Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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Da graute der Schicksalstag! Wie dankbar wäre sie Siegfried für ein Telegramm gewesen. Sie hatte aber nicht gewagt, ihn darum zu bitten. Nun schlichen die Stunden. Sie verwandte den Tag voll fiebernder Rastlosigkeit in Wald und Kluft, faßte sich, sah nach der Mutter, nach Adolf und Lehrer Hardmeyer und gestand ihnen, daß sie sich unwohl fühle.

Als sie in die Villa Glür trat, fand sie einen Brief von Siegfried vor. Das war Labsal im grimmigsten Elend! Sie öffnete ihn mit bebenden Händen. Was ihre brennende Seele suchte, stand aber nicht darin. Der Brief stammte von gestern, enthielt viel Liebes, seine innige Mitfreude an ihrem schönen Erfolg auf der Münchner Ausstellung und schloß: »Ob ich morgen Dein Bild bei Dombaly sehe?«

Gott – wenn es der letzte Brief wäre, den ihr Siegfried schrieb, wenn – – In schlafloser Nacht, in wildem Schwanken zwischen Lebenshoffnung und Todesfurcht begannen ihr Entschlüsse zu dämmern. Endlich Morgen. Und ein Brief von Doktor Herdhüßer! Er hatte keine Ahnung von ihrem schrecklichen Zustand, erzählte, daß er und seine Frau nun Holstein verließen und in einigen Tagen bereits wieder in der Schweiz einzutreffen gedächten. Er schilderte einen Besuch auf dem Holm, dem Heimatgut Siegfrieds, wo leider auch Marthe Burmester häufig ein und aus gehe und man sich seit dem Ferienbesuch Siegfrieds erneut Hoffnungen hingebe, die er nie erfüllen werde.

Das schmerzte! Was mochte Siegfried, der mit zäher Innigkeit an Mutter und Geschwistern hing, unter dem Zwiespalt leiden! Voll zarter Rücksicht hatte er ihr nie ein Wort darüber geschrieben!

Hoffnungslose Traurigkeit umspannte Hilde, in ihr war Dämmerung, und Nacht mit ihren Schleiern wallte rings um sie hernieder.

Sie las den Brief Doktor Herdhüßers zu Ende. Er erwähnte der Dombaly-Ausstellung. »Eine Machenschaft ersten Ranges, die, wenn sie gelingt, den Händlern unendlich mehr einbringt, als ihnen der unglückliche Künstler je schuldig war. Es ist manchmal schwer, Kunstfreund zu bleiben. Auf die Münchner Ausstellung aber freue ich mich doch und auf Deine Bilder. Auf Dich, Kind, noch mehr! Wir kommen also in einigen Tagen nach St. Agathen und entführen Dich der Familie Glür für eine Weile in unsere Villa am Rhein!«

»Villa am Rhein!« – Das summte Hilde so merkwürdig und fremd ins Ohr, als ob sie es nie erleben würde! – –

Kein Brief, keine Nachricht von Siegfried! Aber Adolf kam. »Hilde«, sagte er verängstigt, »jedermann im Dorf spricht von dir und deinen schönen Bildern in München, du aber gehst die Wege dahin, als müßtest du umsinken vor Trauer und Gram! – Hilde! – Darf ich wissen, was dich so schwer bedrückt?«

Ja, das war das Entsetzliche! Wo sie ging, fragende Blicke. Vor den treuen, stehenden Augen des Bruders hielt ihr stummer Jammer nicht stand.

»Siegfried ist krank!« stieß sie wie geistesabwesend hervor. »Kein Mensch weiß, wie ich ihn liebe!« Sie umarmte Adolf in wildem Weh, sie nahm seinen Kopf zwischen beide Hände, küßte sein Gesicht leidenschaftlich, und ein Tränenstrom brach hervor. »Bleibe bei mir, Adolf!« bat sie.

Die Geschwister wandelten eng verschlungen durch die Nacht. Schweigend. Was sollten sie sprechen? Endlich flüsterte sie: »Ich bin ruhig – und du mußt schlafen, lieber Junge. Ich werde auch schlafen gehen! Hab' deine Hermine lieb! – Sag ihr Liebes von mir!«

Wie kam es seltsam von ihren Lippen! Adolf schluchzte: »Hilde!« –

Nur noch ein Händedruck – und sie ging. Sie suchte Ruhe, fand sie aber nicht. Sie wachte an den Grenzen des jungen Lebens.

Am Morgen telegraphierte sie an Siegfried: »Ich bitte Dich um Gottes und unserer Liebe willen um Nachricht!«

Die Antwort ließ auf sich warten. Dafür empfing sie ein Schreiben des leitenden Arztes der Privatirrenanstalt Enzenhof. Da es ihre ehemalige Münchner Adresse trug, hatte es erst mit einiger Verspätung den Weg nach St. Agathen gefunden. Es lautete: »Verehrtes Fräulein! Dombaly leidet stets entsetzlicher unter der Wahnvorstellung, daß er durch ein hinterlistiges und verbrecherisches Aktbild – eine Tat des Liebeswahnsinns – Ihren Tod herbeigeführt habe. Obgleich der Versuch, ihn durch Ihr persönliches Erscheinen von der Irrtümlichkeit seiner qualvollen Vorstellung zu überzeugen, leider gescheitert ist, möchten wir Sie für unseren armen Pflegling um einen liebevollen Brief bitten, den er stets wieder lesen kann. Es handelt sich um die letzte Wohltat, die Sie dem Tiefumnachteten zu erweisen imstande sind.«

Das war das Schuldbekenntnis Dombalys!

Hilde brach mit einem Schrei zusammen. – Die Nachtphantasie! – Wahrheit und nicht bloß Träume! Durch die Hand eines Irrsinnigen verraten, geschlagen von der Kunst, der ihr Herzblut gehörte. »Dombaly – Dombaly, was hast du getan«! zitterte es unablässig von den Lippen der Leidversunkenen. Dazwischen: »Mein armer Siegfried!«

Sie erhielt das aus Berlin erwartete Telegramm. Nach dem vernichtenden Brief des Arztes überraschte sie sein Inhalt nicht. Es lautete: »Siegfried plötzlich an Gemütserschütterung erkrankt. Brief folgt. Herta Kulbach, geb. Harms.«

Die Mutter Siegfrieds an sein Krankenbett in Berlin gerufen! – Und was der Brief ihr bringen würde, wußte Hilde.

Klarer und klarer sah sie ihren Weg.– –


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