Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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Ostern und die Tage der Heimkehr gingen wie Frühling der Seele über Hilde.

Am Abend ihrer Ankunft trat Siegfried mit ihr in das stattliche braune Haus bei der lindenumschirmten Kirche, das bis zum Tod ihres Vaters ihren Kinder- und Mädchentraum behütet hatte; dann begleitete er sie an das Grab des Vaters. Als sie, zu heißen Tränen erschüttert, stumm mit dem Toten Zwiesprache hielt, fand er manches gemütswarme Wort, das sie aus flutender Erinnerung in die beseligende Gegenwart zurückführte. Unter dem Flieder- und Holunderbaum in der Nähe des Grabens ruhten sie, Hand in Hand, Seele an Seele, wundersam umspielt von dem Gedanken an schöne Vergangenheit und von Hoffnungen künftigen gesegneten Lebens.

Da ging der Tag zur Rüste. Die Berge glühten im Abendrot. Sie hatten die Welt um sich her vergessen, als die über blassen Gipfeln erglimmenden Sterne und der kühler wehende Lenznachtwind zum Aufbruch mahnten.

Am Ostermorgen besuchten sie gemeinsam den Gottesdienst in der altheimeligen Dorfkirche, den Abend verbrachten sie im Häuschen des Lehrers Hardmeyer, der während ihres Aufenthaltes in München ein silberweißer Greis geworden war, aber seine geistige Frische überraschend behalten hatte. Der zweite Osterabend gehörte der Mutter und ihrer kinderreichen, neuen Familie. Sie verhehlte ihre Freude nicht über die günstige Wendung, die Hildes Leben genommen hatte, und in Wallungen der Liebe knüpfte sie das Band mit ihrer Ältesten wieder enger. Und man fand sich in Siegfried. Seine Sprache fremdete zwar etwas an, sein Blick aber, sein Antlitz, seine stattliche Erscheinung gewannen ihm das Vertrauen, die Liebe der Angehörigen. Das tat Hilde wohl. Ebenso die Wahrnehmung, daß es ihm in St. Agathen von Herzen gut gefiel, daß er sich von allem fesseln ließ, was ihr selber auf der Scholle ihrer Jugend lieb und teuer war, und daß er keinen Anstoß an den einfachen Verhältnissen nahm, aus denen sie hervorgegangen war. Im Gegenteil! Aus freien Stücken fügte er den drei Tagen, auf die zuerst sein Aufenthalt bemessen war, zwei weitere hinzu. Das war Hildes innigste Freude.

Sie wandelten miteinander durch die ergrünende und erblühende Natur, die Stege und Wege, die sie als Kind mit dem Vater gegangen war. Sie stiegen auf sonnige Bergaltane und schauten über das Frühlingsland mit dem Silberstreifen der Aa und den aus Obstbäumen hervorgrüßenden Dorfschaften, und der letzte ihrer Ausflüge galt dem stillen, verborgenen Bergsee in einer Mulde der Aaschluchten. Der See, in dem sich die Bläue des Himmels, der Zug der leicht dahinsegelnden Wolken und silberne Bergspitzen spiegelten, gefiel Siegfried unter allen Landschaftsstücken St. Agathens am besten.

Auf einer Holzbank unter alten, breitverästeten Ahornbäumen saßen sie an den einsamen Moor-, Wald- und Felsenufern des kleinen, stimmungsvollen Gewässers, das sich mit seinen Licht- und Schattenspielen malerisch in das Berggelände verbuchtete.

»Ich werde es in Berlin nicht lange ertragen ohne dich, Hilde«, scherzte Siegfried. »Würdest du kommen, wenn ich dich bald riefe – wenn ich dir sagte: Mit der Hochzeit müssen wir allerdings noch ein wenig warten, aber deiner Nähe bedarf ich. Würdest du kommen?«

»Ja! Ich käme gleich«, hauchte Hilde. »Wo du bist, da ist für mich der Friede – das Licht – das Glück!«

»Aber auch in Berlin sollst du bleiben, was du bist – mein frisches, natürliches Schweizerkind!« erwiderte er. »So oft ich dir an der Ludwigstraße begegnete, schlug mir das Herz höher, aber hier, im Rahmen deiner Heimat, Hilde, auf dem Boden deiner Jugend, erkenne ich erst ganz, was für ein herrliches Menschenkind sich mir zu eigen gegeben hat. Ich weiß jetzt, wo wir jeweilen unsere Sommerferien verbringen werden. In St. Agathen wollen wir uns ein Häuschen mieten und von hier in die Gaue deines schönen Heimatlandes ausfliegen. Ich spreche darüber mit Herrn Glür. Ja – Liebste?«

Sie antwortete auf sein schalkhaftes Lächeln nur mit einem heißen Kuß, nur mit den Flüsterworten: »Siegfried – du mein lieber, lieber Mann!« –

Besteckt mit den Schneeglöckchen, die rings um den See blühten, umschlungen von seinem Arm, ging sie selig wie eine Traumwandelnde mit ihm durch die ansprießende Enge des Waldtales, in Liebeswonne und Abschiedsweh, hinaus gegen das in Abendsonnenglanz im Tal liegende Dorf und die fern leuchtenden Berge. Sie wandelten – sie ruhten – und als sie an einer alten, schöngewachsenen Buche vorüberkamen, da zog er, wie ein glückseliger Junge, der seine Liebe Wind, Wald und Bäumen verkünden muß, das Taschenmesser, grub die Anfangsbuchstaben ihrer Namen tief in den mattleuchtenden, glatten Stamm und umgab sie mit der Linie eines Herzens.

»Ein Zeichen, daß wir in Leben und Tod zusammengehören, Hilde!«

»Siegfried, so oft die Sehnsucht mich nach dir ergreift, will ich zu dem Baum wallfahren und deinen Namen küssen!« –

Enger umschlungen führte sie der Weg. – –

Der Ausflug an den Bergsee war ihr letzter gemeinsamer Gang gewesen, geweiht durch die höchsten Schwingungen junger Liebe und jungen Glückes, durch die schweigende, flüsternde Wonne zweier Menschenkinder, die sich einig wissen bis in die Grundtiefen ihres Seins.

Nun war Siegfried in die Ferne gefahren, in das Heimatleben Hildes war das Gleichmaß der Tage eingekehrt, ein wohltuendes Gleichmaß – ein sonniger Frieden, durch den die Glocken süßer Erinnerung wie mit leisen Silbertönen bebten. Nur nicht mehr an München, nicht mehr an Dombaly denken! Nur keinen Schatten auf den Frühling der Heimat, auf den Liebesfrühling im Herzen kommen lassen!

Jeder Tag brachte ihr ja einen Brief Siegfrieds oder sonst ein Treuezeichen seiner Hand, erst aus Holstein, nun aus Berlin. Und was er von der neuen Stellung schrieb, das klang so hoffnungsreich. Überwallte aber in ihr doch die Sehnsucht nach dem Geliebten – da stand im Wald ein knospender Baum!

Zu dem Baum pilgerte sie im Abendrot und küßte Siegfrieds Namen.


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