Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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10

Draußen, wo sich die letzten Häuser Schwabings und das freie Feld berühren, lag mit einer Reihe Atelierfenster im Erdgeschoß und mit Balkonen an den oberen Stockwerken das Künstlerheim Dombalys, ein großer, stattlicher Bau in modern freier Architektur.

Hilde war schon oft an dem Hause vorbeigegangen. Sie liebte die Landschaft im Norden der Stadt, die ebenen Wiesen, Feld- und Waldspreiten, die sich über Dorf und Schloß Schleißheim in den Nebelduft der Ferne erdehnen. Unter der weiten, reinen Glocke des Himmels regte sich kein Laut, aber jeder Baum und jeder Kirchhelm war umblaut und umsilbert von Luft, Licht und Sonne, und in den zartesten Übergängen spielten auf der Erde und am Himmel die Lichter und Farben der Tageszeiten – oder es segelten die Wolken hoch in der Bläue und ihre Schatten über die Felder und Wälder, und dann empfand sie die sonnige Weite der Ebene erst recht tief.

Die Seele der Landschaft war so anders, als daheim im Tal der Aa. Eines aber war ähnlich wie in der Heimat. Wenn die Sonne und das Wetter wohlwollten, dann leuchtete vom Südrand des Himmels ein Kranz von Zinnen und Gipfeln traumhaft hernieder, ein weiter Bogen hoher, heller Berge. Und noch eines. In der Einsamkeit dieser Ebene stieg wie in der Einsamkeit der heimatlichen Waldberge die Kraft des Bodens in die Sinne – die Lebenshoffnung blühte wieder auf.

Sie regte sich auch heute wieder in ihrer Seele.

Pochenden Herzens stand sie an der Tür des schmalen Vorgartens. Sie hatte stets geglaubt, in dem großen Gebäude wohne und arbeite eine Kolonie von Malern. Nun war es, wie das Türschild wies, einzig die Künstlerwerkstätte und das Junggesellenheim Dombalys. Eine stämmige Haushälterin öffnete. Sie las Hildes Karte, versetzte: »Ja, der Herr erwartet Sie«, und maß sie neugierig vom Kopf bis zu den Füßen. Hielt die Haushälterin sie wegen der ungewohnt frühen Besuchsstunde für ein Modell, das sich zu melden kam? Just kein angenehmer Gedanke.

Das Vestibül schon verriet luxuriösen Reichtum. Seine Decken und Wände waren mit farbenleuchtenden pompejanischen Ornamenten geschmückt, in üppigem Blattpflanzenwerk erhoben sich die Torsen von Erz- und Marmorstatuen, lagen Bildstücke und Urnen, Friese und Kapitale, die von einer griechischen oder römischen Ausgrabung stammten.

Unter der Tür erschien Dombaly im weißen Malkittel, die Palette mit den frisch aufgesetzten Farben in der Hand.

»Ah, Fräulein Rebstein«, rief er ihr frohgelaunt entgegen, »Sie studieren meine Antiken!« Er geleitete sie in das Atelier und winkte einem hübschen Italienerknaben, der, nur ein Tuch um die Lenden geschlagen, auf einem Postamente Akt stand, daß er niedersteigen und sich ausruhen möge.

»Wie Sie sehen, habe ich erst mit der Anlage des Bildes begonnen«, plauderte der Künstler. »Ich habe mir den Burschen gestern frisch von einem Bauplatz weggeholt. Um die Italiener ist es doch etwas Besonderes. Giovanni, der vielleicht nicht lesen noch schreiben kann, begreift die Stellungen sofort, er weiß von selber, was schön und malerisch wirksam ist. Ein begabter Junge! Denken Sie sich die Mühe, bis ein deutsches Modell ordentlich gestellt ist! – Doch legen Sie ab, Fräulein Rebstein, es ist warm hier drinnen.«

»Und hell und wonnig«, fügte Hilde hinzu. »Wohin das Auge schaut, ruht es auf Gegenständen und Farben, die ihm wohltun.«

»Ich bedarf für meine Arbeitsstimmung einer schönen Umgebung, der gewählten Kunst um mich. Vor allem eines schönen Modells. Jeden Tag etwas ausgesucht Gutes essen und trinken, nicht viel, aber sehr gut – am Abend eine anregende Unterhaltung, wie gestern im ›Gläsernen Himmel‹ mit Ihnen; Damengesellschaft, Herren zählen wenig. Da kann ich malen!«

Dombaly war ein überfeinerter Schönheits- und Luxusmensch. Das klang durch seine Rede und lag sichtbar in seinem Wesen ausgeprägt, nicht am wenigsten in den wie von Künstlerhand geformten Händen; es ruhte aber in seiner Erscheinung auch so viel ursprüngliche männliche Kraft, daß sich aus dem Zusammenspiel der Stärke und der Überfeinerung eine schier ideale Mannes- und Künstlergestalt ergab.

In anregender Unterhaltung schritt er mit Hilde langsam durch das Atelier. Wohlig erwärmt, erstreckte sich dieses wie ein Museum von einem molligen und schönen Gemach zum anderen. Die durch Halbabschlüsse verbundenen Räume, die Nischen und die lauschigen Ecken, der Reichtum an allerhand Kunst erinnerten Hilde an ein weltfernes, verträumtes Schloß, über das der Alltag keine Macht besaß.

Der kostbarste Schmuck des Ateliers, das ebensosehr wie für die Arbeit des Künstlers auch für den Empfang von Gästen eingerichtet war, bestand in Bildern von allgemein bekannten und berühmten Malern.

»Geschenke«, bemerkte er. »Austauschgeschenke! Ich habe die schöne Sitte unter den Künstlern, sich gegenseitig Werke zu stiften, stets besonders gern gepflegt. Es ist ein großer Schatz, den man auf diese Art zusammenbringt. Es braucht ja nicht alles in die Hände der Philister zu wandern!«

»Sie müssen aber doch nicht auf den Verkauf malen. Sie sitzen ja in einem unglaublichen Reichtum«, drängte sich's Hilde auf die Lippen, sie unterdrückte aber die Bemerkung. Was gingen sie Dombalys ökonomische Verhältnisse an!

Da und dort in den Räumen waren Gemälde seiner eigenen Hand, die einen vollendet, die anderen unvollendet, die einen mit, die anderen ohne Rahmen, meistens weibliche Bildnisse von hoher Schönheit. Sie bestärkten Hilde in dem Eindruck, den sie schon auf der Ausstellung Dombalys empfangen hatte, daß er der berufene Darsteller der Frauenschönheit sei, der modernen Frau aus Welt und Gesellschaft. Und neben den Gemälden, die er im Auftrag geschaffen hatte, standen die zahlreichen Werke einer freien Kunst, viele männliche und weibliche Akte.

Woher nur all die schönen Modelle? überlegte Hilde fast andächtig.

»Manche der Bilder sind schon verkauft«, plauderte der Künstler, »ich komme aber nicht leicht zur Ablieferung. Ich muß immer wieder, mit den Augen wenigstens, drüberhin, und manchmal arbeite ich auf diese Art an einem Dutzend Bilder zugleich. Das hat seine Vorzüge, sie wandern doch nicht in die Welt wie die Hühnchen, die noch die Eierschalen am Rücken tragen; seine Nachteile aber auch, man wird die Modelle nicht los, und das ist ein teurer Sport, denn ich halte auf frische Modelle, die noch durch keine andere Malerhand gegangen sind.«

Gewiß, Dombaly nahm es sehr ernst und gewissenhaft mit seiner Kunst – überhaupt, wie er in seinem Atelier ging, stand, schaute und seine zwanglosen Betrachtungen anstellte, das fesselte Hilde in stiller Bewunderung.

»Raube ich Ihnen nicht zuviel von Ihrer kostbaren Zeit?« fragte sie.

»Es gibt Menschen, für die ich nie Zeit habe. Dazu gehören gewisse Kunsthändler. Für Sie, Fräulein Rebstein, aber habe ich schon ein Stündchen übrig«, und um seinen Mund spielte jenes reizende und herzensgütige Lächeln, das ihn um zehn Jahre zu verjüngen schien. »Ein Bild muß ich Ihnen noch zeigen!«

Sie traten in eine Abteilung des Ateliers, in der das Licht durch Orangevorhänge ungemein stimmungsvoll auf einen lebensgroßen weiblichen Akt fiel.

Die schöne und verliebte Mizzi aus dem Isartal, durchzuckte es Hilde.

Das Haupt mit Laub und Rosen umkränzt, die Hände leicht um die Knie gefaltet, lehnte ein junges Weib in samtner Schönheit und Nacktheit. Träumend und suchend schaute es in die Weite. Über einer herrlich gerundeten Schulter drang die volle dunkelblonde Haarflut vor und ließ den halb jugendlichen, halb üppig reifen Leib in zauberischer Schönheit und Blendkraft, in virtuoser Farbenzusammenstellung wirken.

Dombaly zog den Vorhang ein wenig zurück, wodurch die Gestalt noch starker ins Licht gesetzt wurde, und betrachtete diese stumm. Eine Falte bildete und vertiefte sich zwischen seinen Brauen.

»Was sagen Sie dazu?« wandte er sich an Hilde.

»Daß es wohl das Schönste und Vollendetste ist, was Sie je geschaffen haben«, versetzte sie kleinlaut. Gott, wenn sie dieses Bild in seiner leuchtenden Schönheit ermaß und dabei an ihr eigenes kleines Können dachte, entfiel ihr der Mut, mit Dombaly von ihrer Kunst zu sprechen. Sie fühlte sich von dem Licht, Leben und Stimmung atmenden Gemälde wie zertreten.

»Das Bild sollte das Schönste und Vollendetste werden, was ich schuf«, erwiderte Dombaly mit grübelndem Ernst. »Ist es aber nicht – im Gegenteil ein Ärger!« Er machte mit der Hand den Seiten des Bildes entlang eine Bewegung. »Ich würde es am liebsten aus dem Rahmen schneiden, wenn das nicht der helle Wahnsinn wäre. Es stecken zwei Monate Arbeit darin, und die Mizzi Schäfer war kein billiges Modell. – Sehen Sie nicht, woran es der Figur fehlt – dem Gesicht nämlich!«

»Nein«, gestand Hilde nach einer Pause, in der sie den Kopf noch einmal prüfend überflog, »ich kann in dem Gemälde nur bis auf den letzten Rest aufgelöste Kunst erkennen.«

»Sie sollen den Mangel auch nicht im Technischen suchen, gewiß ist es als bloßes Malstück ein Dombaly ersten Ranges; ich will Ihnen aber sagen, was mir bei der Konzeption des Bildes vorschwebte, die Strophe Leutholds, die ich Ihnen schon gestern abend vorgesprochen habe:

,– – – – – – und krönen
Mit Laubgewind'
Die Stirnen, die noch dem Schönen
Ergeben sind.'

Ich dachte an eine Dichterin oder Künstlerin, die, wonnig erschauernd über ihrer schöpferischen Seele, den Hauch desjenigen spürt, der Himmel und Erde erschaffen hat, und die sich in der Begeisterung selber den Kranz aufs Haupt setzt.«

»Diese Gestalt gibt nun freilich das Gemälde nicht«, lächelte Hilde, »aber es ist doch ein schöner Frauenakt – sogar ein sehr schöner!«

»Ein sehr schöner«, spottete Dombaly. »Dem Gesicht fehlt nur das Allerwesentlichste – die Seele! – Dieses Weib denkt nicht, oder es denkt höchstens: »Wer bringt mir jetzt ein Kleid zum Anziehen? – Ich bin ja nackt!« Ihm fehlt die aus schöpferischem Sinnen kommende Selbstvergessenheit – man sieht sofort das zurechtgestellte oder -gelegte Modell, und darum mangelt ihm die feine Wirkung. Ich würde mich nicht wundern, wenn jemand sagte: »Und nun der Mizzi Schäfer noch den Kochlöffel in die Hand!««

Ja, nun sah auch Hilde und mußte der Selbstverspottung des Künstlers recht geben. Das Antlitz der Figur war alltäglich. »Und mögen Sie das Gesicht nicht aus eigenem idealisieren?«

Dombaly schaute sie sinnend an, aber er verwarf den Gedanken: »Nein, da wird's erst ein ganzes Pfuschwerk. Ich kann nur malen, was ich sehe; ich muß Mizzi Mizzi bleiben lassen. Es ist mir eine innere Unmöglichkeit, den Typ der Kleinbürgerstochter nun ins seelisch Heroische zu steigern.«

Auch Hilde verstand, daß ein Künstler sich nicht leicht von der Wirklichkeit des Modells löst, in dessen Züge und Formen er sich viele Wochen vertieft hat. Zugleich beschäftigte sie die Frage: Wie kommt ein Bürgermädchen überhaupt dazu, Modell zu stehen?

Sie war froh, als sich Dombaly zum Weitergehen wandte. »Mich reut nur der wunderbare Leib«, versetzte er mit einem letzten unzufriedenen Blick auf das Bild, und wie um zu vergessen, zog er die silberne Zigarettendose: »Rauchen Sie, Fräulein? – Es ist echter türkischer Tabak!« – Hilde lehnte dankend ab.

»Ich bin der Sklave der Zigarette«, plauderte er. »Ich muß am Morgen meine zehn bis zwölf Stück rauchen, bis mir ein Pinselstrich gerät. – Ein verfluchtes Kapitel für uns Künstler, die Nerven! – Sie sind wohl nicht nervös? Man denkt vor Ihrer Erscheinung an Wald, an Quellen, an Luft der Berge, und wenn man wie Sie durch ein paar Malschulen gegangen und so frisch geblieben ist, da ist doch eine große Vorbedingung der Kunst erfüllt. Kraft – Kraft – Kraft! Siebenmal im Tag soll der Künstler um Kraft beten, nicht nur um Ideen, sondern auch um die leibliche Stärke. Was helfen alle Erleuchtungen und intuitiven Geister, wenn der Leib ein schwaches Pferd ist, das unter der Reiterin Kunst zusammenbricht!« Er warf die schon niedergebrannte Zigarette von sich und hielt den Schritt an. »Gerade weil ich mir von Ihrer Kraft und gesunden Jugend etwas verspreche, Fräulein Rebstein, lockt es mich zu dem Versuch, Sie als Schülerin in mein Atelier aufzunehmen. Sie sind die erste und einzige, und es bleibt wohl bei diesem einen Versuch. Es reizt mich aber, Waldhier und seiner Sippe, die ja doch nur ein armes, betrogenes Künstlerproletariat züchten, zu beweisen, was ein Dombaly aus einer Malschülerin, die sie aufgegeben haben, erzieht! Ich kann auch nicht an einen Irrtum denken, wenn Sie sich selber Talent zusprechen. Eine so ursprüngliche und starke Natur wie Sie irrt nicht!«

Er ging mit Hilde durch die Räume des Ateliers zurück. Ihr fieberten die Wangen.

»Wie stehen Sie denn materiell, Fräulein Rebstein?« nahm Dombaly wieder das Wort. »Ich frage nicht aus Neugier, sondern aus bestimmtem Grund.«

»Materiell rechnen Sie mich unter die angehenden Künstlerinnen, die mit Schwartenmagen vorliebnehmen müssen«, scherzte sie. »Haben Sie schon Zeichenunterricht erteilt?«

»Noch nie!«

Sie waren zu der Staffelei zurückgekehrt, auf der das angefangene Bild des Italienerjungen stand. »Giovanni schläft«, bemerkte Dombaly und deutete auf den vornübergeneigt dasitzenden Knaben. »Ein schöner Kerl. Und nun, Fräulein Rebstein, dort ist ein Schemel für Sie – da ist Material. Zeichnen Sie ihn! Sieben Striche genügen mir. Ich gebe Ihnen eine Viertelstunde Zeit dazu und sehe unterdessen, was mir zu tun bleibt. Es geht Ihnen wohl wie mir, ich kann nicht zeichnen, wenn mir jemand zusieht oder wenn auch nur jemand außer dem Modell in meiner Nähe atmet. Es widerspricht der Weihe der Arbeit.« Er ließ sie.

Weihe der Arbeit! Das Wort gefiel Hilde. Wer hatte bei Waldhier je von Weihe der Arbeit gesprochen? Sie hatte die Absicht, Dombaly ein möglichst gutes Probestück ihres Talentes zu weisen, aber sie war zu aufgeregt, um sich in ihre Aufgabe sammeln zu Können. Das Entgegenkommen, die Güte des Künstlers gingen weit über ihre Erwartungen hinaus und verwirrten sie. Tat sie wohl, auf sein hochherziges Angebot einzugehen? In seinem Wesen lag unendlich viel, was gewann und Vertrauen erweckte. Sein Plan konnte für sie die Erfüllung der geheimsten Träume, Lebenswende nach den Höhen der Kunst bedeuten. Ein jäher Ehrgeiz ging in wallenden Stößen durch ihre Seele, sie kam aber nicht über Bedenken hinaus, die sie umsonst in Worte zu fassen suchte. Namentlich die Küsserei Dombalys mit der schönen Mizzi, über die er jetzt doch ziemlich wegwerfend sprach, lag ihr wie etwas Störendes im Sinn.

Sie zwang sich zu zeichnen, und bald standen einige Umrißlinien auf dem Blatte. Da schoß Giovanni plötzlich aus seinem Schlaf empor. In seiner Schlummertrunkenheit erinnerte er sich wohl nicht mehr an ihren Eintritt in das Atelier, nun stand der braune, nackte Junge mit groß aufgerissenen Augen, wie von einer Wundererscheinung gebannt, vor ihr, rang verzweifelt die Hände und konnte es nicht fassen, wie sich der Maler Dombaly plötzlich in ein weibliches Wesen verwandelt haben sollte.

Hilde lachte über den verzweifelten Burschen hellauf. Das Lachen lockte Dombaly herbei.

»Wirklich nur sieben Striche!« Er betrachtete das Blatt aufmerksam. »Wir wollen versuchen, Fräulein Rebstein, was an Ihnen künstlerisch herauszubilden ist«, sagte er ernst. »Ich setze voraus, daß Sie sehr fleißig sind, und im nächsten Sommer oder Herbst wollen wir sehen, ob wir nicht ein oder ein paar Bilder von Ihnen in Ehren zur Ausstellung bringen können. – Die ökonomische Seite der Angelegenheit? – Schulgeld bezahlen Sie mir keines, das wäre unter meiner Würde; dagegen vergüten Sie mir die Auslagen für Ihre Modelle. Das meiste an diesen Kosten können Sie sich nicht zu schwer durch Privatstunden in der Familie Herdhüßer verdienen, von der ich Ihnen schon gestern flüchtig gesprochen habe. Der Doktor, ein hochgebildeter Mensch, ist Ihr Landsmann, die Frau eine Norddeutsche, auch ein geistig bedeutendes und ein für uns Künstler anziehendes Weib – goldblonde Ingeborg. Die Leute haben sich im Sommer in St. Moritz kennengelernt, im Herbst geheiratet, der Doktor in zweiter Ehe. Da er einen entwickelten Sinn für die Kunst besitzt und irgendwo am Oberrhein eine neue Villa mit Kunstgegenständen und Bildern ausstatten will, verbringt er mit seiner jungen Frau den Winter in München. Vor kurzem war er mit seinen Kindern erster Ehe, einem sechzehnjährigen Jungen und einem vierzehnjährigen Töchterchen, schöner und gescheiter Jugend, bei mir im Atelier, erzählte mir beiläufig, daß er den beiden bis zum Frühling Unterricht im Zeichnen geben lassen wolle, und fragte, ob ich ihm dafür einen geeigneten jungen Mann wüßte. Melden Sie sich, Fräulein Rebstein – am besten melden Sie sich heute, damit Ihnen niemand zuvorkommt. Man weiß ja nicht, wo sich Doktor Herdhüßer vielleicht noch nach einem Lehrer erkundigt hat.«

»Für diesen Rat muß ich Ihnen allerdings innigst danken, Herr Dombaly. Ich werde mich um die Stunden bewerben.« Ein warmer Glücksstrahl flog über das Gesicht Hildes.

»Ich zweifle, wie ich ihn kenne, gar nicht, daß sich der Doktor sehr freuen wird, in Ihnen eine junge Landsmännin begrüßen zu dürfen, und daß Sie Ihrerseits ebenso glücklich über die Gelegenheit sein werden, in das Haus der wirklich herzensfeinen Menschen zu treten. Die Stunden möchte ich Ihnen zu meinem eigenen Vorteil zuwenden. Herdhüßer ist ein ebenso geschmackvoller wie vorsichtiger Bilderkäufer. Da hat es für mich einen gewissen Wert, wenn ich durch meine Schülerin mit ihm und seinem Hause stets ein wenig verbunden bin. So oft er Sie sieht, muß er an mich denken. Daran liegt mir. – Doch ich spreche von Ihnen schon als meiner Schülerin. Sie aber haben sich noch nicht geäußert, ob Sie geneigt sind, es zu werden!« Seine Augen ruhten mit durchdringendem Strahl in den ihren.

Eine Zögerung lag in ihrem Gesicht. »Gewiß, auch dafür bin ich Ihnen größeren Dank schuldig, als ich in Worte fassen kann«, stammelte sie, »doch –« Sie stockte gequält.

»Doch?« drängte er erwartungsvoll lächelnd. »Sprechen wir uns frei gegeneinander aus!«

»Können wir gemeinsam in diesen Räumen arbeiten, ohne« – sie besann sich – »ohne daß wir in Verlegenheiten kommen – vor der Welt?« »Und vor uns selbst«, lachte Dombaly herzlich. »Das ist wohl der innerste Kern Ihres Besinnens. Sie dürfen sich mit Recht sagen, daß Sie jung und eine gewinnende Erscheinung sind, und mit gleichem Recht, daß ich nicht alt genug sei, um Ihnen bloß als Ihr väterlich für Sie fühlender Freund an die Hand zu gehen. Nicht? Das ist's!«

Hilde nickte errötend.

»Auge in Auge, Hilde Rebstein«, versetzte Dombaly eifrig. »Wenn ich auch keine Schwörfinger erhebe, sage ich Ihnen über mein Verhältnis zu den Frauen die Wahrheit. Ich heirate nicht, die Beispiele sind zu häufig, daß die Kunst des Mannes unter der Eifersucht der Künstlersgattin verdirbt. Ich bekenne mich also zur freien Liebe und bin, was die Frauen angeht, treulos wie der Schmetterling, der von Blume zu Blume flattert und bei keiner bleibt. Künstler mit jeder Faser, liebe ich das Weib vornehmlich durch die Kunst. Jede meiner Liebschaften ist im Grunde eine Modelljagd. Modell, ein möglichst schönes Modell – das ist mein Gedanke auf der Straße, im Konzert, im Theater. Und zuweilen habe ich ja Glück. Aber ich hänge an jeder Dame nur, bis ich sie gemalt habe. Nachher ist sie für mich ausgeschöpft und mag gehen wie die Mizzi, mit der Sie mich auf der Menterschwaige sahen. Na, das ist mal so, und im allgemeinen verdienen die Weiber auch nichts Besseres.«

Eine seltsame Rede, dachte Hilde, und »Oho« flammte ihr Widerspruch auf. »Da unterschätzen Sie unser Geschlecht doch sehr stark! Sie haben wohl nicht viel Gutes kennengelernt!«

Der temperamentvolle Einwurf erregte das Wohlgefallen Dombalys. Um seinen Mund spielte das jugendlich gütige Lächeln. »Doch – ich kenne – und ich unterschätze nicht«, erwiderte er ernst. »Der, den man oft als einen Blasierten unter den Künstlern schildert, kann vor manchen Mädchen und Frauen wieder zum schüchternen Schuljungen werden. Es müssen aber reine und hohe, durch ihr Seelenleben geadelte Mädchen und Frauen sein! Dann kommt mir die Theorie der freien Liebe selbst abgeschmackt und dumm vor. Gegenüber diesen Gestalten gibt es nur ein Entweder-Oder – Hand weg, oder die Ehe! Dieses Gefühl habe ich auch vom ersten Augenblick gegen Sie gehabt – die Erkenntnis eines Tropfen schweren Blutes in Ihrem Wesen – die Empfindung, daß Sie mit ganzem Ernst genommen weiden müssen – eine Hochachtung für Ihre persönliche Art, die gar nichts damit zu tun hat, ob Sie Kunsttalent besitzen oder nicht. Also, Hilde Rebstein, heiraten werde ich Sie aus Ehescheu nicht, aber auch von meiner Theorie der freien Liebe nehme ich Sie aus. Sie werden mir als meine Schülerin in Ihrer Weiblichkeit geheiligt sein. Und um meine Liebschaften mit anderen Damen kümmern Sie sich nicht!«

Hilde war glühend überzeugt, daß Dombaly aus ehrlichster Seele spreche. Wozu die Zaghafte sein? Vertrauen gegen Vertrauen! In kühnem Entschluß streckte sie ihm die Hand hin, blickte ihm mit vollem Strahl in die Augen und sagte freudig: »Wenn ich darf, werde ich Ihre Schülerin!«

Auch im Gesicht Dombalys stand reine Freude. Er schüttelte ihr herzlich die Hand.

»Auf gute Kameradschaft, Rebstein«, versetzte er. »Und daß was Tüchtiges wird! Ich lasse das Fräulein von nun an weg und bin Ihnen meinerseits ebenso einfach Dombaly. Ich werde für Sie ein Modell besorgen und erwarte Sie morgen um neun. Und jetzt« – er zog die Uhr –, »jetzt fahren Sie mit der Straßenbahn zu Doktor Herdhüßer und bewerben sich um die Zeichenstunden. Ich werde Sie telephonisch anmelden und empfehlen und erwarte von Ihnen einen telephonischen Bericht, ob Sie die Stunden erhalten haben. – Grüß Gott, Rebstein!« –

Hilde ging. Um die Mittagszeit meldete sie dem Künstler, daß sie die Stunden bei Herdhüßer erhalten habe.

Welcher Umschwung in Hildes Leben! Und alle Gedanken an Kunstgewerbeschule und was dort werden sollte, waren aus ihrem Kopf verflogen wie Morgenwolken, die im Strahl der aufgehenden Sonne zerfließen.


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