Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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42

Am Morgen war Hilde sehr früh munter. Blaß und schwach zwar, aber doch vom freudigen Gedanken der Heimkehr, des Wiedersehens mit ihrem Bruder und der Mutter erfüllt, traf sie ihre letzten Reisevorbereitungen. Schon in Hut und Mantel, entschuldigte sie sich bei der Familie Herdhüßer, daß sie sich gestern zu einer so namenlosen Traurigkeit habe hinreißen lassen. »Düsterer Karfreitagszauber«, lächelte sie leise, »aber jetzt kommt Ostern, Auferstehung!« Sie fand Worte innigster Dankbarkeit.

»Gott schütze dich und behüte dich, liebes Kind!« Stärker bewegt, als er verraten wollte, umarmte der Doktor die Scheidende und gab ihr einen Kuß auf die Stirne.

»Dich!« – hatte sie recht gehört.

»So wollen wir es von jetzt an halten – du und ich«, sagte Herdhüßer voll Liebe und Güte. »Gott schenke uns ein frohes Wiedersehen, Hilde, sei es in St. Agathen oder am Rhein. Ich hoffe Ende Mai oder zu Beginn des Juni!«

»Ich danke Ihnen und Ihren Lieben.« Die innere Bewegung erstickte ihr die Stimme.

Sie war mit Siegfried schon im Bahnhof angelangt und in den Zug gestiegen. Da kam noch Wieland, der Schwabe, zu einem letzten Lebewohl und brachte ihr auserlesene Blumen.

Die Fahrt ging durch den wolkigen, doch aufhellenden Tag. Aus Licht und Nebel winkten noch einmal die Frauentürme von München. Durch Felder und Wälder brauste der Zug, vorüber an Dörfern und Kirchen. Hilde träumte dahin. Ihr war, als ob der innige Abschied von den Doktorsleuten, ihre Liebe und Güte, das herzliche »Du« Herdhüßers der beste Reisesegen waren, der ihr hätte zuteil werden können. Mit dem Liebsten in die Heimat fahren – was für ein wogendes Glück! Und daheim wurde sie wieder von freudigen Herzen erwartet. Warum nicht die todestraurigen Worte überwinden, die sie aus dem Munde Dombalys getroffen hatten wie der Blitz einen blühenden Baum. Der Arzt hatte wohl recht: dem Hirngespinst des im Irrsinn Dahintaumelnden war kein Gewicht beizulegen, nur hatte seine Rede sie so gräßlich erschreckt. Fort – immer weiter fort von der Stätte, an der Dombaly mit seinen Wahngedanken hauste! Das war Erlösung. –

»Nein« ich begreife nicht mehr, wie ich gestern dir und der Familie Herdhüßer durch meinen unglücklichen Zustand soviel Kummer bereiten konnte«, flüsterte sie Siegfried zu. Sie zwang sich, mit ihm zu plaudern, die wechselnden Bilder am Weg boten ihr die Anregung dazu. Unvermutet wuchs aus dem Zwang die lebhafte natürliche Unterhaltung. Ihre Züge hellten sich sonnenhaft, und die blauen Augen und das warme Lachen Siegfrieds dankten es ihr.

»Oh, sieh! Die Wolken steigen aus den Tälern in die Höhe. Die Berge treten hervor. Es wird eine schöne Osterzeit!«

Freudig kam's von ihren Lippen.

Auf dem Dampfer des Bodensees war ihre Seele aufgelöst in Schauen und Sinnen. Ihre Augen hingen an dem grün herüberschimmernden Streifen Schweiz, an den aufglänzenden Städtchen und Dorfschaften, an den Bergen, deren Schneekronen in der mächtiger hervorbrechenden Sonne wie Silber blitzten. Ihr Arm umschlang denjenigen Siegfrieds. »Ich freue mich, lieber, lieber Mann!« Mit gedämpftem Jubel kam's aus ihrer Brust. »Wie das Herz mir pocht! Oh, du fassest es gar nicht, wie unsäglich glücklich ich bin, daß ich meine Heimat mit dir betreten darf.«

Ein inniger Kuß. – Durch schöne wechselnde Berglandschaften schlängelte sich der Zug. Drei Uhr – halb vier Uhr! Eine wonnige Unruhe war über Hilde. »Sieh, da leuchten ja schon die Berge meiner Jugend. Es gibt kaum eine Spitze, auf der ich nicht mit Vater an hellem Sonntagmorgen gestanden bin. Und jenes Strahlen und Funkeln im Himmelsblau! Siegfried, das sind die Hochalpen, die ewigen, im Herzen der Schweiz! – Und dort unsere Nachbardörfer! Oh, und es blühen die Kirschbäume, aus dem jungen Grün drängen die Himmelsschlüssel. Frühling, Frühling in der Heimat!« –

Ein Weilchen erschwieg Hilde. Nur ihre Augen glänzten. Plötzlich aber rief sie: »Horch – horch, Siegfried! Die Glocken meiner Kindertage, die Glocken von St. Agathen! Sie läuten Ostern ein, Auferstehung! und mir ist, ich selber erlebe Auferstehung aus dunkeln Stunden. – Unser Dorf am sonnigen Rain! – Mutter! – Adolf!« –

Selige Heimkehr im Lenz und in blühende Osterfreude!


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