Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vor einem Tisch unter freiem Himmel drängten sich in Uluchanlu ganze Massen Armenier, Tataren und Kaukasier, die ihr Gepäck zur Reise nach Nachitschewan expedieren lassen wollten, und der Beamte, der die Oberaufsicht über die Gepäckabteilung hatte, kommandierte herum wie ein asiatischer Despot. In Etschmiadsin hatte ich zu spät erfahren, daß der dortige Stationsvorsteher nur gegen klingende Vergütung seine Pflicht tat; aber durch Erfahrung gewitzigt und um mich nicht durch all das Pack durchdrängen zu müssen, drückte ich seinem Kollegen jetzt einen funkelnagelneuen Zehnrubelschein in die Hand; sofort wurde ich in jeder Weise bedient und gut behandelt. Zwei Leute erhielten Befehl, mein Gepäck zu wägen und im Güterwagen auf einem Haufen aufzustapeln. Erst dann, als ich mich davon überzeugt hatte, daß dies geschehen und der Güterwagen mit Schiebetür und Eisenkrampen verschlossen worden war, kehrte ich wieder in mein altes Nachtquartier zurück und nahm mit zwei Reisetaschen meinen Platz in der einen Ecke ein.
Der Abteil hatte sechs Sitzplätze; aber ich sollte nicht, wie ich gehofft hatte, allein darin bleiben. Ein russischer Ingenieur wurde in der gegenüberliegenden Ecke mein Unglückskamerad, und dann füllte sich der Abteil mit Armeniern und ähnlichem Volk mit Weib und Kind. Als der Zug endlich fortrollte, hatte man so viel Fahrkarten verkauft, daß ihre Zahl die der zur Verfügung stehenden Sitzplätze überstieg. Immerfort waren neue Passagiere gekommen, die ohne viel Federlesens einfach in die Abteile hineingestopft wurden. Der Fahrplan war nur ein schönes Trugbild, und noch eine Stunde nach der fahrplanmäßigen Abgangszeit war der Fahrkartenschalter von mehr als zweifelhaften Herren und Damen kaukasischer und mongolischer Rasse belagert gewesen.
Mit den Menschen ging es; wir hatten drei Weiber als Gesellschaft: eine Alte, die auf einem ganzen Stapel großer Bündel kauerte und mehrere andere Bündel als Fußschemel benutzte, eine kränkliche und elend aussehende, dicht in gewiß sehr inhaltsreiche Decken und Kissen gehüllte Frau, und eine dritte, die unnötig umfangreich und schmierig war und Brotkrümchen im Schnurrbart hatte; ferner eine junge Frau mit drei Kindern und einem vierten an der Brust, das sich wenigstens still verhielt, während die drei andern Bergtouren auf all den Bündeln unternahmen und einander wie drei kleine Katzen in dem überfüllten Abteil jagten. Dessen Luft wurde durch die schlechten Zigaretten, die zwischen den Lippen bärtiger oder unrasierter, ungewaschen aussehender und schmieriger Kerle glühten, wahrhaftig nicht verbessert.
Nach dem Frühstück von den mitgebrachten Eßwaren werden frische Zigaretten angezündet, und die Luft, die schon vorher stickig genug war, wurde jetzt unerträglich. Glücklicherweise waren die Armenier derselben Ansicht und öffneten die nach der Plattform führende Tür, wo ich mir selbstverständlich eine Freistatt gesucht hätte, wenn sie nicht bereits durch allerlei Kerle mit Kisten und Bettsäcken blockiert gewesen wäre. Die junge Mutter, die neben mir sitzt, bietet mir in liebenswürdiger Weise Weintrauben an, und bald habe ich mich mit ihren Kindern angefreundet und spiele mit ihnen, soweit wir dazu Raum finden. Ihr kleinster Erbe schreit wie besessen; damit er sich still verhalte, steckt sie ihm einen Gummipfropfen in den Mund.
Noch eine Stunde vergeht, die Reisenden nicken allmählich ein. Sie haben den ganzen Morgen vor dem Schalter gestanden und auf ihre Fahrkarten gewartet, sie sitzen eng und unbequem, und das einförmige Rütteln des Zuges schläfert sie ein. Mit erhobener Nase und weit offenem Mund schnarcht die dicke Matrone in ihrer Ecke. Über ihrem schlafenden Sprößling wiegt die junge Mutter ihren Kopf hin und her, als ob er vom Stengel fallen wolle; die Kinder hören mit dem Spielen auf, und die bärtigen Männer sinken in ihre Ecken zurück, lehnen sich aneinander oder legen den Kopf in den Schoß ihres Nachbars.
Die Bahnstrecke nach Nachitschewan, die der Staat erst in zwei Jahren übernehmen sollte, war jetzt »Wremennij«, eine provisorische Linie; sie wurde auf die skandalöseste Art und Weise ausgenutzt. Die Eisenbahnwagen waren alte, schauderhafte Kasten, die andere Nebenbahnen schon vor langer Zeit ausrangiert hatten. Kein Gedanke an tägliche Reinigung; nur ab und zu wird einmal der Abfall vom Fußboden entfernt, aber erst dann, wenn er sich als richtige Kjökkenmöddinger anzusammeln droht. Es war wirklich schamlos von den Bahnbehörden, sich eine solche Behandlung des Publikums, das diese Verkehrslinie benutzt, zu erlauben. Wenn auch immerhin nur Eingeborene mit diesem Zuge fahren, so bezahlen sie doch ihre Fahrkarte zweiter Klasse mit 4 Rubel 16 Kopeken und hätten wohl das Recht, dafür einen Sitzplatz zu verlangen. Sie murrten auch laut über die Art und Weise, wie man sie behandelt hatte, und konnten es ebensowenig verstehen wie ich, weshalb dem Zuge, der obendrein noch erbärmlich langsam fuhr, nicht ein paar Wagen angehängt worden waren. Hier fehlte, um es kurz zu sagen, jede Spur irgendwelcher Ordnung und Sauberkeit, und ich fragte mich im stillen, wie es wohl in der dritten Klasse hergehen werde, wenn die zweite schon so aussehe. Entschieden reist man auf den türkischen Wegen in Kleinasien viel bequemer und sicherer, und man wird dort auch stets höflich und anständig behandelt. Spitzbübereien, Diebstähle und Gewalttätigkeiten sind in Asien an allen Grenzen im Schwang.
Einstweilen sind die Bahnhöfe dieser neuen Bahn noch provisorische Lehmhäuser, die auf niedrigen Pfählen ruhen, um die Feuchtigkeit abzuhalten. Kamarlu, ein großes Armenierdorf inmitten schöner Gärten und Felder, ist die erste Station. Die zweite trägt den klangvollen Namen »Ararat«, aber nach der dritten Station Sadarak, die auch ein armenisches Dorf ist, wird die Landschaft immer öder. Eine Erholung für das Auge ist der Anblick der beiden Gipfel des Ararat, ein großartiges Panorama. Jetzt habe ich den herrlichen Berg von allen Himmelsrichtungen aus gesehen.
Bald fahren wir durch Steppen, bald durch unfruchtbare Wüsteneien; selten sieht man einen Busch, niemals einen Baum an einer andern Stelle als bei den Dörfern. Rechts im Süden tritt uns der Aras ganz nahe und gibt sich durch den Vegetationssaum, der seine Ufer einfaßt, zu erkennen. In immer kleiner werdendem Bilde und immermehr verschwimmenden Farben sehen wir den Ararat, aber bald fällt der Vorhang, und der heilige Berg ist im Nebeldunst verschwunden.
Die Lokomotive keucht und stöhnt; sie wird mit »Masut« geheizt, jenem vorzüglichen Brennstoff, der als Rückstand des destillierten Rohnaphtha bleibt, dessen Geruch aber erstickend ist und zum Verpesten der Luft unseres rollenden Hauses beiträgt. Die Armenier treffen ihre Vorbereitungen zum Mittagessen, indem sie Brot, hartgekochte Eier und Milchflaschen aus ihren Bündeln auspacken, und die Eierschalen gesellen sich zu dem schon auf dem Fußboden liegenden Abfall.
Man freut sich jeder Station, die man hinter sich zurückläßt. Die fünfte heißt Schahtachti. Dort zog eine ziemlich große Kamelkarawane nach Osten; man scheint sich noch nicht recht an den Bahnverkehr gewöhnt zu haben, aber man weiß doch schon, daß überall, wo die Schienen ihre Eisenbänder durch die Steppen ziehen, auch dem einst vorherrschenden, so pittoresken Karawanenleben die Todesstunde geschlagen hat.
Jetzt geht die Sonne unter, und die Dämmerung breitet sich still über der Steppe aus. Auf dem persischen Ufer des Aras erheben sich niedrige Berge. Nach einem gründlichen Mittagschlaf erwachen die Armenier wieder und zünden sich neue Zigaretten an; die Kinder sind müde und verdrießlich und sehnen sich nach Hause in ihr armseliges Bett in Nachitschewan. Doch endlich nimmt auch dieser lange Tag ein Ende. Hinten auf einer Anhöhe sieht man die Häuser, Kirchtürme und Bäume des Städtchens. Der Pfiff der Lokomotive ertönt, der Zug fährt langsamer und hält schließlich an der Station, die einfach und schmucklos aus einem offenen Bahnsteig besteht. Ein Gepäckraum war nicht vorhanden, und seine Sachen erhielt man ausgeliefert, wenn man geduldig wartend in einer langen Reihe vor dem Gepäckwagen stand. Da es aber auch an Karren zum Transportieren des Gepäcks fehlte, ließ ich meine Kisten im Güterwagen liegen, stieg in die letzte Droschke und fuhr auf einer überaus staubigen Straße die anderthalb Werst nach der Stadt. Da der Kutscher mir wohlwollend mitgeteilt hatte, daß das Hotel Europa das beste in der ganzen Stadt sei, hielten wir vor der Tür dieses Hotels. Später erfuhr ich, daß der Schurke von dem Hotelbesitzer für alle nichts Böses ahnenden Reisenden, die er in dem Netze seiner Droschke zu fangen vermochte und in dieses schlechteste aller Löcher auf Erden brachte, eine bestimmte Provision bezog.
Der Wirt erklärte mir, alle Zimmer seien besetzt, er werde aber diesmal – wohl weil ich relativ anständig angezogen war und einigermaßen zahlungsfähig aussah – Zimmer Nr. 1 hergeben, in das sonst nur vornehme Reisende eingelassen würden. Nachdem ich mich sehr gründlich gewaschen hatte, fiel mir ein, daß es wohl nicht unangebracht wäre, wenn ich dem Oberhaupt der Stadt, dem Ujäsdnij Natschalnik, dem Bezirkshauptmann, meine Aufwartung machte, da ich sonst nicht so leicht mit allen meinen Kisten ungeschoren aus dem russischen Reiche hinauskommen würde – hier wurde ja an allen Ecken und Enden gestohlen und geplündert, und gerade diese Gegend war noch dazu ganz kürzlich der Schauplatz eines haarsträubenden Blutbades gewesen. Mich jetzt, da ich nur noch eine Tagereise von der persischen Stadt Dschulfa entfernt war, der Möglichkeit einer Beraubung auszusetzen, hielt ich für unnötig.
Ein Hoteldiener mußte mir den Weg nach dem Hause des Bezirkshauptmanns zeigen. Sein Eingang wurde von zwei Soldaten bewacht, die mit der Flinte auf der Schulter auf und ab marschierten.
»Hier darf niemand hinein«, brüllte der eine Krieger mich an.
»Ich muß den Ujäsdnij Natschalnik sprechen.«
»So spät abends läßt er keinen mehr vor.«
»Sagen Sie, ich sei ein Reisender, der ihn sprechen müsse!«
Nach mancherlei Wenn und Aber ließ der Mann sich überreden, meine Karte hineinzutragen. Bald darauf hörte ich eilige Schritte im Innern des Hauses, und ein kleiner Herr in der Uniform eines Obersten bat mich höflich, näherzutreten. Er führte mich in sein Arbeitszimmer, wo auf dem Schreibtisch eine Lampe brannte, und bat einen Augenblick um Entschuldigung, weil er noch im Nebenzimmer mit einem Offizier etwas Wichtiges zu besprechen habe. Unterdessen besah ich mir das ziemlich leere Zimmer, dessen kahle Wände nur einige banale, langweilige Photographien, Gruppen russischer Offiziere vorstellend, zierten. Plötzlich wurde mein Blick von dem großen Buche gefesselt, das aufgeschlagen mitten auf dem Schreibtisch lag – es war die Bibel, und zwar in schwedischer Sprache!
Als der Oberst nach einer Weile zurückkehrte, fragte ich ihn auf gut schwedisch, ob er in dem alten Buche zu lesen pflege, und er antwortete mit finnländischem Akzent, daß es seine einzige Gesellschaft sei und daß er seiner nie so sehr bedurft habe wie hier bei all der Unruhe und Unsicherheit, die ihn auf allen Seiten umgebe.
Oberst Enckel, der sechs Jahre in Nachitschewan zugebracht hat, ist ein unverheirateter, ruhiger und sehr liebenswürdiger Herr. Er bat mich, sofort in seine Wohnung überzusiedeln, und schickte einige Reiter nach dem Bahnhof, um mein vieles Gepäck abzuholen. Nachdem wir zusammen gespeist hatten, unterhielt er mich bis 1 Uhr nachts mit Schilderungen aus den blutigen Tagen, die kürzlich seinen Bezirk erschüttert hatten. Es ist jetzt lange her, und ich vermute, daß in Nachitschewan die Ruhe wiederhergestellt ist; aber wenn auch jene Ereignisse an und für sich nur ein vorübergehendes Interesse haben, so können sie doch dazu dienen, ein schwaches Licht auf die Verhältnisse zu werfen, unter denen in Kaukasien Menschen verschiedener Rasse miteinander leben.
In dem ganzen Bezirk Nachitschewan waren in diesem Jahre, 1905, mehr als zweihundert Mordtaten vorgekommen. In dem Tatarendorf Ikran begannen die Unruhen damit, daß die Armenier vierzig Tataren, Männer, Weiber und Kinder, überfielen und totschlugen. Ein paar Tage später, am 6. Mai, war Nachitschewan schon von dieser Seuche angesteckt; einige Armenier schossen einen Tataren nieder, als er unter freiem Himmel sein Abendgebet verrichtete; aus Wut über diese Schurkerei töteten die Tataren zum Entgelt einen Armenier. Man hoffte nun, daß die sogenannten Christen und die Mohammedaner sich als quitt betrachten könnten, aber die Blutrache bewegte sich in andern Bahnen weiter, und die Armenier erschossen drei Tage darauf einige Tataren, als diese aus einem Nachbardorf in die Stadt zurückkehrten. Um, wie es hieß, die Ruhe wiederherzustellen und den Unruhen ein Ende zu machen, ehe sie noch weiter um sich griffen, begab sich der Vizegouverneur von Eriwan nach Nachitschewan und hatte am Morgen des 11. Mai eine Zusammenkunft mit den vornehmsten Beks, Chans und Mollahs der Tataren und später am Tage noch eine mit den Führern der Armenier. Obgleich beide Parteien versprachen, sich ruhig zu verhalten, hörte man noch an demselben Abend im Basar Revolverschüsse krachen. Es stellte sich heraus, daß die Armenier ihre sogenannten »Fidai«, gedungene Meuchelmörder, eigentlich Patrioten, in der Stadt hatten umherfahren und ihre Revolver in die Luft abschießen lassen, und zwar nur deshalb, damit die Erbitterung und Unordnung größer wurde und die allgemeine Aufregung und Unruhe stieg! Sie wurden auf der Stelle verhaftet und ihr Vorrat an Revolvern und Bomben mit Beschlag belegt.
In Nachitschewan lagen damals 150 Mann berittener Grenzwachtruppen, die jedoch nicht zu gleicher Zeit in der Stadt waren, sondern in kleinen Patrouillen längs der Grenze standen; außerdem verfügte der Oberst über die Garnison, ein ebenfalls 150 Mann starkes Kommando. Seltsamerweise hatte der Vizegouverneur diese ganze Mannschaft auf Schießübung nach dem 4 Werst von der Stadt liegenden Übungsplatz beordert, und als die Erbitterung am Morgen des 12. Mai ein drohendes Aussehen annahm, fehlten die Organe der Ordnung auf ihrem Posten. Der Vizegouverneur, der sich im Hause des reichen Tataren Ragim Chan für sicher hielt, überredete indessen die Armenier, ihre Läden im Basar schon um 7 Uhr zu öffnen. Zwei Stunden später ertönten aus dieser Richtung vereinzelte Schüsse, und dann fielen sie immer dichter. Mit den beiden einzigen Soldaten, die zur Hand waren, eilte Enckel nach dem Basar und kam gerade zu rechter Zeit, um Zeuge des unheimlichen Blutbades und der ungezügelten Plünderung zu werden, welche die Tataren an den Christen verübten. Nachdem die Tataren mit ihren Kinschals 48 Armenier getötet hatten, plünderten sie die Läden und steckten eine ganze Reihe Geschäftslokale in Brand. Die Armenierstadt wurde an mehreren Ecken angezündet, und erst als Enckel eine Schar Freiwillige gesammelt hatte, gelang es ihm, diesen Stadtteil vor gänzlicher Zerstörung zu bewahren und durch sein energisches Auftreten die Tataren, die nur drei Tote hatten, zu bewegen, mit dem Blutvergießen aufzuhören. Inzwischen war die Garnison benachrichtigt worden; doch als die Hälfte der Mannschaft anrückte, war das Gemetzel schon vorüber.
Es gelang der Garnison, die Ruhe so lange aufrechtzuerhalten, bis am 14. Mai die aus Eriwan telegraphisch erbetene Truppenabteilung von 800 Mann hatte anlangen können. Diese Truppen standen zurzeit meines Besuchs noch in der Stadt. Die Armenier fürchteten jeden Augenblick neue Bluttaten, aber die Tataren hatten sich in den Läden ihrer Gegner so gründlich mit allem versehen, daß sie einstweilen zufrieden waren.
Schon am 13. Mai kam es in den Dörfern um Nachitschewan herum zu ähnlichen Aufständen, und am 14. schickte der Vizegouverneur, der in dem allgemeinen Wirrwarr den Kopf verloren haben muß, Enckels Adjutanten mit 22 Mann, Gendarmen und Grenztruppen, zur Aufrechterhaltung der Ordnung dorthin. Der Adjutant kam sofort mit der Nachricht wieder, daß es ihm absolut unmöglich sei, die durch die Tataren besetzten Hohlwege und Dickichte zu forcieren, wo seine Leute dem Feuer preisgegeben seien; die Tataren glaubten nämlich, daß die russischen Truppen beabsichtigten, den Armeniern zu helfen.
Da bat Enckel um die Erlaubnis, noch an demselben Tage um 3 Uhr nachmittags selbst mit den 22 Reitern ausziehen zu dürfen. Nach drei Zusammenstößen mit den Tataren, von denen viele getötet wurden, und nachdem er noch fünf Soldaten Verstärkung erhalten hatte, schlug er sich durch und rettete mehrere Dörfer, die 30 und 40 Werst von der Bezirksstadt lagen. Andere wurden jedoch in entsetzlicher Weise geplündert und verheert.
Noch während meines Besuchs in diesen Gegenden gärte es dort überall, und nirgends war man seines Lebens sicher. Die Armenier waren gegen die Tataren aufgebracht und hatten vor drei Wochen in dem Tatarendorfe Gors sechzig Personen, Männer, Frauen und Kinder, ermordet und obendrein alles dort befindliche Vieh geraubt. Dieser dreiste Überfall wirkte auf Nachitschewan und andere Gegenden zurück, wo die Tataren sich nun rächen wollten. Gelegenheit dazu bot sich drei Tage nach dem Angriff auf Gors. Als eine armenische Proviantkolonne unter Bedeckung von sechs russischen, mit dem neuen Gewehr bewaffneten Soldaten unterwegs war, griffen die Tataren sie an. Die Tataren forderten die Soldaten auf, ihre Gewehre auszuliefern, da ihnen dann freier Abzug gewährt werden solle; zu ihrer Schande gingen diese auf solche Kapitulationsbedingungen ein. Die fünf Armenier aber, welche die Kolonne unbewaffnet begleiteten, wurden ergriffen und auf die fürchterlichste Weise zu Tode gemartert, nachdem man ihnen erst Nase, Ohren und Zunge abgeschnitten und die Augen ausgestochen hatte. Dieses Ereignis erregte ungeheures Aufsehen. Der Oberst der 800 aus Eriwan gekommenen Soldaten wußte, daß man ihn vors Kriegsgericht stellen würde, denn über verlorene Gewehre mußte dem Zaren direkt berichtet werden. Man versuchte den Oberst zu retten, und Enckel, der schon vier der verlorenen Gewehre wiedererlangt hatte, glaubte, daß er auch die beiden noch fehlenden werde herbeischaffen können, wenn er den Anführern der Tataren drohe und ihnen Furcht einjage.
Um dieselbe Zeit überfielen die Tataren das armenische Dorf Dscharni-dscha und trieben seine Viehherden ins Gebirge hinauf. Dabei gingen sie auf folgende raffinierte Weise vor. Sie schlichen sich in der Dunkelheit an die Viehherden heran, feuerten ein paar Schüsse ab, welche die Tiere erschreckten und nach der gewünschten Richtung hin davonjagten. Aufgestellte Reiter sorgten von den Seiten her dafür, daß die Herde in einem dichten Knäuel beisammen blieb, und während die Schützen ihr wie Bluthunde unmittelbar auf den Fersen nachsetzten, um den fliehenden Tieren die Möglichkeit zum Verlangsamen ihres Laufes zu nehmen, jagte die ganze Gesellschaft über Stock und Stein davon. Ehe die Beraubten sich noch hatten besinnen können, waren die Diebe mit ihrer Beute schon weit fort.
In Nachitschewan herrschte jetzt verhältnismäßige Ruhe, aber an andern Stellen der Umgegend fuhren die Leute fort, ein Räuberleben zu führen, zu plündern und Vieh zu stehlen. Enckel, der beim Ersticken der Unruhen eine ebenso wirksame wie mutige Rolle gespielt hat, war seines Lebens durchaus nicht sicher, sondern erhielt von Zeit zu Zeit Drohbriefe, daß er sich nicht auf der Straße sehen lassen solle. Aber seine unerschütterliche Gemütsruhe verließ ihn auch in seiner jetzigen Lage nicht; er wanderte allein in den Basaren umher, wo die Leute, denen seine Kaltblütigkeit imponierte, ihm mit der größten Achtung begegneten.
Im Jahre 1903 hatten die Armenier mit ihren an russischen Beamten verübten politischen Morden angefangen. Ihre Erbitterung richtete sich auch gegen unschuldige Opfer. Zwei Bekannte Enckels, ein Mathematiklehrer und ein Kaufmann, waren meuchlerisch ermordet worden, weil sie im Verdacht standen, den Behörden Spionendienste geleistet zu haben.
Infolge dieser gemeinen Mordtaten waren die Russen natürlich auf die Armenier erbittert, und die Tataren, die diese Animosität merkten, glaubten jetzt ein gutes, rühmliches Werk zu tun, wenn sie die Armenier, die sie übrigens aus religiösen Gründen selbst von ganzem Herzen haßten, mit Stumpf und Stiel ausrotteten. So brach denn Anfang Februar das Blutbad in Baku aus, und da die russischen Behörden, die über die Heimtücke der Armenier entrüstet waren, nicht sofort oder doch jedenfalls nur sehr gelinde dagegen einschritten, wurden die Tataren in ihrem Glauben bestärkt, daß ihre Gewalttätigkeiten ein gerngesehenes Werk seien. Am Ende Februar 1905 ging es auch in Eriwan los. Im Juni dieses Jahres war Prinz Louis Napoleon Gouverneur dieser Stadt geworden. Er ging aber nach vier Monaten wieder ab, weil er, wie man behauptete, einsah, daß nur harte Maßregeln die Ruhe wiederherstellen konnten. Da er seine Hände nicht mit Blut beflecken wollte, um sich seine Aussichten in einem andern Lande nicht zu verderben, zog er es vor den Abschied zu nehmen.
Um dieselbe Zeit, im Juni 1905, war General Ali Chanoff, der in Rußlands zentralasiatischen Kriegen eine so hervorragende Rolle gespielt hat, aus Eriwan nach Nachitschewan gesandt worden, damit er seine Landsleute, die Tataren, beruhige. Während des Monats, den er als Gast in Ragim Chans Hause in der Stadt zubrachte, hatte er eine Untersuchung über alles Vorgefallene angestellt. Enckel hatte in mehreren Dörfern die Prügelstrafe gegen die Tataren angewandt und hatte durch seine Kosaken die Aufrührer mit der Nagaika blutig schlagen lassen, eine Behandlungsweise, die wie Öl auf die Wogen gewirkt hatte. Aber Ali Chanoff, der selber Tatar war, war wütend darüber, daß ein Ungläubiger sich unterstanden hatte, Anhänger des Propheten auspeitschen zu lassen, und schickte ein ellenlanges Telegramm an den Generalgouverneur in Tiflis – eine Anklageschrift gegen Enckel. Dieser, den der Telegraphenbeamte davon benachrichtigt hatte, sandte seinerseits ein noch längeres erklärendes Telegramm an den Prinzen Napoleon, der bei dem Generalgouverneur sein Anwalt wurde. Enckel erhielt Recht, und Ali Chanoff wurde nach einem sehr negativen Erfolge seiner Mission wieder abberufen.
In der letzten Zeit waren die Armenier jedoch andern Sinnes geworden und standen jetzt, wie sie sagten, ganz auf Seite des edelmütigen Rußlands. Dieser Umschlag war eine Folge der politischen Bewegung, von der ich in Balum und Poti ein wenig miterlebt hatte und die dadurch hervorgerufen worden war, daß die Grusinier sich gegen Rußland zu empören drohten und nach der Herrschaft über Kaukasien strebten. Die Armenier fürchteten, daß Grusinier und Tataren zur Macht gelangen würden, was für sie als die in der Minderzahl befindlichen eine noch schlimmere Tyrannei mit sich bringen müßte, als sie unter russischer Oberhoheit kennengelernt hatten. Um einer solchen Lösung entgegenzuarbeiten, erschien es ihnen sicherer, auf Rußlands Seite zu stehen. Rußland wird dadurch gestärkt, daß die eingeborenen Völker wie Hund und Katze miteinander leben und mit ihrer gegenseitigen Rivalität beschäftigt sind; nur dadurch vermag die herrschende Rasse sie zu zügeln und sie in Machtlosigkeit zu erhalten. Es ist hier dieselbe Geschichte wie in Indien, wo die Bekenner der verschiedenen Religionen und die verschiedenen Maharadschas einen unversöhnlicheren Haß gegeneinander als gegen die Engländer hegen. Wenn Grusinier, Tataren, Armenier und alle die andern Völker zusammengehalten hätten, würde man in Kaukasien viel ernstere Dinge erlebt haben als die, die jetzt geschahen und die durch ihren lokalen, persönlichen und religiösen Charakter alle gefährlicheren, umfassenderen Bewegungen paralysierten. Wo auch immer ein gefährlicher Aufstand in Kaukasien gärt oder ausbricht, brauchen die Behörden nur die Mohammedaner gegen die Christen zu hetzen, um, nachdem diese gegeneinander ihre Kräfte erschöpft haben, über beide Parteien Herr zu sein. Die Berechtigung und Humanität einer solchen Politik dürfte anzuzweifeln sein, aber es ist gewiß, daß der Zustand noch zehnmal ärger werden würde, wenn die kaukasischen Stämme sich selbst überlassen blieben. Und in Indien würde dasselbe geschehen, wenn England seine Hand zurückzöge. –
Während des Ruhetags, den ich mir in Nachitschewan gönnte, unternahm ich mit Oberst Enckel mehrere Spaziergänge und Wagenfahrten in der Stadt und ihrer Umgegend. Er hatte den Aufruhr in seinem Bezirke mit großer Strenge und Energie bekämpft und mußte jeden Augenblick auf eine Kugel aus dem Hinterhalt gefaßt sein. Trotzdem aber durchschritt er die Gassen mit unerschütterlicher Ruhe, und es fiel mir auf, daß alle, Armenier sowohl wie Tataren, Christen wie Mohammedaner, ihm die größte Ehrerbietung und den größten Respekt erwiesen; wenn wir an Gruppen sitzender Männer vorübergingen, erhoben sie sich stets, um ihn zu begrüßen (Abb. 22, 25).
Junge Tatarinnen.
22. Tataren in Nachitschewan. (S. 101.)
25. Priester in Nachitschewan. (S. 101.)
Wir besuchten eine Seidenfabrik, wo ich die Gelegenheit wahrnahm, ein paar Gruppen junger armenischer Arbeiterinnen zu photographieren (Abb. 23); wir sprachen in einigen Tatarenhäusern vor, wo ich ebenfalls Gelegenheit fand, auf einigen Platten eine Anzahl noch jugendlicherer Schönheiten zu verewigen, die rabenschwarze Augen und so liebliche, reizende Gesichtszüge hatten, daß man sie sich kaum als dereinstige Mütter schwarzbärtiger Kerle, die mit gezücktem Kinschal umhergehen und Christenblut vergießen, vorstellen konnte (s. die bunte Tafel und Abb. 21, 24). Ich warf einen Blick auf den zehnseitigen Turm, der früher mit Fayencen bedeckt gewesen ist und den Meimune Chatun im Jahre 122 nach der Hedschra (744 n. Chr.) zur Erinnerung an ihren Vater hat erbauen lassen. Wir statteten dem vornehmen Tatarenfürsten Ragim Chan eine Visite ab und bewunderten die Aussicht, die man von seinem eleganten Hause aus hat. Schließlich pilgerten wir auch nach dem eigentlichen Nachitschewan oder Naktschewan, dem Grabe Noahs, nämlich der Krypta, unter deren Boden der gute Vater Noah liegen und über all den Unfug und Haß nachgrübeln soll, den seine Nachkommen seit dem Tage, an welchem er mit der Arche auf dem Gipfel des Ararat landete, im Laufe der Jahrtausende angestiftet und erregt haben. Das Grab besteht aus einer achteckigen Plattform; darunter liegt eine Krypta, in deren Mitte ein massiver Pfeiler dem aus Ziegelsteinen zusammengefügten Dach als Stütze dient. Zwei Gänge führen in die Kirche hinunter, deren Wände weißgetüncht sind. Dem Volksglauben nach hat man eine glückliche Reise und Erfolg in seinen Unternehmungen, wenn ein Stein, den man mit dem Daumen gegen den Kalkputz drückt, daran haften bleibt. Natürlich blieb mein Probestein in dem Verputz sitzen; ich drückte ihn aber auch sehr kräftig hinein! Rings um das seltsame Grab, in dessen Krypta ein Kochherd verriet, daß die armenischen Pilger sogar ihre Mahlzeiten in dem heiligen Raum einnehmen, sah man verschiedene alte armenische Gräber. Still, kahl und öde ist die Umgebung des Platzes, wo nach dem Glauben der Frommen der lebenslustige Alte schlummert; aber nicht sehr weit davon erheben sich feierlich ernste Berge, und in der Ferne thront der majestätische Ararat.
23. Armenische Arbeiterinnen. (S. 101.)
21. Tatarische Schönheiten. (S. 101.)
24. Tatarisches Mädchen. (S. 101.)
Nachitschewan ist eine unbedeutende Stadt, von deren 12 000 Einwohnern ein Drittel Armenier und zwei Drittel Tataren sind. Die Gegend erzeugt Baumwolle, Rohseide, Weizen, Reis und Weintrauben; sowohl der Handel wie der Grund und Boden sind in den Händen der Armenier. Diese spielen in Kaukasien im allgemeinen dieselbe Rolle wie die Juden in Südrußland. Sie sind verhaßt, weil sie den Verdienst an sich reißen und als geriebene, listige Wucherer die übrige Bevölkerung in wirtschaftliche Abhängigkeit bringen. Der fruchtbare Boden ist in ihre Hände übergegangen, und während sie selbst nur ihre Karten gut auszuspielen brauchen, arbeiten die anderen wie Leibeigene, um die Einnahmen ihrer Herren zu vergrößern. Man hat ihnen ihr uraltes Vaterland genommen, und im Kampf ums Dasein tun sie ihr Bestes, um unter außerordentlich ungünstigen Verhältnissen obenauf zu bleiben.
Am Morgen des 30. November frühstückte ich gemütlich mit meinem ehemaligen Landsmann, dem guten Obersten, der es übernommen hatte, alle notwendigen Vorbereitungen zur Fahrt nach dem russischen Dschulfa zu treffen. Zwei gewaltige Kaleschen fuhren vor der Haustür vor; in der einen wurde das schwerere Gepäck verstaut und festgeschnürt, während die kleineren Gepäckstücke in meinem Wagen untergebracht wurden. Die Fuhrwerke waren große, plumpe Boote, zerrissen, verbeult und auseinandergeschüttelt, das natürliche Resultat vieler Fahrten auf ungebahnten Wegen; an den Rädern und Seiten saßen noch ganze Schichten und Fladen trockenen Lehms und Landstraßenschmutzes, die ihnen einen altertümlichen, grauen Anstrich gaben. Ich bedankte mich bei meinem Wirt, überließ ihn seiner Einsamkeit mit der Bibel und den Drohungen der Eingeborenen, stieg in meine Kalesche und fuhr dröhnend und rasselnd durch den Basar, begleitet von zwei reitenden Gendarmen mit geschultertem Gewehr. Jetzt war der Handel wieder in vollem Gang, die eingeäscherten Kaufläden waren wieder aufgebaut worden, und alles sah so friedlich und gemütlich aus, daß kein Mensch auf den Gedanken verfallen wäre, diese enge Gasse sei erst kürzlich der Schauplatz blutiger Kämpfe gewesen. Von Enckel habe ich später aus Kutais einen Brief erhalten. Er teilte mir mit, daß er einige Zeit nach meiner Abreise einem Mordanfall ausgesetzt gewesen sei, den terroristische Revolutionäre gegen ihn gerichtet hätten. Er war an Kopf und Brust schwer verwundet worden und hatte auch einen Schuß durch den linken Lungenflügel erhalten. »Aber jetzt befinde ich mich, Gott sei Dank, wieder wohl«, schrieb er.