Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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13

Hilde stand vor ihrer Staffelei. Das Bild der kleinen Ellen, des Flattervogels vom Ballett, rundete und vollendete sich. Wie lichtdurchspielte Seide flog das Haar um das lieblich leichtsinnige, schmale Kindergesichtchen, und die Traumaugen schauten märchenhaft unter den langen Wimpern hervor.

Die junge Malerin, über deren Gestalt ein weißes Überkleid niederfloß, trat einen Schritt zurück und verglich mit gesammelten Sinnen Modell und Bild, lange, tief und gründlich. Oft erzitterte der Stift in ihrer Hand, als ob er noch einmal auf die Fläche eilen und eine Linie nachbessern, ein Licht leicht erhöhen, einen Schatten unmerklich vertiefen sollte. Aber sie ließ es. Die Zeichnung hatte jene Reife erlangt, bei der sie nach ihrer eigenen künstlerischen Schaukraft nichts mehr dazu tun konnte, ohne daß sie, was an dem Kinderbildnis gut war, zu verderben begann.

Das reine, schöne Glück, das fast feierliche Gefühl der Arbeitsvollendung, des künstlerischen Genügens strömte über ihr Gesicht und strahlte aus ihren großen Augen.

Da kam Dombaly zur Korrektur. Nein, leise trat er nach einem Augenblick wieder aus dem Arbeitsraum Hildes zurück, erschien aufs neue, diesmal mit Stift und aufgespannter Leinwand, und begann sie, ohne ein Wort zu sprechen, aus der Halbfront zu zeichnen.

»Was fällt Ihnen denn ein?« fragte sie verwundert. »Ich habe gehofft, Sie würden es gar nicht beachten«, lächelte er leichthin, »arbeiten Sie – denken Sie nicht an mich. Nur eines, Rebstein. Sie sind ja immer sehr hübsch, aber wenn Sie schaffen, da sind Sie schön – schöner, als irgendein Modell sein kann!«

»Wollen Sie mich foppen?« lachte sie kühl.

»Nein, es ist mein heiliger Ernst«, erwiderte er ruhig, »jede Stirn, jedes Augenpaar und Gesicht, das künstlerisch denkt und schafft, ist schön und von einem Strahlenschein des Göttlichen umwoben, aber wenn Sie, Rebstein, so gesammelt, straff und gespannt am Werk sind, die Augen flammen, die Nasenflügel und Lippen zittern, jeder Nerv Ihres Antlitzes in künstlerischer Kraft lebt und bebt, Ihre Seele gleichsam aus ihrem Hause getreten ist und im Lichte spielt, da sind Sie wirklich die Schaffende, das Menschenkind höherer Ordnung, um das beseelte Schönheit wie ein Strahl aus dem Überirdischen fließt.« »Können Sie Ihre Worte nicht noch größer wählen?« spottete Hilde.

»Sagen Sie lieber, es sei heute für eine Skizze zu spät«, versetzte er. »Aber nach all den langweiligen posierten Modellen lockt es mich wundersam, das Bild einer Selbstschaffenden in die Kunst zu übertragen – so wundersam, daß Sie mir schon ein paar Studien gestatten müssen.«

Was war dagegen einzuwenden? – Hilde war im stillen froh, ihrem Lehrer die mannigfaltige Güte mit einem kleinen Gegendienst erwidern zu können. Seit sie durch Doktor Herdhüßer wußte, wieviel Lebensanfechtung über ihn ging und wie seine Kunst eigentlich nur die Milchkuh für das Wohlleben anderer war, empfand sie für ihn nicht nur die Verehrung der Schülerin, sondern auch ein bedauerndes Mitgefühl aus tiefster weiblicher Seele. Wenn er ihr nur nie einen jener Blicke gab, mit denen er die feinsinnige Frau Herdhüßer von sich abgeschreckt hatte!

Er ließ seine kaum begonnene Zeichnung und wandte seine scharfe Aufmerksamkeit ihrem Werke zu. Erst nach einer Weile brach er das Schweigen.

»Wenn man Sie in Ihrer bewunderungswürdigen Vertiefungsfähigkeit arbeiten steht«, begann er sein Urteil, »dann spannt man die künstlerische Erwartung schon noch etwas höher, als sie in dieser Zeichnung erfüllt ist. Doch nein, es ist nur meine eigene Ungeduld, die so spricht. Wenn Sie auch mit Ihrer schweren Kraft dem Kinderantlitz den letzten süßen Schmelz und Duft nicht haben geben können, bin ich mit Ihnen doch zufrieden. Sie können zeichnen – ein großes Wort. Einiges haben Sie bei Waldhier, das Beste aber an diesem einzigen Bild gelernt.«

Er sah und sann. »Nein, alles ist aus dem Modell nicht herausgeholt«, nahm er das Gespräch wieder auf. »Die erschöpfende Wiedergabe eines lebendigen Wesens müssen Sie noch lernen. Aber Ihre Kunst ist doch ein Erwachen. Mich erinnert dieses Werden stets an den Ausblick von einem hohen Berg, wenn grau wogend das Nebelmeer im Tal liegt. Der Wanderer faßt es nicht recht, daß unter dem Chaos die schicksalsreiche Welt der Menschen liegen soll. Da zerfließt und zerreißt an einer Stelle der Nebel, ein Streifen grünen Landes wird sichtbar, ein roter Kirchhelm, ein weißes Dorf, ein blauer See, aber kaum wie eine Wirklichkeit, nur wie eine Phantasmagorie, und im nächsten Augenblick fliegen schon wieder die weiten grauen Mäntel darüber hin. An einer anderen Stelle aber bildet sich wieder ein Riß, ein Sonnenstrahl fällt hinein, er beleuchtet einen Bauern mit Gespann auf brauner Scholle, allmählich bricht sich der Nebel aller Enden, bilderreich tauchen Streifen sonnigen Landes empor, über der auflachenden Erde flüchten sich die Silberschiffe der Wolken. Wo sind sie geblieben? Und der Wanderer faßt nicht mehr, daß ihm die Schönheit, der Reichtum des offenen Landes vorher hat im Grau begraben sein können.«

Die dunkeln Augen Dombalys strahlten Hilde wie zwei Sonnen ins Gesicht.

»Sie verstehen mich, Rebstein! Was dem Kunstanfänger unter Nebeln, Wolken und Schleiern verborgen liegt, was nur da und dort durch Risse leise hervorzuschimmern vermag, das muß heraussteigen wie die sonnige Erde. Das muß in Farben zu leuchten anfangen. Leuchten, immer stärker leuchten durch die Kunst!«

»Sie glauben an die Möglichkeit, Dombaly, daß ich der Wanderer auf dem Berge bin?« zitterte die Stimme Hildes.

»Es ist mein Ehrgeiz!« erwiderte er.

»Dann soll es auch der meine sein!« stammelte sie mit glühroten Wangen.

Klein-Ellen, das zierliche Modell, warf dem Paar schon sehnsüchtig bittende Blicke zu. Sie verlangte nach Freiheit. Dombaly aber lächelte: »Kleine, rasch noch einmal in die Stellung – und Sie, Rebstein, packen Sie doch Ellen einen tüchtigen Rest vom Mittagbrot ein!«

Er ergriff den Stift, ließ ihn über die Zeichnung gehen und verfeinerte das Kindergesicht mit leiser Nachhilfe in eine Lebendigkeit des Ausdruckes, die Hilde umsonst zu erringen gesucht hatte. Als er nun aber auch noch von einem Farbstift ein sachtes Rot in die Haare des Porträts gleiten ließ und durch einen dem Modell entsprechenden Goldton das Bild wundersam hob, da seufzte Hilde wie in einer Anwandlung künstlerischer Eifersucht: »Nun ist's ja gar nicht mehr mein Werk!«

»Denken Sie ja nicht, daß ich ein Freund des Farbstiftes sei!« lachte Dombaly, »aber das Bild verkauft sich leichter.«

»An Verkauf habe ich gar nicht gedacht«, wandte Hilde ein.

»Wollen Sie Weihnachten bei Aufschnitt feiern?« spottete Dombaly. »Ihre Modellgelder müssen sich Ihnen ersetzen. Und das ist nun der Vorzug schöner Modelle, selbst wenn sie teuer sind und die Bilder unvollkommen bleiben – sie verkaufen sich durch den äußerlichen Reiz des Stoffes. Die meisten Bilder würden Künstlern und Händlern als Atelier- und Ladenhüter bleiben, wenn die Käufer nur nach der künstlerischen Reife und dem inneren Gehalt der Werke urteilten. Benutzen Sie den Weihnachtsmarkt, der schon begonnen hat, geben Sie das Blatt einem Kunsthändler ins Schaufenster. In zwei Tagen hat er's wegen der Lieblichkeit des Köpfchens und gewiß auch wegen der sauberen Zeichnung los. Ich gebe Ihnen eine Empfehlung an Kunz und Abel. Bieten Sie ihnen dreißig Prozent des Verkaufspreises, den das Geschäft erzielt. Die Leute sind zuverlässig. Und es handelt sich nicht bloß um den Betrag, sondern um die künstlerische Ermunterung für Sie. Ein verkauftes Bild wirkt auf den jungen Künstler stets wie der Sporn in den Weichen eines edeln Pferdes.«

Hilde begriff. »Warmen Dank!« versetzte sie leuchtenden Gesichtes.

Nach einer Weile aber unterbrach die Klingel des Ateliers die Arbeitsstille der beiden.

Dombaly stieß einen ärgerlichen Laut aus. »Versuchen Sie die farbige Wirkung selbst noch etwas zu steigern«, sagte er und schaute Hilde noch einige Augenblicke zu. »Es geht – es geht!« Noch säumte er.

Da erschien, wohl vom Ton seiner Stimme geführt, eine weibliche Gestalt unter dem Vorhang, der das Atelier Hildes von den übrigen Räumen schied – Mizzi Schäfer!

Dombaly wechselte die Farbe, bestürzt stammelte er: »Du bist es, Mizzi? – Du kommst mir jetzt sehr ungelegen!«

»Das weiß ich nur zu gut, Stephan«, bebte die Stimme Mizzi Schäfers, die, als übte sie ein altes Recht aus, völlig in das Atelier getreten war. »Ich muß dich aber doch dringend um eine Unterredung bitten!« bat sie flehentlich.

»Doch wenigstens nicht hier«, erwiderte Dombaly, dem die peinvolle Überraschung noch auf dem Gesicht stand, »nicht vor Fräulein Rebstein, meiner Schülerin. Komm mit, Mizzi!«

In großem, fast maßlosem Erstaunen und in aufwallender Eifersucht blickte Mizzi Schäfer, die übrigens sehr gut aussah, mit brennenden Augen auf Hilde. Dann folgte sie in gärender, nur schlecht verhaltener Erregung Dombaly durch die Portiere.

Eine häßliche Störung! Hilde versuchte sie zu überwinden und weiterzuarbeiten. Umsonst! Herzzerreißendes Weinen drang aus dem Hintergrund des Ateliers zu ihr herüber. Klein-Ellen, das Modell, fuhr erschreckt vom Stuhl und schrie: »Fräulein, ich fürchte mich – ich will heim!« Da gab es denn nichts als plötzlichen Abbruch der Arbeit.

Als Hilde hinter Klein-Ellen das Atelier verließ, da wußte sie aus Worten und Schreien Mizzi Schäfers bereits, um was sich der erregte Streit des Mädchens mit Dombaly, ihre flehentlichen Bitten und Verzweiflungsrufe drehten. Die Ärmste bereute, daß sie dem Künstler Aktmodell gestanden war, und noch auf dem Weg in die Privatstunden bei Familie Herdhüßer hatte Hilde den Schrei der Unglücklichen im Ohr: »Wenn du das Bild nicht zerstörst, wenn du es auf eine Ausstellung gibst, dann springe ich ins Wasser. Und du, Stephan, hast mich auf dem Gewissen!«

Auf ihrem Weg ließ sich Hilde fast quälerisch von der Frage beschäftigen: Wie war wohl die reizende Mizzi Schäfer, der man doch die Herkunft aus ordentlichen bürgerlichen Verhältnissen und eine gewisse jugendliche Unverdorbenheit ansah, dazu gelangt, einem Künstler Akt zu stehen? Das taten doch sonst nur die Berufsmodelle. Es war ja klar, daß das Aktgemälde vor allem als Ausstellungsbild gedacht war, klar aber auch, daß es, wenn es in München an die Öffentlichkeit kam, bei seiner Porträtähnlichkeit für Mizzi Schäfer sowie für ihre Angehörigen eine Quelle des Verdrusses, der Vorwürfe und des Spottes wurde. Hatte sich das unerfahrene Geschöpf aus leichtsinniger Verliebtheit, aus einer hochmütigen Freude an seiner eigenen jugendlichen Leibesschönheit zu der Torheit hinreißen lassen? Hatte Dombaly durch die liebenswürdig zwingende Kraft seiner Überredung, durch berechnete Liebelei, durch das Spiel seines persönlichen Zaubers unedel an dem Mädchen gehandelt? Kann ein Künstler in seiner Schönheitsgier so grausam sein?

Umsonst sagte sich Hilde, daß das Verhältnis Dombalys zu Mizzi Schäfer sie nichts angehe. Aus echt weiblichem Empfinden ließ sie sich von heißem Mitleid mit dem jugendlichen Opfer der Kunst ergreifen. Sogar die überquellende Herzensgüte, mit welcher der doch selbst von Schulden gequälte Künstler ihr eben noch den Weg zu einem künstlerischen Erwerb zu öffnen bereit war, half ihr nicht über nagende Zweifel am Charakter Dombalys hinweg.

Eine problematische Natur! Eng nebeneinander wohnten in dieser Künstlerseele höchster Edelmut und gefühllose Ichsucht, die Regungen erhabensten Menschentums und erbarmungsloser Gier.

Als sie aber in die Familie Herdhüßer kam, da drängte ein fröhliches Erzählen ihrer Schüler die schweren Gedanken über Dombaly und Mizzi Schäfer so plötzlich zurück, wie wenn der Wind die dunkeln Wolken eines Gewitters verjagt und über das noch regentriefende Land Sonnenleuchten herniederbricht.

»Denken Sie, Fräulein Rebstein«, rief das muntere Mündchen Gertruds, »wir haben Mutter zu Siegfried Kulbach begleitet, dem sie Nachrichten aus Holstein brachte. Und wir trieben dort das Spiel und fragten: ›Rate mal, was für eine junge Dame hat in unserem Holsteiner Album sogleich dein Bild erkannt?‹ Natürlich erriet er's nicht und glaubte, es sei von uns nur Übermut. ›Fräulein Rebstein!‹ scherzten wir. ›Kenn' ich nicht‹, antwortete er. Wir halfen ihm auf die Spur. ›Eine weiße Wollmütze und einen eisgrauen Mantel trägt die junge Dame, und am Siegestor wurde sie stets von zwei Polytechnikern auf dem Mittagweg stumm gegrüßt.‹«

»Da wurde er grad so rot wie Sie jetzt, Fräulein Rebstein«, lachte Hermann, der wie ein Bolz gewachsene Junge, mit lustigem Gesicht.

»Dann fragte er die Mutter, wie lang und woher wir Sie kennen?« erzählte das Mädchen mit jugendlicher Wichtigkeit, »und eine Empfehlung gab er uns auf für Sie – und gestatten würde er sich, uns einmal an einem der Abende zu besuchen, an denen Sie bei uns sind!«

Hilde zitterten die Glieder, ihr Herz pochte vor Freude, und alle Zügel ihrer Selbstbeherrschung zwangen es nicht – sie gab eine sehr zerstreute Unterrichtsstunde. – Ihn wiedersehen! – Und meinetwegen kommt er – meinetwegen!

Nie war sie so erwartungsvoll verträumt, glückselig und halb bang wie heute durch den Winterabend hinaus nach ihrem Dachquartier in Schwabing gegangen. Der Sturm jagte den Schnee der Ludwig- und Leopoldstraße – in ihrer Seele aber war Frühlingsahnung.


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