Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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12

Dombaly hatte nicht zuviel gesagt, die Herdhüßer waren herzensfeine Menschen, die halbwüchsigen Kinder, der schon ins Jünglinghafte spielende Sohn Hermann und das anmutige Töchterchen Gertrud, aufgeweckte und wohlerzogene Jugend. Sie begegneten ihrer selbst noch jugendlichen Lehrerin vertrauend, und Hilde ging Mal um Mal lieber in die Familie, die, über Winter in eines der palastartigen Gebäude an der Steinsdorfstraße eingemietet, auf dem Fuß ehrenfester Herrschaftlichkeit lebte.

Der Doktor, ein aufgeräumter, stattlicher Fünfziger von weltmännischer Erscheinung, hatte ihr schon bei ihrer Anmeldung seine Freude geäußert, die Unterrichtsstunden der Kinder einer künstlerisch veranlagten Landsmännin anvertrauen zu dürfen, und legte, vom Ernst und der Gediegenheit ihres Wesens überzeugt, in seine Unterhaltung mit ihr eine Herzlichkeit, als kenne er sie seit Jahren. Bald besaß sie an dem fast aristokratisch fein geführten Haus, das auf die stimmungsreiche Winterlandschaft der grün strömenden Isar und die schneebehangenen Uferbäume blickte, ein sonniges, vornehmes Heim.

Sie hatte nach dem Doktortitel vermutet, Herdhüßer sei Arzt oder Rechtsgelehrter, nun aber war er ein Industrieller, der durch Universitätsstudien und weite Reisen über eine umfassende allgemeine Bildung und Weltkenntnis gebot und sich, nachdem er die Leitung seiner chemischen Fabrik zwei Neffen übertragen hatte, industriell nur noch als Verwaltungsrat mehrerer Unternehmungen der Schweiz und Deutschlands betätigte. Einem langgehegten Wunsch folgend, widmete er nach einem Vierteljahrhundert der praktischen Arbeit die meiste Zeit Kunst und Wissenschaft und pflegte, auf die gediegene Ausschmückung seiner neuen Villa am Oberrhein bedacht, einen regen Verkehr mit Künstlern, Kunsthändlern und Antiquaren. In seinen Erwerbungen aber beobachtete der Doktor die Zurückhaltung und Vorsicht eines Käufers, der seine Neigungen zügelt, unter allen Umständen kühles Blut behält und sich das eigene ruhige Urteil durch glänzende Redensarten nicht wandeln läßt. Neben den Kunsteinkäufen ließ er sich noch von mancherlei Studien fesseln, kunstgeschichtlichen, geschichtlichen und sozialen, um seiner Kinder willen auch von Erziehungsfragen. Dabei hatte er einen so wohlausgefüllten Tag, daß sich sein Privatsekretär, ein altes, steifes Männchen, einmal in seufzender Verzweiflung mit dem Wort an Hilde wandte: »Wer noch nicht weiß, was Arbeit ist, der kann es bei unserem Herrn Doktor lernen. Nur Sie haben es gut bei ihm!«

Gewiß, das wußte Hilde. Wenn sie um sechs ihren Unterricht schloß, war auch der Doktor mit seinen Studien zu Ende, und wenn er nicht ausging, lud er sie ein, den Abend in der Familie zu verbringen. Und da er über die täglichen Arbeitsstunden hinaus eine erstaunliche geistige Spannkraft bewahrte und in seiner Weltgewandtheit und großen Erfahrung ein durchdringend klares Urteil über Menschen und Dinge besaß, wurde die Zeit bis zum Abendbrot zu einer höchst anregenden Unterhaltung, oft über die Ereignisse in der gemeinsamen Heimat, oft über Kunst, Literatur und das Leben in München.

Als er einmal Hilde ihre Jugendgeschichte erzählen ließ, da stellte sich heraus, daß er mit der Familie Glür bekannt und aus Freundschaft für Ulrich Glür, den ältesten Bruder Kunos, einmal in St. Agathen zu Besuch gewesen war. Von Ulrich Glür, dem jetzigen obersten Leiter der mechanischen Werkstätten in St. Agathen, sprach der Doktor mit großer Hochschätzung. ›Aber einen Dienst‹, fuhr er fort, ›habe ich ihm nicht erweisen können. Wie Sie wissen, weilt sein jüngster Bruder als Student in München, ein halb versumpfter Mensch, der gewöhnlich morgens acht Uhr statt ins Kolleg ins Bett geht und abends, wenn die anderen von ihren Stunden kommen, aufsteht. Ulrich Glür hat mich nun ersucht, seinen Bruder über den Winter unter meinen Einfluß zu ziehen, und der vornehme, bald dreißigjährige Taugenichts war auch einmal hier, aber seit ich ihn etwas nachdrücklich nach seinen Studien ausforschte, blieb er fort. Nun wünscht Ulrich Glür von mir einen Rat, was mit dem verbummelten Studenten beginnen, für den die Mutter in verschiedenen frommen Anstalten beten läßt, dessen Torheiten sie aber in ihrer Affenliebe stets entschuldigt. Doch weiß ich keinen Rat!‹ –

Hilde war über der Erzählung des Doktors unruhig geworden. Sollte sie ihm von dem seltsamen Bilderhandel sprechen, den sie mit Kuno Glür eingegangen war? Irgendeine Schüchternheit ließ sie darüber schweigen. Sie war ja schon froh, daß der Zudringliche sich seit dem Abend im »Gläsernen Himmel« nicht mehr vor ihr sehen ließ.

Ehe sie einen Entschluß gefaßt hatte, sprang das Gespräch Herdhüßers auf Dombaly über.

»Fühlen Sie sich denn in der Umgebung des Künstlers wohl?« fragte er nach einem kurz einleitenden Geplauder.

Die Frage überraschte Hilde, aber nach kurzem Besinnen erwiderte sie mit aufleuchtenden Augen: »Gewiß, ich spüre, wie mein bißchen Kunst unter der Führung Dombalys außerordentlich gewinnt. Ich verehre ihn als einen so vorzüglichen Lehrer, wie ich vorher nie einen besaß.«

»Und was halten Sie von ihm als Menschen?«

»Ich weiß von seinem Leben außerhalb des Ateliers nichts – so weit unser Verkehr reicht, finde ich, er sei ein herrlicher Mann.«

»Und gegen Damen stets korrekt?«

»Gegen mich sicherlich – sonst bliebe ich nicht seine Schülerin!«

Herdhüßer nickte Hilde, die wahrheitsmutig zu ihrem Lehrer hielt, wohlgefällig zu. »Es spielt da nämlich eine sonderbare Geschichte«, versetzte er. »Wie Sie wissen, bin ich selbst ein großer Verehrer des Künstlers, und die beiden Gemälde, die ich von ihm gekauft habe – der mit braunen Männern besetzte Fischerkahn im Morgenrot und die bäuerliche Heimkehr vom Felde –, halte ich wegen der Wärme ihres Kolorits und der Stärke ihrer Stimmung für ganz ausgezeichnete Schöpfungen. Ich hatte nun die Absicht, uns von ihm porträtieren zu lassen, und meine Frau hat es ihm so angetan, daß er den Auftrag mit fast fiebernder Ungeduld erwartet. Gerade wegen ihres Bildnisses lag mir an Dombaly, denn sicherlich kein anderer brächte wie er ihr goldblondes Haar und ihren nordisch durchsichtigen Teint zu künstlerischer Wirkung. Seit unserem letzten Atelierbesuch aber weigert sich meine Frau entschieden, Dombaly zu sitzen. Ich selber bemerkte, daß er in quecksilberner Unruhe um sie war, sie aber äußerte sich nach dem Besuch verletzt und empört über den Künstler – er habe sich mit seinen dunklen Augen ein Spiel der Blicke gegen sie gestattet, das ihr gleichsam die Kleider vom Leib riß. Ich vermute zwar, daß bei der Gekränktheit meiner Frau, die auf streng konventionelle Formen hält, etwas Überempfindlichkeit mitläuft, aber der Eindruck der Dombalyschen Augen auf sie ist doch auch für mich sehr peinlich. Kurz, der Auftrag ist für den Künstler verloren – mit dem Porträt meiner Frau das meine. Die beiden Bilder müssen doch von der gleichen Hand gemalt werden.«

»Das tut mir aber furchtbar leid – leid für Ihre Frau Gemahlin, leid für Dombaly!« versetzte Hilde erregt.

»Ja, eine ärgerliche Wendung in unseren sonst guten Beziehungen«, warf der Doktor hin. »Auch für den Künstler selbst. Das Honorar für die beiden Bilder hätte er wohl brauchen können. Er steckt ja außerordentlich in Schulden. Man spricht von siebzigtausend Mark. Das ist doch auch für einen hervorragenden Maler sehr, sehr viel Geld!«

Hilde horchte entsetzt empor: »Wie ist das nur möglich?« stieß sie hervor. »Siebzigtausend Mark Schulden! Und ich glaubte, er sei reich.«

»Wie das möglich ist?« Der Doktor zuckte die Schultern. »Sicherlich ist Dombaly nicht nur einer der ersten, sondern auch einer der fleißigsten unter den Malern Münchens, künstlerisches Vollblut, das von selber vorwärtsdrängt wie ein heißes Pferd. Auch keine Frage, daß sich seine Bilder verkaufen, daß er und andere daran viel, sogar sehr viel Geld verdienen. Wenn er nun aber im Lauf des Jahres doch mehr braucht, als er einnimmt! Wie er wohl durch väterliches Erbe Künstler mit jeder Faser seines Wesens ist, so durch mütterliche Belastung der geborene Verschwender – wenn Sie wollen, einer, der das Verschwenden mit Geschmack und Genie betreibt, aber doch ein Mann ohne jede rechnerische Überlegung, ein großes Kind, das seinen Launen folgt, und wenn sie unnütz Tausende kosten.«

»Darf ich fragen, woher stammt Dombaly?« bat Hilde schmerzlich bewegt.

»Ich weiß um seine Eltern, seine Jugend selbst nur in großen Zügen«, erwiderte Herdhüßer. »Seine Mutter war ein adeliges Fräulein und eine durch Geist und Schönheit ausgezeichnete Hofdame irgendeines mitteldeutschen Fürstenhauses. Sie verwickelte sich aber in eine Liebschaft mit einem Förster oder Jäger, verlor ihre bevorzugte Stelle und kam nach München. Hier verheiratete sie sich mit einem Musiker und Komponisten Dombaly, der sich schon in Wien als begabter Künstler hervorgetan hatte, bald der Liebling der Münchner Gesellschaft geworden war und, als er das Fräulein kennenlernte, eben im Zenit seines jungen Ruhmes stand. Die hohen Lebensansprüche, die Verschwendungslust der jungen Frau und Eifersucht auf beiden Seiten ließen die Ehe sehr unglücklich werden. Die schönen künstlerischen Anfänge des Komponisten erstickten in Schwermut und Liederlichkeit, er starb früh. Die Witwe spielte weiterhin die Lebenskünstlerin, über ihrer Schuldenmacherei aber kam der Krach. Die adelige Verwandtschaft legte sich ins Mittel, traf ein Abkommen mit den Gläubigern, gab auch die Beiträge für die künstlerische Ausbildung des Sohnes her, setzte aber die Dame selbst auf eine knappe Rente, und das Leben der einst Vielbewunderten und Umschwärmten endete vor einigen Jahren in einem dunklen Winkel der Stadt. Um diese Zeit kam Dombaly von seinen Malfahrten in Italien und Frankreich heim, erwarb sich rasch seinen Ruf, jedermann aber, der die Mutter gekannt hatte, sah auch bald, daß ihre ausschweifende Verschwendungssucht in der Lebensführung des schönheitstrunkenen Künstlers Auferstehung feierte. Und in der Tat, besäße er nur das kleinste rechnerische Talent, so hätte er nicht vor einem halben Jahr, als er schon in Schulden stak, noch die griechische Antiquitätensammlung für sein Vestibül gekauft. Wissen Sie, wie er dazu gekommen ist?«

»Nein«, erwiderte Hilde, und auf ihrem Gesicht lag die Spannung, möglichst viel von Dombaly zu erfahren.

»Ein Kunsthändler hat mir von der merkwürdigen Erwerbung erzählt«, fuhr der Doktor fort. »Irgendeinem Münchner Bierbrauer stiegen seine Millionen zu Kopf, er fuhr nach Chios, ließ mit großen Kosten auf Altertümer graben, machte wirklich Ausbeute, brachte sie nach München und ließ unter der Hand bekanntwerden, daß er bereit sei, die Sammlung einem öffentlichen Museum zu schenken, wenn er dafür als Gegenleistung den persönlichen Adel erhalte. Na, der Mann wäre auch mit dem Kommerzienratstitel zufrieden gewesen; aber wegen irgendeiner alten Pantschgeschichte, die gute Freunde auffrischten, hingen die Trauben selbst dafür zu hoch. Da verlor sich der Stiftungsdrang des kunstsinnigen Brauers, und Dombaly kaufte die Sammlung verhältnismäßig billig, mußte aber, um sich die doch sehr beträchtliche Kaufsumme zu beschaffen, einen höchst ungünstigen Vertrag mit dem schlauesten jener Kunsthändler eingehen, von denen er mit Verträgen eingesponnen ist wie die Fliege von den Fäden der Spinne. Ein böses Kapitel, diese Kunstverlage! Die Öffentlichkeit erfährt ja darüber nie die Wahrheit, die Händler schweigen aus eigenstem Vorteil, und die Künstler zeigen der Welt die Wundmale ihrer Ketten aus Scham nicht; aber beim Bilderkaufen merkt man so was doch, und ich bin überzeugt, daß Dombaly, auch wenn er wie ein Böcklin oder Segantini unendliche Werte für den Handel schafft, selbst ohne seine Verschwendungssucht, ohne seine kostspieligen Weibergeschichten lebenslang der Sklave seiner Händler und ein armer Teufel bleibt.«

»Wie traurig, wie traurig!« entfuhr es Hilde aus tiefster seelischer Erschütterung.

Der Doktor erhob sich von seinem Diplomatenschreibtisch. »Ja, so steht's um Dombaly! Und der Gedanke an seine Abhängigkeit von den Händlern, die von jedem seiner Bilder ihre reichen Prozente nehmen, erleichtert es mir in gewissem Sinne, dem Wunsch meiner Frau zu folgen und mich wegen des Porträtauftrages an einen anderen Künstler zu wenden. Ich habe zuviel Achtung vor den Kräften, die mein Vermögen erschaffen haben, um einen Teil davon in die harten Hände der Kunstspekulanten zu leiten. Was mein Vater und ich mit unseren Arbeitern in jahrzehntelanger ehrlicher Tüchtigkeit zusammengetragen haben, soll uneingeschränkt durch die Händlerprofite wieder ehrlicher Arbeit zugute kommen – einem unabhängigen Künstler! Schade, daß Sie noch nicht so weit sind, Hilde, den Auftrag zu übernehmen«, fügte er hinzu. »Ich denke nun an unseren Landsmann Jakob Steiger. Kein Dombaly, aber ein tüchtiger Mann aus eigener Kraft, Und was er schafft, ist gutes Hausbrot. Kennen Sie ihn?«

Hilde kannte ihn nicht.

»Nun, gelegentlich werden Sie ihm mit seiner lebhaften und fröhlichen Frau schon bei uns begegnen«, versetzte der Doktor, der, als suchte er einen festen Entschluß zu fassen, im Zimmer auf und ab ging.

Und Hilde störte ihn in seinem Nachdenken nicht.

Die ernsten Mitteilungen des Doktors über ihren verehrten Lehrer lasteten auf ihrem Sinn, namentlich auch, daß ihm der Herdhüßersche Porträtauftrag entging. Der verletzende Blick gegen Frau Herdhüßer? – Oh, dessen hielt sie Dombaly in seiner Hingerissenheit für die schöne Nordländerin schon fähig. Hilde wagte es nicht, ihn vor dem Doktor zu verteidigen. –

Aber da trat ja Frau Herdhüßer, die erst dreißigjährige Stiefmutter, mit den Kindern in das Gemach. Sie hatte ihren Arm wie schwesterlich um den Nacken der vierzehnjährigen Gertrud geschlungen und führte Hermann, den schlanken Sechzehnjährigen, leicht an der Hand. Ein prächtiges Dreiblatt. Die natürliche, gewinnende Art, mit der die hochgebildete junge Frau die Stiefmutterstelle an den Kindern versah, hatte ihr von Anfang an die Sympathie und Bewunderung Hildes eingebracht.

Auch dem Doktor gefiel das Bild. »Sehen Sie, Hilde, so kam die Holsteinerin letzten Sommer mit den Kindern am Abend von den Bergen bei St. Moritz – Gertrud hier, Hermann dort«, plauderte er. »Und das gute Einvernehmen der drei war für mich die erste Anregung, zu prüfen, ob die Hand der jungen Fremden noch frei, eine Ehe zwischen uns möglich sei.«

Frau Herdhüßer, mit dem sonngoldenen Haar, den frischen blauen Augen und der auffallend reinen und durchsichtigen Hautfarbe, war eine kühlduftige, wonnige Frauenerscheinung – eine Ingeborg, wie sie Dombaly genannt hatte. – »Ein Brief von zu Hause!« wandte sie sich an ihren Gatten und lud zum Abendbrot.

Ein Abendbrot in der Familie Herdhüßer war für Hilde stets ein kleines Erlebnis, das ihrem Schönheitssinn wohltat. Die aufgeräumten, lebensfrohen Menschen liebten, selbst wenn keine Gäste da waren, eine fein gehobene Stimmung bei den Mahlzeiten. Sie wurde geschaffen durch die Fülle des Lichtes, die den geschmackvollen Eßraum durchflutete, durch die schönen, altertümlichen Gedecke und einen Tischschmuck frischer Blumen, namentlich aber durch die Liebenswürdigkeit und Ungezwungenheit der Herdhüßerschen Gastfreundschaft und eine Unterhaltung, die stets nur die schönen Seiten des Lebens berührte.

Das Heimatrecht und das Vertrauen, das ihr der Doktor sowie Frau und Kinder einräumten, durchsonnte die Seele Hildes mit einem langentbehrten Glück.

Angeregt durch den Brief, den sie dem Doktor zu lesen gab, erzählte Frau Herdhüßer aus ihrer holsteinischen Heimat und von dem Leben auf den Gutssitzen. Sie wandte sich an Hilde: »Das hat nun freilich wenig Interesse für Sie, da Ihnen Land und Leute unbekannt sind. Aber lassen Sie sich nach Tisch durch Hermann unser holsteinisches Photographiealbum geben. Darin sind neben Bildern unserer Verwandten, Bekannten und ihrer Gutsschlösser auch viele Landschaftsstücke enthalten. Und dann urteilen Sie als Schweizerin, wie Ihnen unsere holsteinische Schweiz gefällt. Ich als Kind jener Scholle finde sie sogar inniger, lyrischer gestimmt als Ihre echte Schweiz, die allerdings die großartigen Schaustücke voraus hat. Unsere Heimat ist nur Lyrik, herbinnige nordische Seelandschaftslyrik.«

Hermann brachte den umfangreichen Schwarzlederband.

Hilde hatte ihn erst zu durchblättern begonnen – da stieg ihr die Glut ins Gesicht.

Keine Täuschung! – Unter den Bildern der Herdhüßerschen Familien war das Siegfrieds, des nordländischen Polytechnikers, dem sie als Malschülerin Waldhiers täglich um die Mittagszeit begegnet war, ihm und seinem schwäbischen Freund.

Frau Herdhüßer bemerkte ihre kleine Verwirrung.

»Kennen Sie meinen Vetter Siegfried Kulbach, der hier an der Technischen Hochschule studiert?« fragte sie, neugierig geworden.

Hilde hatte sich gefaßt. »Ja und nein«, scherzte sie und erzählte in leicht anmutigem Ton, wie die beiden Polytechniker und sie dazu gelangt waren, sich bei ihren mittäglichen Begegnungen stumm zu grüßen, daß sie aber nicht einmal um die Namen gewußt, und daß seit ihrem Eintritt in das Atelier Dombaly das Zusammentreffen mit den beiden Herren von selbst aufgehört habe.

So natürlich wie Hilde ihre Überraschung erklärte, so natürlich wurden die Worte vom Doktor und seiner Frau aufgenommen.

»Nur ein Zufall, daß Sie Siegfried Kulbach nicht schon hier bei uns begegnet sind«, lächelte Herdhüßer. Er kommt zuweilen, und wir unterhalten uns miteinander gern und eifrig über technische Fragen. In letzter Zeit läßt er sich allerdings seltener blicken. Er will sich vor Ostern den Doktor der technischen Wissenschaften zulegen, das kostet ihn noch reichlich Arbeit, doch er bewältigt sie. Ein hervorragend tüchtiger und begabter junger Mann, dem in der deutschen Industrie eine glänzende Laufbahn winkt, das erfreuliche Gegenstück des Studenten aus St. Agathen, von dem wir heute abend gesprochen haben.«

Hilde beschaute sich die holsteinischen Landschaften und plauderte darüber. Von Siegfried Kulbach war nicht weiter die Rede. Heimlich war sie froh, als sie sich von der Herdhüßerschen Familie verabschieden durfte. Denn der Eindrücke waren für sie an diesem Abend fast zuviel.

Oh, sie würde sich doch sehr freuen, Siegfried Kulbach wiederzusehen, sie hatte sich, seit sie Mittagsrast mit Dombaly hielt, nach den beiden Freunden und ihrem Gruß gesehnt, besonders nach dem Siegfrieds. Wenn sie ihm aber einmal unerwartet in der Herdhüßerschen Familie gegenüberstände, würde da ihre Befangenheit nicht zu groß sein? Sie erhoffte und erbangte den Augenblick.

Und Dombaly! Die Schatten, die heute durch das Gespräch des ernst denkenden und lebenskundigen Doktors auf das fast ideale Bild gefallen waren, das sie sich von ihrem verehrten Lehrer entworfen hatte, schmerzten sie. Der feurige Künstler, der Schönheitsmensch, der sich wie ein freier Adler über den Staub des Alltags, über seine Kleinlichkeit und seinen Zwang zu erheben schien, in ökonomischer Bedrängnis und in einer knechtischen Abhängigkeit von kalten und schlauen Händlern! Die Kunst im Dienst Niedrigdenkender eine Sklaverei der edlen und freien Geister! Wie unwürdig! War es gegenüber dieser den Künstlerstand tief demütigenden Tatsache nicht eine Torheit überhaupt, mit dem heißesten Herzblut den Phantomen des künstlerischen Ehrgeizes nachzujagen? Da sah sie's an Dombaly. Das Laubgewinde des Ruhmes war ja doch nur eine Dornenkrone!

Auch erschreckt war sie über etwas Fremdes an Dombaly. Einer Dame Blicke zuwerfen, welche ihr gleichsam die Kleider vom Leibe rissen! Es lag eben doch etwas zügellos Leidenschaftliches, ja Abgründiges in seiner Natur, die sonst so herrlicher Regungen fähig war. Und wenn er nun in einer seiner wilden Wallungen das Versprechen brach, ihr nur Lehrer sein zu wollen, und sie mit jenem Blick der dunklen Augen verschlang, den sie bis jetzt noch nicht an ihm kennengelernt hatte? Was dann? Da bliebe ihr nichts übrig, als Dombaly zu bekennen: Keine Täuschungen zwischen uns. Es gibt noch Dinge in der Welt, die mir höher stehen, die mir heiliger sind als die Kunst. Ich habe meinem Vater in die erkaltende Hand nicht nur versprochen, daß ich als Künstlerin heimkehren, sondern auch, daß ich seinen Namen stets in Ehren tragen und mir selber treu sein werde! –

Nein, Dombaly bedeutete für sie keine Gefahr. Davor schützte sie die Erinnerung an die schöne Mizzi, ihre innere Ablehnung seiner leichtfertigen Grundsätze in Liebesdingen und ihre stille Neigung für den blonden Siegfried! –

Da war sie vor ihrer Wohnung angekommen und merkte erst jetzt, daß sie mit ihren wogenden Gedanken durch einen frischen Schnee heimwärts gestapft war und daß es noch in leisen Flocken schneite.


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