Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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19

»Es ist etwas Wunderbares um Weihnachten«, scherzte der Doktor. »Selbst diejenigen, die sich bis zum letzten Augenblick besinnen, ob sie zum Fest in die Heimat eilen wollen oder nicht, reißt es mit irgendeiner Faser des Herzens noch hin. Der Zug des Wiedersehens ist stärker als die mannigfaltigen Hindernisse des Lebens. Was es mit seinen Forderungen auseinandergerissen hat, das bindet Weihnachten wieder mit frommer Hand im Schoß der Familie. Die Mütter sind selig, den Söhnen wieder einmal in die Augen blicken zu können; die Väter hören gern, was diese in der Fremde leben und treiben, mit den Eltern freuen sich Schwestern und Brüder – und insgeheim freut sich auf manchen auch ein Liebchen in der Heimat!«

Ein Lächeln spielte um den Mund Herdhüßers und durch seinen ergrauenden Bart.

»Na, wie steht's denn um Sie, Hilde«, fragte der feiertäglich Aufgeräumte, »ist wohl auch in Ihrer Heimat außer Ihren Angehörigen jemand, der Sie in heimlicher Spannung erwartet hat?«

»Niemand!« erwiderte sie, überrascht von der Frage.

»Siegfried Kulbach, der uns vor seiner Weihnachtsfahrt noch rasch besuchte, forschte bei meiner Frau danach.«

Siegfried Kulbach! – Hilde war wie eine Rosenknospe erglüht. »Gestern noch erhielten wir Absagen für den heutigen Abend«, wandte Herdhüßer das Gespräch. »Wir werden also nur eine kleine Gesellschaft sein, doch haben Jakob Steiger mit seiner Frau und ein paar Zöglinge der Kunstgewerbeschule ihr Erscheinen zugesagt.«

Frau Herdhüßer, die nach ihrer anfänglichen beobachtenden Zurückhaltung Hilde stets wärmere Sympathien bewies, begrüßte das junge Mädchen als ihren Gast und entführte sie ihrem Gatten hinüber zu dem Weihnachtstisch der Kinder. Mit ihren strahlend blauen Augen erinnerte sie Hilde stets an Siegfried. Ein wunderbar zartes Spitzenkleid gab der jungen Frau das Weihnachtsfeierliche. Sie sah darin entzückend aus. Doch schade, dachte Hilde, daß sie Dombaly nicht saß! Er allein hätte ihre feinsten Reize herausgebracht, das kühlduftige Antlitz, die unendlich zarte Abschlußlinie der geraden Nase, das weiche Kinn.

Hilde ihrerseits erregte aber auch das Wohlgefallen der vornehmen Frau. »In diesem Empirekleid sollte Sie mein Vetter Siegfried sehen!« Sie legte ihren Arm leicht um die Hüfte Hildes. »Was besitzen Sie für einen Zauber! Der ernste Junge hat ja einen Schwarm für Sie gefaßt. Mir eine große Überraschung. In unserer Verwandtschaft war man einig, daß Siegfried wohl Augen für Maschinen, aber nicht für junge Damen besitze. Nun sieht er Sie – und sein Forschen und Fragen hat kein Ende. Im übrigen ein Ehrenzeugnis für Sie, Hilde. Denn Siegfried ist unverdorbene Edelnatur mit Spürsinn für den Feingehalt anderer.«

Ja, das wollte Hilde glauben. Edelnatur! Wenn jetzt Frau Herdhüßer nur nicht hörte, wie ihr das Herz schlug. Da meldete Hermann: »Herr und Frau Steiger sind schon bei Vater!«

»Hilde«, versetzte Frau Herdhüßer, »lassen Sie sich doch von Ihrer Landsmännin die Geschichte erzählen, wie sich das Künstlerpaar gefunden hat. Sie plaudert darüber so munter und drollig. Ich halte größere Stücke auf die fröhliche Frau als mein Mann. Ihm ist sie zu sehr Münchner Gesellschaftsdame geworden. Und wahr ist. daß Frau Steiger ihr Licht nicht unter den Scheffel stellt, auch ihren Mann etwas zu sehr als den Bären erscheinen läßt, der an ihrer Kette geht. Sie besitzt aber doch unbestechlich kluge Augen und ist dem ungewandten Künstler wahrhaft ein Segen.«

Die Damen traten in den Salon.

Außer dem Ehepaar Steiger hatte sich ein Vierblatt junger, bescheidener Kunstschüler, deren Heimat für einen Weihnachtsbesuch zu fern und zu hoch in den Bergen lag, eingefunden. Die Augen, die Teilnahme aller flogen der jugendlichen Erscheinung Hildes zu.

Frau Steiger, eine elegante und temperamentvolIe Brünette, Mitte der Dreißig, ließ durch den Eifer, mit dem sie Hilde in eine Unterhaltung verwickelte, spüren, wie neugierig sie auf den Liebling der Familie Herdhüßer war. »Und nun geben Sie uns doch auch bald mal die Ehre«, bat sie mit stürmischer Liebenswürdigkeit.

Herzlicher noch als von der Frau, die das Wort so leicht auf der Zunge trug, fühlte sich Hilde von Jakob Steiger, dem Künstler, angemutet. Etwas ungemein Schlichtes und Echtes sprach aus dem bäuerlich geschnittenen Gesicht und seiner in unverwischter heimatlicher Kraft daherpolternden Sprache. Ein bodenständiger Alemanne, an dem über ein Jahrzehnt städtischen Lebens spurlos vorbeigegangen war, bewegte sich der starkgebaute Mann in einem steten Kampf Mischen äußerlichem Phlegma und verhaltenem Feuer, verstand es in gutmütiger Bescheidenheit fast gar nicht, sich gesellschaftlich zur Geltung zu bringen, dachte aber wohl unendlich mehr, als er darzulegen vermochte.

»Ich habe Ihr Bild des kleinen Mädchens gesehen. Sie können was!« Das knappe Lob und eine Einladung, sein Atelier zu besuchen, waren schier die einzigen Worte, die er an Hilde richtete. Um so mehr sprach seine Frau, die den Gatten wie ein großes Kind, doch mit einer warmen Achtung bemutterte.

Auch Hilde war wohl aufgelegt. Mitten in der lebhaften Unterhaltung klang in ihrer Seele noch die Erzählung der Frau Herdhüßer von Siegfried Kulbach nach, und die wonnige Erwartung des morgigen Ausfluges ins Gebirge überglänzte ihr die Stunden.

Die Gesellschaft sammelte sich um den mit Lichtern neu besteckten Weihnachtsbaum, und die bis dahin schüchternen jungen Künstler fügten sich zu einem Quartett, das ein paar Weihnachtslieder sehr hübsch zum Vortrag brachte. Eine festliche Stimmung verbreitete sich um die Abendmahlzeit, das Vierblatt sang eine Folge von Schweizer Heimatliedern, die Hilde wie Glockengeläute aus ferner Kindheit ergriffen. Eines darunter war unendlich traurig: »'s Vreneli ab em Guggisberg.«

»Das Müllirad ist broche –
Und d' Lieb', die hat en End!«

Hilde sann der Geschichte des jungen Paares nach, das sich nicht erreichen konnte. »Kommen Sie«, unterbrach Frau Herdhüßer ihre Träumerei, »Frau Steiger erzählt.«

»Sie wollen die alte Geschichte auch hören, Fräulein Rebstein, wie ich meinem Jakob nach München nachgelaufen bin«, scherzte die Künstlersgattin mit lachenden Augen, »und gerade recht kam, um den in Menschenscheu, Not und Sorge Versimpelnden wieder auf einen sicheren Weg zu bringen.«

Wenn sich die temperamentvolle Frau auch merkbar in dem Gedanken sonnte, der gute Genius ihres Mannes gewesen zu sein, fühlte sich Hilde durch die mit anmutiger Leichtigkeit vorgebrachte Liebesgeschichte doch freundlich berührt. Was ist es Großes um die Liebe, die ein Mädchen treibt, Eltern und Heimat zu verlassen, den Geliebten in fremder Stadt zu suchen und sich mit ihm auf die Höhe des Daseins zu kämpfen! – Dem allzu bescheidenen Steiger mochte sie es herzlich gönnen, daß ihm der Porträtauftrag Herdhüßers zugefallen war.

»Endlich mal eine Künstlerehe, in der die Frau nicht als die intimste Feindin der Kunst des Mannes erscheint«, lachte Herdhüßer, »eine glückliche Künstlerehe! Fast ein Wunder, daß es sie gibt! Sonst ist es ja etwas Merkwürdiges um die Künstlerliebe. Ein himmelstürmendes Sichfinden, ein häßliches Sichtrennen in Zerwürfnissen, als ob Lieben und Heiraten nur ein Kinderspiel wären! Also auf unser tapferes Künstlerpaar Steiger!«

Die Champagnerkelche klangen aneinander, Heimatlieder ertönten, Hilde aber träumte schon vom morgigen Tag, von der wunderschönen Fahrt ins Gebirge, von Siegfried Kulbach. Das Herz jauchzte ihr in tiefer, heimlicher Erwartung.


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