtrauen dem fremden Weib noch viele«, fuhr der Doktor fort, »Sakuntala selber läßt zwar in einer romantischen Geschichte durchblicken, daß sie im Trieb nach europäischer Bildung und mit Hilfe irgendeiner Deutschen aus dem Harem eines morgenländischcn Herrschers entflohen sei und nun mit unbezwinglichem Wissensdrang ihrer Ausbildung lebe. Man neigt aber gerade in der feineren Gesellschaft zu der Ansicht, daß sie eher als einem Emir oder Schah einer wandernden Fakir- und orientalischen Tänzerinnengesellschaft davongelaufen und eine jener gefährlichen Abenteuerinnen großen Stils sei, die jeweilen auf dem Fasching in München auftauchen, um an seinem Ende mit ihrem Raub zu verschwinden.«

Was Hilde unklar geahnt, das erhielt durch die Ausführung des Doktors Umriß und Gestalt. Sie unterbrach ihn aber nicht.

»Die Spur Sakuntalas geht nach Monte Carlo zurück. Irgendein junger Prinz brachte sie von der Riviera über Montreux nach München. Der Prinz wurde aber bald dringend nach Hause gerufen, was wohl heißt, daß er ihrer satt war oder das Geld für ihren Aufwand nicht mehr beschaffen konnte. Sakuntala soll zu jenen Damen gehören, denen die Börse selbst eines Krösus nicht zu schwer ist. Da die Aristokratie und das vornehme Bürgertum sich ablehnend gegen sie verhielten, wandte sie sich den leichter zu erreichenden Künstlerkreisen zu, trat, um sich selber mit einem Schein von Kunst zu umgeben, als Dichterin auf und, nachdem die kindischen Verse nicht zogen, als Odaliske. Der erste, der Feuer fing, war Dombaly. Als edelmütiger Freund kommt er für den Hotelaufenthalt Sakuntalas auf. Und sie wohnt mit einer Kammerfrau und einer kleinen Menagerie von Affen und Papageien in einem ersten Haus. Was kostet nun der Tag? Was kosten die täglichen Geschenke, das Hunderterlei, das sie sich aus den vornehmsten Läden der Stadt zuschleppen läßt? – Das fragen die Gläubiger Dombalys fast mit Entsetzen.«

»Aber hat er denn keinen Freund, der ihn warnt?« entfuhr es Hilde.

»Freunde, namentlich Gläubiger, genug! Aber sie predigen einem Verschwender! Und wenn die Händler, die ihm borgen, nur wenigstens die Gewißheit hätten, daß ihm Sakuntala wirklich zu einem Bild großen Stils steht? – Wer will aber die Abenteuerin halten, wenn sie ihm eines Tages die lange Nase macht und geht? Diese Befürchtung quält die Gläubiger, doch sind sie unter sich uneins. Die einen wollen die polizeiliche Ausweisung der Indierin aus München veranlassen, damit Dombaly von dem Vampir loskomme, die anderen noch eine Weile weiter borgen und die dritten ihn durch Kreditverweigerung in den ökonomischen Ruin stürzen.«

»Der Ärmste!« glitt es über die Lippen Hildes.

»Was ist weiter dabei?« sagte der Doktor mit der ihm eigenen Lebendigkeit. »Wenn Dombaly eines Morgens die gerichtlichen Siegel am Atelier findet, seine Bilder und sein gesamter überflüssiger Besitz unter den Hammer gerät, wird er mit einer großartigen Handbewegung über die Widerwärtigkeit hinweggehen, nachher ein paar gute Bilder malen – und er ist wieder Dombaly, der verehrte Künstler. Bringt ihn der Zusammenbruch zur Besinnung, lernt er daraus, jeden Tag einen Augenblick über seine ökonomische Lage nachzudenken, so kann ihm kaum ein größeres Heil widerfahren. Im übrigen kommt es schwerlich zum Äußersten. Der Kunsthandel hält ihn, die eigenen Verluste fürchtend, solange es möglich ist, und Sie, liebe Hilde, brauchen die Geschichte auch nicht tragischer zu nehmen, als sie ist, und können sich Ihr Mitleid um Dombaly sparen.«

Sie atmete erleichtert auf und war schon im Begriff, sich von Doktor Herdhüßer zu verabschieden.

»Wozu die Eile?« Er nahm das an der Wand stehende Bild des Italienerjungen, hielt es gegen das Licht und betrachtete es aufmerksam und wohlgefällig. »Ich werde das Bild behalten. Den Preis wollen wir durch die Schätzung eines oder zweier Kenner festsetzen lassen. Nein, keinen Widerspruch, ich von mir aus kann ihn doch nicht so sicher bestimmen. Und nun eine Frage, die ich schon zu Weihnacht auf der Zunge hatte: übernehmen Sie die Porträts unserer Kinder? Sie kennen ja die beiden nun gut, jedes nach seiner äußeren und seiner seelischen Eigenart. Sie haben die Kinder lieb, und die Kinder Sie. Das wird Ihnen die Arbeit wesentlich erleichtern.«

Über Hildes Gesicht schlug eine Flamme der Freude. »Wie sich unsere Gedanken begegnen!« stammelte sie. »Ich dachte, noch ein oder zwei Bilder bei Dombaly – dann würde ich Sie und Ihre verehrte Frau bitten, Hermann und Gertrud malen zu dürfen, damit Sie und Ihre lieben Kinder ein Andenken an mich und die große Gastfreundschaft hätten, die mir in Ihrem Heim beschieden war.«

»Auf das Bild des Italienerjungen hin bin ich überzeugt, daß Sie sich jetzt schon herzhaft an die Aufgabe wagen dürfen«, sagte Herdhüßer. »Haben Sie das Vertrauen zu sich, das ich selbst zu Ihnen habe – und die Porträts geraten. Es handelt sich aber nicht bloß darum, daß wir durch die Bilder ein schönes Andenken an Sie erhalten, sondern auch Sie an uns. Der Weg dazu ist, denke ich, ein hübsches Honorar. Wozu erröten, Hilde? Die Kunst schreit nach Brot. Sie schreit noch stärker, wenn man von Verlobung und einer Zukunft zu zweien träumt. Auch sollen Sie nach dem anstrengenden Winter frohe Ferien feiern können, oder vielleicht liegt Ihnen an Florenz und Rom. Ich meinerseits hoffe nur, daß sich mir mit den beiden Bildnissen der angenehme Gedanke verbindet, eine junge Künstlerin nach ihrem Talent erkannt zu haben, ehe die Spatzen von München und in der Schweiz ihr Loblied pfeifen.«

Wie von einem Traum befangen, den der nächste Augenblick zerstören kann, schwieg Hilde.

Aber da schüttelte ihr der Doktor kräftig die Hand, seine Stimme lachte: »Auf beiderseitigen guten Erfolg!«, und unter der Tür erschien mit den Kindern Frau Herdhüßer, die Blondine, von der es stets wie Sonnenstrahl ausging. Ein Wort des Doktors – die feine Frau nickte und lächelte Hilde herzlich zu, und Hermann und Gertrud, das anmutige Paar, jubelten: »Ja, wann dürfen wir Ihnen denn zum erstenmal sitzen, Fräulein Hilde?« –

Es ist doch eine Lust zu leben, wenn es einem Mitmenschen so gut geht wie mir, überdachte sie dankbar. Ein lieberer und schönerer erster Kunstauftrag als der Herdhüßers hätte ihr nicht zuteil werden können.

Und von dem Ausflug, den sie mit Siegfried Kulbach, Gustav Wieland und den ihnen befreundeten Herren und Damen in die winterstarrende Landschaft am Tegernsee unternommen hatte, war ihr auch ein froher, sonntäglicher Glanz im Herzen zurückgeblieben – schweigende Liebespoesie aus Schneeleuchten, dunklem Tannengrün und blauer Luft! Noch war es zu keinem offenen Geständnis zwischen Siegfried und ihr gekommen, er und sie aber trugen die selige Überzeugung in der Brust, vom anderen im innersten Wesen begriffen und geliebt zu sein. Nun bloß ein Wort von Siegfried – und was jetzt noch knospenhaft in den Gemütern drängte und schwoll, das wurde ein lebendiger Liebesfrühling! Und doch – nach diesem Worte wollte ste sich nicht zu sehr sehnen, die ahnungsvolle Zeit, in der sie lebte, still genießen und froh warten, bis Siegfried sprach.


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