Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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2

Wie ist das Isartal mit dem Spiel seiner lebendigen Wasser und dem Rauschen der hohen Bäume so schön! Auch im Strahl der Spätherbstsonne, die nicht mehr wärmt, nur noch leuchtet. Hilde hatte die letzten und allerletzten Häuser der Stadt hinter sich. Sie atmete hoch auf und schritt kräftig durch das falbe, raschelnde Laub auf den Wegen. Der Spaziergänger waren an dem kühlen Nachmittag nicht viel. Nur noch jene drei alten Herren überholen, Invalide des Lebens, die schwer an Stöcken gingen. Und dort das Liebespaar, ein Bursche und ein Mädchen aus dem Volk. Dann war sie im sonnigen Frieden der schmerzlos absterbenden Natur mit sich allein. Ein guter Einfall, mit den Fragen, die eine klare Antwort verlangten, hinaus in die Strom- und Baumstille, in den lautlosen Blätterfall des Spätherbstes zu flüchten!

Sie schritt auf den Steg zu, der das breite Bett der Isar überbrückt. Zwischen hellschimmernden Kiesbänken strömten die Wasser und ruhten in kristallener Klarheit in dem großen Wehrbecken unterhalb des Steges. Sie hielt den Schritt an; die Hände auf das Geländer stützend, blickte sie in die Sonnenstille der Wasser, in die lichtdurchspielten Gründe. Ein brauner, barhaupter Bursche saß auf dem Wehr, ließ die Füße aus zerschlissenen Hosen baumeln und angelte mit Rute und Schnur in sorgloser Tagdieberei.

Ein hübscher Vorwurf zu einem Bild, dachte Hilde. Doch nein, nur kein abgebrauchtes Klischee von Genrebild. Wenn sie wirklich einmal eine Malerin von bedeutendem Können würde, schüfe sie lieber ernste Gemälde großen Stils, welche die Herzen der Menschen bewegten und ergriffen. In diesem klarsonnigen Wasser vielleicht eine treibende Mädchenleiche, so wie es vor einigen Tagen in der Zeitung zu lesen stand: auf dunkler, schwimmender Haarflut ein vom Lichte getroffener, zurückgebogener Arm, und im Halblicht der Wasser das herbschöne Gesicht einer jungen Magd. Wie war doch der Bericht? Verführt, vom Verführer verlassen, von den Eltern in der bäuerlichen Heimat verstoßen. Die Fluten der Isar aber nahmen die Umherirrende barmherzig auf.

Hilde stand und starrte in das Wasser. Was gewann das Bild der Ertrunkenen so beängstigend Gestalt, wie wenn es etwas Selbsterlebtes oder doch Selbstgesehenes wäre! Wozu es sich so scharf ausdenken? Nein, das war doch auch kein Vorwurf für ein Gemälde. Sie gab sich einen Ruck und ging ihres Weges. Das Spiel ihrer lebhaften Phantasie war aber quälerisch erwacht, und sie brachte den Gedanken an die schwimmende Tote nicht so leicht von sich. Verführt! Seltsam. Auch durch ihren jungen Leib wallte das Blut heiß und schicksalsdurstig, und in ihrer Seele stieg das Liebebedürfen manchmal sehnsüchtig empor. Aufs Geratewohl aber in ein Abenteuer gehen? Das kam ihr nicht vor, davor schützte sie die gute Erziehung, die sie im Elternhaus genossen hatte, und ihr natürlicher Lebensernst, vor allem die Erinnerung an ihren Vater, dessen Bild stets geheimnisvoll und lebendig aus den Fernen der Heimat herüberschwebte, wenn sie vor irgendeiner Schicksalsentscheidung stand. – Der Vater – die Heimat!

Sie schritt den Fußweg zur Uferhöhe des Flusses empor. Wie ragte der Wald in der hellen, kalten Sonne so still, der ursprüngliche, kulturlose Wald von Fichten und Föhren, und die Birken standen mit den schimmernden Silberstämmen im letzten Blätterglanz wie flammende Kerzen, die dem Jahr zu Ende leuchten. Leises Singen und Rauschen. Die Wellen des Stromes und der Wind in den Waldwipfeln. Hilde spürte es kaum, wie das geheimnisvolle Summen und Brausen ihr die Flügel der Seele spannte und ihre Gedanken sanft und traumhaft in die Gefilde der Kindheit entführte.

Oh, es war eine schöne Heimat, das Schweizerdorf St. Agathen, und nur in herzbrechender Sehnsucht konnte sie daran zurückdenken. Wozu es leugnen? Sie hatte in München oft Heimweh. Am Abend namentlich, wenn sie müd, ach, so müd und hoffnungslos aus dem Atelier hinauf in ihr Dachzimmer stieg. Dann erfüllten sie ihre Einsamkeit und die Erinnerung an die Jugendtage mit einer kranken Traurigkeit. Sie erschien sich dann wie der Baum am Hang, um dessen Wurzeln das gute Erdreich wegrieselt, der dorren und stürzen muß. Und doch hatte auch sie einst ein glückliches Elternhaus besessen!

Aus den Waldbergen hervor rauschten die Wasser der Aa in das freundliche Industriedorf St. Agathen, zwar nicht so mächtig wie die Isar, aber ebenso quellenrein. Wo der Fluß aus der Waldschlucht ins offene Gelände trat, standen die rußüberstäubten mechanischen Werkstätten der Firma Glür u. Comp., höher am Ufer am samtnen Wiesenrain sonnte sich das Dorf, das seinen Namen nach einem ehemaligen Wallfahrtskirchlein der heiligen Agatha trug. Der Ort war ein durch freundliche Gärten unterbrochenes Gemenge von alten braunen Holzhäusern und hellen neuen Bauten. An seinem oberen Rand erhob sich auf freiem Vorsprung, von Linden umschirmt und von Efeu umrankt, die uralte Kirche.

Da, bei Kirche und Linden, stand im Gehege eines Gartens ihr schmuckes Jugendhaus. Von Reben und Obstspalieren umzogen, jedem Sonnenstrahle offen, schaute es nach dem im Süden ragenden Silberkranz der Schneeberge, die am Abend rosig erglühten. Schon als Kind kannte sie die leuchtenden Gipfel alle mit Namen. Der Vater war ein so begeisterter Freund der Berge wie der Natur insgesamt, daß er diese Kenntnis von ihr wie etwas Selbstverständliches forderte. Nur noch eines liebte er gleich stark wie die Berge – die Kunst! Unmöglich, sich ihn vorzustellen ohne den Stift, ohne ein Blatt, auf dem eine Skizze entstand.

Der Kater war seinem Berufe nach Maschinenzeichner und technischer Konstrukteur, ein angesehener Beamter der Firma Glür u. Comp., und hatte als erfinderischer Kopf manches zum Aufschwung des blühenden Geschäftes beigetragen. Neben seinem Beruf aber war er eine Künstlernatur und ein vollkommener Idealist. Gewiß hätte er die Fähigkeit besessen, fröhlich mit den Fröhlichen zu sein, doch ein zarter Körperbau und eine empfindliche Leibesveranlagung schieden ihn fast vollständig von den geselligen Freuden aus. Deswegen galt er im Dorf als ein liebenswürdiger Sonderling. Was kümmerte er sich darum? Der Berufsarbeit widmete er sich mit unendlicher Pflichttreue, in seinen freien Stunden und Tagen aber erhob er die Gedanken über die Zeichenbretter und die Kontorarbeit, stieg er über das Dorf in den Wald und in die Felsen. Oder er wanderte in die Schluchten der Aa bis zu der von Buchen und Ahorn umschirmten Idylle des Bergsees. Da zeichnete oder malte er. Die höchste Wonne bereiteten ihm die nur karg zubemessenen Ferientage, an denen er sich in das Hochgebirge wenden konnte. Dem Bergwald besonders lauschte er mit einer bis zur wirklichen Künstlerschaft gesteigerten Empfindung das Schönheitsgeheimnis der Lichter und Schatten, die zartbeseelte Stimmung ab.

Nur in tiefer Rührung konnte Hilde an ihren Vater zurückdenken, an den Künstler mit schwächlichem Körper, aber mit starkem Geist. Sie sah es noch, das verklärte Leuchten in dem blassen Gesicht und in den vom scharfen Sehen hervorgedrängten Augen, wenn er glaubte, die Seele einer Landschaft auf seinem Blatt voll eingefangen zu haben.

Auf seinen Künstlergängen war sie seine stete Begleiterin, und der in seine Studien versenkte Mann zeichnete nie besser, als wenn sein Kind neben ihm spielte. Spielend begann es mit ihm zu zeichnen, und allmählich wob die gemeinsame Kunstübung ein wundersames Band des Verständnisses um Vater und Kind. Sie wußte, daß sie eine Lücke in seinem inneren Leben ausfüllte, ihm geistig näherstand als sogar die schöne und stolze Mutter, welche die gesellschaftliche Unterhaltung der stillen Kunst ihres Gatten vorzog. Ihr, der Tochter, blieb keine seiner künstlerischen Regungen verborgen, selbst nicht sein heimlicher Künstlerschmerz. Der Schmerz war, daß ihm nichts Figürliches voll gelingen wollte, während es ihn doch stets wie mit magnetischer Kraft von seinen schönen Naturstudien hinweg zur Menschendarstellung riß. Wie oft saß sie ihm Modell, wie oft ihr kleiner Bruder Adolf! Doch auf einer gewissen Vollendungsstufe des Bildes versagte ihm der Stift.

Dann kam ein seltsamer Tiefsinn über den Vater, in den dunkelsten Stunden künstlerischer Anfechtung klagte er sogar über ein verfehltes Leben, und er versöhnte sich nie völlig mit den Schranken seines Schaffens, obgleich seine Landschaften, Baum- und Waldstudien von Kennern immer mehr geschätzt und gekauft und von namhaften illustrierten Zeitschriften zur Wiedergabe erworben wurden und der materielle Zuschuß aus seiner Kunst die Verhältnisse der Familie merkbar behaglicher gestaltete.

»Alles kann man nicht aus sich selber lernen«, so machte er etwa seinen verhaltenen Gedanken Luft, »wenn aber mein Jugendwunsch in Erfüllung gegangen, wenn mir ein einziges Jahr Studien in München vergönnt gewesen wären, dann, Hilde, hättest du auch die figürlichen Bilder deines Vaters sehen sollen! In mir steckt wohl noch manches an Talent, das durch die Ungunst der äußeren Umstände nie an die Sonne dringen konnte.«

Auf der Hochzeitsreise hatten die Eltern etliche Tage in München verbracht, und wie viele Jahre auch seit jenem einzigen Besuch vergangen waren, erzählte der Vater von der Stadt doch so frisch, wie wenn er eben von der Reise käme. Und sie, die sich in kindlicher Anteilnahme oft von seinem stillen Lebensleid schmerzen ließ, horchte und spürte aus dem herzlichen Feuer seiner Schilderungen, wie er jene Tage mit einem erhöhten Rhythmus der Seele durchkostet hatte, ja wie sie wohl die schönsten seines Lebens gewesen waren. Und jetzt noch klang in ihren Erinnerungen seine schwärmerische Verehrung für München.

»Hilde, hoffentlich ist dir auch einmal beschieden, München zu sehen«, ereiferte er sich. »Da begegnest du überall Werken großer Kunst, ragenden Kirchen, Toren und Türmen. Auf schönen Plätzen, in grünen Gärten, am quellenden Brunnen winken die Erz- und Marmorbilder. Wenn du aber erst die Sammlungen betrittst! Herb gegliedert stehen die geflügelten oder vogelköpfigen Menschengestalten der Assyrer und Ägypter und erzählen dir vom suchenden Anfang der Kunst. Die weißmarmornen Götterleiber der griechischen Bildnerei erheben sich in schlanker Schönheit und in einer Vollendung, wie sie später nicht mehr erlebt worden ist. Fast mehr noch überwältigt dich die Gemäldekunst aller Völker und Zeiten. Jedes Volk, jede Zeit und jeder Künstler sprechen zu dir mit der ihnen besonders eigenen geheimnisvollen Schönheitssprache, hier die frühmittelalterlichen Künstler, die noch tastend nm ihre Ausdrucksmittel rangen, dort die Schöpfer der Madonnen, in denen der Mutterliebe ewig gültige Denkmäler erstanden sind. Jahrhunderte grüßen dich in der hinreißenden Beredsamkeit ihrer Schöpfungen, und du bist gebannt, entzückt und bedrückt von dem, was sie dir in heiliger Schönheit sagen. Ja, auch bedrückt! An dein eigenes kleines Talent getraust du dich gar nicht mehr zu denken. Nenn du dann aber aus dem Glanz der stillen Museen in die lebensvollen Straßen und vor die reichen Kunstläden trittst, die vielen Ateliers bemerkst, in denen Künstler der Gegenwart ihre Gemälde oder Statuen formen und gestalten, da fühlst du, wie die Kunst auch noch in unseren Tagen eine Welt der Lebendigen ist und in Werken, die unserer Zeit angemessen sind, wie ein Frühling blüht. Heiß wallt dir das Herzblut auf, dich versuchen und mitkämpfen möchtest du, eine selige Ahnung kommt über dich, auf dem geweihten Boden von München werde dir etwas wachsen, wofür in der übrigen Welt zu wenig Scholle und Luft ist: das Herrlichste im Leben – selbsttätige Kunst! Ja, Hilde, mir war in München wundersam zumut.« –

So der Vater leuchtenden Auges.

Die Mutter, die für den feinsinnigen Mann etwas zu derb dachte, goß Wasser in den Wein seiner Begeisterung.

»Mir aber war weniger wundersam ums Herz«, scherzte sie. »Ein Ehemann, der sein junges Weib irgendwo stehen läßt und den langweiligen Museen nachläuft – ich danke für das Vergnügen! Sehenswert habe ich in München doch nur eine Vorstellung im Hoftheater, das Leben und Treiben im Hofbräuhaus, die Statue der Bavaria an der Theresienwiese und die Schwäne auf den Parkteichen von Nymphenburg gefunden. Dazu die königlichen Equipagen.«

In der Verschiedenheit, wie die Eltern von den Eindrücken ihres Münchner Aufenthaltes sprachen, lag die gegensätzliche Denkungsweise zwischen Vater und Mutter offen.

Sie, das Kind aber, dem die Worte des Vaters oft um den Kopf gerauscht, erging sich nach seinen Schilderungen in merkwürdigen, phantastischen Vorstellungen von München. Nur in der märchenhaften Stadt weilen – und aus den Lüften hernieder stieg wie von selber der Geist der Kunst in die Seele und erfüllte sie mit Lust und mit wonnigem Erkennen!

Nun war sie schon siebzehnjährig geworden. Da überraschte sie den Vater zu seinem einundvierzigsten Geburtstage mit einer Porträtskizze ihres Bruders Adolf, des armen Burschen, der sich gegen all sein lebendiges Wesen immer wieder in die Ruhe des Modells bequemen mußte.

Sie hatte selber das Gefühl, daß ihr die Arbeit vortrefflich gelungen sei. Als aber der Vater das Bild sah, glänzten seine warmen, klugen Augen auf. »Hilde, wenn du ein Junge wärest«, rief er lebhaft und mit einem unvergeßlich schönen und lieben Lächeln, »ich schickte dich nach München auf die Malschule. Die von St. Agathen sollten sehen, was für ein Künstler aus ihrem Nest hervorginge!«

Da schlug eine jähe Flamme des Ehrgeizes in ihrer jungen Brust empor.

»Warum sollte ich nicht ebensogut Malerin werden können, Vater?« fragte sie mit zitternder Stimme und brennenden Wangen.

Die Augen des Vaters ruhten mit innigem Wohlgefallen auf ihr, wieder spielte das seelenvolle Lächeln um seinen Mund, und aus seiner Antwort spürte sie den starken Widerhall, den ihre Frage in seinem Gemüt fand. Er begann ihr von Angelika Kauffmann, einer Tochter eines einfachen Malers aus dem Bregenzer Wald, zu erzählen, die in Italien, befreundet mit den führenden Geistern ihrer Zeit, die höchsten Staffeln der Kunst erklommen habe. Überzeugend belege es diese Künstlerin, daß die Berufung zur Malerei, ja sogar zur Kunst großen Stils, kein ausschließliches Vorrecht des männlichen Geistes sei. – Die Augen des Vaters maßen ihre innerste Seele in einer großen, unausgesprochenen Frage, forschend und vertrauend.

Ein weihevoller Augenblick, aus dem ihr blendend helle Leitsterne für ihr künftiges Leben aufleuchteten. Sie behielt die Stunde im Herzen, lange aber sprachen weder der Vater noch sie wieder von München und künstlerischen Plänen.

Ungefähr ein Jahr später begann der von jeher schwächliche Mann erst an den Augen, dann an einen Brustübel zu kränkeln. Als er von einem längeren Sommeraufenthalt im Gebirge Anfang Herbst, ohne Linderung gefunden zu haben, wieder nach St. Agathen heimkehrte, ließ das schleichende Fieber seinen baldigen Tod ahnen. In all der Sorge und seelischen Beklemmnis, welche ihn selber und die Familie erfüllte, griff er plötzlich auf eine Stunde zurück, in der sie über die Porträtskizze Adolfs, des Bruders, so herzlich und ernst über die Kunst gesprochen hatten. Mit der grübelnden Nachdenklichkeit eines Sterbenden erwog er den Plan, daß sie, wenn er nicht mehr sei, sich in München zur Künstlerin ausbilden solle, und rechnete und prüfte mit rührender Sorgfalt, ob sein kleines Vermögen und eine Lebensversicherung für ihre Studien in München hinreichten, ohne daß die Mutter und Adolf an gerechtem Erbe verkürzt würden.

An einem nebeligen Herbstabend, als ihm der Atem schon furchtbar schwer ging, berief der rasch Zerfallende seinen Freund, den alten Lehrer, der schon sein Lehrer gewesen war. Er hatte eine lange Unterredung mit ihm, und erst nach schwerer Zögerung nahm der lebenserfahrene alte Mann, der den schwungvollen Gedankengängen des Vaters nicht ganz zu folgen vermochte, das Amt eines Sachwalters für ihren Aufenthalt in München an. Für den Vater war seine Zusage der Friede des Sterbebettes, und noch in den lodernden, rasch dahinjagenden Fieberträumen sprach er viel von ihren Studien in München und wie durch sie nun Wünsche und Traume wahr würden, die er an sich selber in seiner Jugend nicht habe verwirklichen können. Der Gedanke daran, daß sie nun Malerin werde, sei ihm eine milde Wegzehrung in den bitteren Tod. Vor den Menschen solle sie sich nicht fürchten, denn sein Geist wandle in allen Stunden schützend mit ihr.

Im Todeskampf noch baten seine stillen, glänzenden Augen, daß sie sich auf ihn niederneige. Seine abgezehrte, schon mit Schweiß bedeckte Hand legte sich mit leisem Drucke in die ihre, nur ihr noch verständlich, hauchte er: »Ich bin ruhig, Hilde. Du, meine liebe, liebe Künstlerin, du gehst einen guten Weg.« – Nur noch ein Wort kam nachher von seinen Lippen: »In Gottes Namen!« Da brachen ihm die Augen.

Und auf den schicksalsvertrauenden Worten des Vaters sollte nun doch kein Segen liegen! Drei Jahre hatte sie mit dem heißen Herzblut der Jugend um die Erfüllung seiner gläubigen Hoffnung gekämpft. Nun war's zu Ende. Und sie hatte umsonst gekämpft. – Umsonst! – –

Hilde lief ihren einsamen Weg auf der waldigen Uferhöhe der Isar. Mit ihr liefen die Erinnerungen. Über das lief eingeschnittene Tal gespannt, erschimmerte der luftige Bogen der Eisenbahnbrücke von Großhesselohe und auf den jenseitigen Ilferhügeln die rötlichen Dächer des Dorfes. Nein, so weit wollte sie nicht gehen, ihre knappen Geldumstände gestatteten ihr doch nicht, mit der Eisenbahn in die Stadt zurückzufahren. Nahe vor ihr aber lag das einem Bauerngehöfte ähnliche Waldgasthaus der Menterschwaige. Da wollte sie sich einen Kaffee und ein Brot gönnen und etwas ruhen.

Sie hatte den Ort seit dem Sommer nicht wieder gesehen. Damals war er umdrängt und umlagert von sonntäglichen, lebensfrohen Ausflüglerscharen aus der Stadt, jetzt herrschte ringsumher die Verlassenheit und Öde des kühlen Spätherbsttages.

Nicht doch! An der Tür stand ein Automobil. Wie aus einem Traum erinnerte sie sich, daß sie irgendwo unterwegs das Fahrzeug hatte herankommen hören und ihm ausgewichen war. Einbildung oder Wirklichkeit? Die nachtdunklen Augen eines außerordentlich fesselnden Männergesichtes und ein junges, auch sehr schönes Mädchenantlitz hatten aus dem Wagen rasch nach ihr geblickt.


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