Jakob Christoph Heer
Laubgewind
Jakob Christoph Heer

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38

Durch das offene Fenster wehte der milde Frühlingswind in das provisorische Atelier, in dem Hilde arbeitete.

Sie malte nicht, sie überprüfte bloß die beiden Bildnisse. Vollendet – zum letzten Strich vollendet ihre erste, ganz selbständige Arbeit! Und sie hatte darin ihre eigene Erwartung wie die des Doktors und Jakob Steigers übertroffen. Eine wohlig-feierliche Stimmung künstlerischen Genügens schwebte wie Sonnenstrahl durch ihr Gemüt. Woher die Kraft? Woher die wundervollen Stunden des künstlerischen Aufschwunges, in denen sie die Schwingen ihres Könnens geheimnisvoll wachsen fühlte? – Sie fragte es sich fast fromm. Die Zuneigung, die Liebe für das prächtige Paar Hermann und Gertrud, das innere Bedürfen, der Familie Herdhüßer, die ihr so hohe Freundschaft erwies, ein möglichst vollgültiges Denkmal ihrer Kunst zu stiften, hatte ihr die Hand in den Bildern geführt!

Die Technik aber besaß sie von Dombaly.

Schmerzhaft wallte es in ihr auf. In einer Zeitungsnotiz hatte sie gelesen, daß der Ärmste in der Privatanstalt Enzenhof am Rand des bayrischen Gebirges untergebracht sei und nach der Ansicht der Ärzte nie wieder unter die Künstler und ins freie Leben zurückkehren werde, sondern einer langsamen Verblödung entgegengehe.

Sie wandte ihre Gedanken mit Gewalt von Dombaly und warf einen langen Blick durchs offene Fenster. Im Lenzsonnenschein wälzte die Isar die von der Schneeschmelze im Vorgebirge hoch und trüb angelaufenen Wasser. Gelblich ansprießend standen die Weidenbäume am Ufer und auf den Inseln des Flusses. Auf einem der Bäume schlug ein Fink so hell, so freudig in die sonnige blaue Luft, daß sein Jubel bis zu ihr empordrang.

Ja, nach schweren Arbeitstagen auch hell, froh und freudig sein!

Ein Pochen an der Tür schreckte sie auf. »Ich bringe Ihnen Besuch aus St. Agathen«, erzählte der Doktor lebhaft, »mein Freund, Herr Fabrikbesitzer Ulrich Glür. Von einer Geschäftsreise aus Sachsen nach der Schweiz zurückkehrend, hat Herr Glür den Weg über München genommen – na, und jetzt gestatten Sie uns, Hilde, dass wir die Porträts besehen!«

Sie war schreckhaft zusammengefahren. Aber da stand ja schon der Heimatgast. Erst erblassend, dann bis in die Stirne errötend, empfing sie Herrn Glür, den sie übrigens in St. Agathen nur vom Sehen gekannt hatte, mit konventioneller Höflichkeit.

Der schon in den Vierzig stehende reife Mann, mit seinem dunkeln, kurzgeschnittenen Bart und in seiner fast militärisch straffen Haltung eine sehr kernhafte Erscheinung, bot ihr mit herzlichem Druck kurzweg die Hand. »Fräulein Rebstein, ich freue mich, Ihnen zu begegnen«, lächelte er. »Ich hoffe, Sie haben wegen der häßlichen Geschichte, in die Sie durch meinen windigen Bruder und meine leider etwas muckerisch gesinnte Mutter hineingezogen worden sind, keinen Groll auf mich geworfen. Von dem übeln Handel, den ich sehr bedauerte, ist mir nichts übriggeblieben als eine warme Neugier nach unserer St. Agathener Künstlerin. Auch meiner Frau! Sie wäre sehr enttäuscht, wenn ich bei meiner Heimkehr nicht einiges von Ihnen zu erzählen wüßte.«

Nun, das war immerhin Herr Ulrich Glür, der so sprach, der angesehenste Mann der Heimat, der von vielen für fast unnahbar gehaltene Großindustrielle, eine jener starken Gestalten, die, wo sie auftreten, gleichsam sprechen: »Da bin ich«, ein Mann von weltmännischem Schliff und merkbarer Vornehmheit; und zuweilen ging durch seine Sprache ein herzlich natürlicher Ton, der unwillkürlich auch das Empfinden für ihn einnahm.

Einen Grund zu grollen hatte Hilde wirklich nicht mehr. Wenn sein Gesicht sie nur nicht so lebhaft an seinen viel jüngeren Bruder Kuno erinnert hätte!

Die beiden Freunde besichtigten die Bilder und hatten dafür manches Lob. »Kräftiges Temperament, klares Streben«, bemerkte Herdhüßer, »und das Psychische wird sichtbar.«

»Ja, eine andere Art Malerei, als man sie daheim in unseren Fabrikantenvillen sieht«, versetzte Ulrich Glür. Dabei ruhten seine Augen überrascht und nachdenklich zugleich auf Hilde, und sein Ton wurde immer wärmer.

»Sie kommen zu Ostern nach St. Agathen. Sie beabsichtigen lange Ferien in der Heimat zu halten. Da geben Sie doch auch mir und meiner Frau bald die Ehre«, bat er. »Darüber wird wohl ein Plan reif, der Ihnen und uns dienen kann.«

Sein vertrauendes Lächeln streifte Hilde. Sie erriet und wurde verlegen.

Nun, für heute verabschiedete sich der Heimatgast. Zuletzt erbat er sich für morgen ihre Führung bei einem Besuch der Neuen Pinakothek. Höflicherweise durfte sie nicht ablehnen, das hätte nicht nur den Gast, sondern auch den Doktor verstimmt! –

Der Besuch in der Pinakothek gab sich hübscher, als Hilde gedacht hatte. Der Fabrikherr kannte doch viele Namen aus der neuen Malerei und bekundete eine lebhafte Neugier nach ihren Bildern.

Da konnte Hilde aus feinem Verständnis heraus in aller Bescheidenheit manche Bemerkung machen, die ihren Zuhörer angenehm überraschte. War das wirklich ein Kind St. Agathens, das von der Kunst, Meistern und Werken, so temperamentvoll, frisch und fesselnd sprach? In lächelnder Bewunderung schaute Ulrich Glür in die geistvoll spielenden Züge Hildes, schwer konnte er sich von ihrer erfrischenden Unterhaltung trennen, endlich mahnte er doch leise zum Aufbruch.

»Schon elf, sagen Sie; wie rasch einem die Zeit vor guten Gemälden vergeht!« versetzte Hilde.

An den Besuch der Pinakothek schloß sich eine Wagenfahrt. Sie ging an der Technischen Hochschule vorbei. Da oben, irgendwo in dem prächtigen Bau, saß Siegfried im Examen. Kein Zweifel, daß er es glänzend bestand! – Die Fahrt ging beim Siegestor vorüber in die Leopoldstraße, den ihr liebgewordenen Liebes- und Schicksalsweg, und bei der alten, romantischen Dorfkirche von Schwabing, in deren Nähe Steiger hauste, hinab in den Englischen Garten. In den hohen Bäumen regte sich schon der Vorlenz.

Plötzlich kam Herr Glür auf den Plan zu sprechen, den er schon gestern angedeutet hatte. »Ich und meine Frau wissen, daß die Bilder in unserer Villa wertlos, ja für uns eine Verlegenheit vor kunstsinnigen Besuchern sind. Seit etlichen Jahren denken wir auf Ersatz; aber Geschäft, Geschäft! Bis heute ist nichts für die Neuausschmückung der Villa geschehen. Jetzt aber ergreife ich die Gelegenheit: Wollen Sie es freundlichst übernehmen, Fräulein Rebstein, unsere vier Kinder zu malen? Am Nesthäkchen, einem vierjährigen Mädchen, ist mir zunächst am meisten gelegen. Meiner Frau könnte ich kein willkommeneres Geschenk nach Hause bringen als Ihre Zusage.«

Eine Glutwelle bedeckte Hildes Gesicht. Sie zögerte mit der Antwort.

»Sie denken, Sie würden bei uns vielleicht Kuno oder meiner Mutter begegnen«, nahm der Fabrikant wieder das Wort. »Da besteht keine Gefahr. Als ich Kuno in meine strenge Zucht nahm und er ernstlich hätte an die Arbeit treten sollen, erwies es sich, daß er von seinem ausgelassenen Leben in München den Schuß in der Brust trug. Ägypten, rieten die Ärzte. Dort weilt er jetzt und soll, wenn er geheilt ist, unter der Aufsicht eines Pflegers zur weiteren Stärkung eine Weltumsegelung unternehmen. Doch glaube ich, daß es für den Lungenkranken überhaupt keine Genesung mehr gibt.

Und die Mutter? – Sie sitzt mit gelähmten Füßen im alten Biedermeierhaus, betet für Kuno und betritt unsere Villa nie. – Man hat auch sein Bündel Sorgen, Fräulein Hilde!«

Die Mitteilung walzte einen großen Stein des Anstoßes von der Seele Hildes, aber sie sprach von der Ausspannung und Ruhe, deren sie nach den Anstrengungen eines langen Studienwinters bedürfe.

»Herdhüßer hat mir von Ihrer gewaltigen Arbeit erzählt«, erwiderte der Fabrikant. »Warum sich aber nicht bei uns ausspannen? Mit den Ihrigen in St. Agathen können Sie ja doch nicht zusammenwohnen. Weder Ihre Mutter noch der alte Lehrer Hardmeyer vermögen Ihnen einige Bequemlichkeit zu bieten. Bei uns aber haben Sie Ihre ungestörten Räume; unsere großen Gärten, unsere Wagen und Pferde stehen Ihnen zur Verfügung, in allen Entschließungen haben Sie Ihre künstlerische Freiheit; ob Sie die Bilder in vier Monaten fertigstellen wollen oder in acht – wer fragt?«

»Ich bin von Mitte Mai an, oder wann sonst die Familie aus Holstein zurückkehrt, zu Herdhüßer in die neue Villa am Rhein eingeladen«, gab Hilde unsicher zurück.

»Na, da läßt sich ein gegenseitiges Abkommen treffen, dafür lassen Sie mich sorgen«, lachte Ulrich Glür, »wenn Sie nur grundsätzlich gegen die Annahme des Auftrages nichts einzuwenden haben. Ich denke aber nicht, daß Sie wegen der unsinnigen Geschichte meines Bruders nun doch einen heimlichen Groll auf mich hegen, Sie werden mir zugeben müssen, daß ich mit fester Hand Ordnung schuf, als ich davon Wind bekam. Und auch kein Schmerzensgeld soll der Auftrag bedeuten, sondern ich bin darauf gekommen, weil mir die Bilder der Kinder Herdhüßer so außerordentlich gut gefallen haben. Fast augenblicklich kam mir der Gedanke: du darfst dir die Künstlerin nicht von einem anderen, der die Bilder sieht, durch ein Angebot vorwegnehmen lassen!«

Da hielt der Wagen vor der Herdhüßerschen Wohnung. Durch die offene und herzliche Aussprache Glürs in die Enge getrieben, sagte Hilde: »Ich wünsche doch mit meinem Verlobten darüber zu sprechen. Geben Sie mir bis morgen Bedenkzeit!«

»Bis morgen um elf. Da komme ich in die Familie Herdhüßer zum Abschiedsbesuch; am Nachmittag fahre ich in die Heimat. Ich darf wohl in jedem Fall den Ihrigen einen Gruß bestellen und, wenn Sie mir morgen Ihr Ja geben, worauf ich bestimmt hoffe, sie benachrichtigen, daß Sie mein Sommergast seien!«

Das traf einen feinen Nerv Hildes: vor Adolf, dem Lehrer Hardmeyer und der Mutter wäre diese Anmeldung durch Ulrich Glür eine volle Ehrenquittung für die Kränkung, die Kuno Glür auch ihnen zugefügt hatte! –

»Na, Hilde, wie verlief der Vormittag?« rief ihr der Doktor mit fröhlicher Miene entgegen.

Sie erzählte. Er horchte, er lächelte: »Ich begreife ja, daß Sie nicht mit vollen Segeln auf den Antrag Ulrich Glürs eingingen, aber Ihr Ja müssen Sie doch in Bereitschaft halten. Es ist die Heimat, die Ihnen die Hand streckt. Das bedenken Sie wohl. Kein Künstler und keine Künstlerin, in einer verborgenen Ecke glüht die Sehnsucht, gerade auf jenem Boden die Anerkennung zu finden, in dem die ersten künstlerischen Regungen wurzeln: in der Heimat. Der Beifall der weiten Welt mag einem Künstler zufallen und seine Heimat eine Hütte im dunkeln Wald oder auf der Heide sein, in seinem Wesen bleibt eine Unrast, bis man auch in dieser Hütte weiß, daß sein Stern im Aufgang ist und leuchtet. Also, Hilde!«

Der Doktor verstand die Menschen doch stets da zu ergreifen, wo ihr tiefstes Fühlen lag. Sie bei der Heimat! Dem Andenken ihres Vaters war sie es schuldig, daß sie die ehrenvolle Aufgabe im Hause Ulrich Glürs übernahm. Im Grund ihrer Seele war der Streit bereits entschieden. Nun bloß noch Siegfried hören! –

Er kam zum Abendbrot. Die beiden Männer, Ulrich Glür und er, fanden sich auf dem gemeinsamen Gebiet der Industrie, der technischen und sozialen Fragen in gegenseitigem, regem Verständnis, und als der Gast nach seinem Hotel aufbrach, da besaß er nicht nur die Zusage Hildes, daß sie seine Kinder malen werde, sondern auch die der beiden Verlobten, seine Ostergäste in St. Agathen zu sein.

»Ein ausgezeichnet kluger und weit ausschauender Mann«, bemerkte Siegfried, als Ulrich Glür gegangen war, »ich freue mich aufrichtig über diese Bekanntschaft.« Seine Augen leuchteten im Nachgenuß der geführten Gespräche.

Aus ihrem Stübchen schaute Hilde auf die nächtlich strömende Isar und empor zu den Frühlingssternen. Sie trug den Frieden eines guten Entschlusses in sich. Nun lächelte die Heimat ihrer jungen Kunst. Das gab der Seele Glauben, Mut und wachsende Flügel.


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