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Wie stürmisch aufgeregt und dunkel erschienen mir die Wellen des Schwarzen Meeres, als ich Ende Oktober 1905 auf einem russischen Schiffe von Konstantinopel nach Batum fuhr; wie friedlich, gastlich und freundlich waren sie aber, wenn man sie mit den Wogen verglich, die in sinnloser, haßerfüllter Wut das Meer von Menschen bewegten, das die nördliche und östliche Küste des Schwarzen Meeres bewohnt!
Der Dampfer »Swjätoi Nikolai«, der »Heilige Nikolaus«, der außer mir und ein paar andern Passagieren eine gewaltige Ladung nach Batum beförderte, schaukelte wie eine Nußschale über bergehoch sich auftürmende Fluten hin. Ich hätte kaum geglaubt, daß das Kara Denis der Türken, das Tschernoje More der Russen so bewegt sein könne. Schon an der Krim wurden wir einige Reisende los, und von Noworoßijsk an waren nur noch drei Passagiere in der ersten Kajüte, Oberst Ileschenko, Konsul Akimovitsch, der auf dem Wege nach seinem neuen Posten in Bajaset war, und der Verfasser. Während des letzten Teils der Seereise sahen wir nicht viel voneinander – die See ging zu hoch, man mußte ein Akrobat sein, um nach dem großen Salon zu gelangen, und man zog daher die horizontale Lage in seiner Kabine vor. Meine Luke liegt an Backbord; bei jedem Rollen taucht sie ein paar Meter unter Wasser, aber zwischen diesen Tauchungen sehe ich in einer Entfernung von einigen Kabellängen die Umrisse der Küste und die bewaldeten Kämme des Kaukasus, die zum Teil schon mit Schnee bedeckt sind und in eisigem Weiß in der Sonne erglänzen.
Vor Poti nimmt die Heftigkeit des Sturmes noch zu; der Himmel ist blauschwarz, und der Regen prasselt auf das Deck und gegen die Salonfenster; aber jetzt haben wir nur noch drei Stunden zu fahren. Um Mitternacht stampft das Schiff in den Hafen von Batum hinein.
Welch unangenehmes Landen! Sturzregen, Stockfinsternis, die keine Laterne durchdringt, alles still und leblos, keine Träger, keine Droschken, und – was das Allerschlimmste ist – die Nachricht, daß seit drei Tagen aller Eisenbahnverkehr aufgehört hat. Mit einem Wort: Generalstreik, der alle Gebiete körperlicher Arbeit und den ganzen Handel umfaßt.
Dennoch wagten es ein paar mutige Hafenarbeiter unter dem Schutze der Dunkelheit, gegen eine recht angemessene Entschädigung mein Gepäck zu tragen und mich nach dem nächsten Hotel zu bringen, einer wahren Räuberhöhle voller Vagabunden und Gesindel. Wenn man sie als Streikbrecher ertappe, würden sie ohne Erbarmen erschossen werden, versicherten unsere Träger, und ihre Worte enthielten, wie wir später erfuhren, keine Übertreibung.
Ich war auf der Reise nach Teheran. Aber warum in aller Welt wählte ich gerade jetzt den Weg durch Kaukasien, die unruhigste aller Ecken des großen Rußland, kann man berechtigterweise fragen. Ja, als ich am 25. Oktober Konstantinopel verließ, herrschte in Rußland verhältnismäßig Ruhe, und die Eisenbahnen waren noch in Betrieb. Mein Ziel war Tibet, und ich hatte beschlossen, zu Land nach Indien zu reisen. Nach Persiens Hauptstadt standen mir drei Wege offen: 1) Batum-Tiflis-Baku-Rescht-Teheran; 2) Batum-Tiflis-Eriwan-Nachitschewan-Täbris-Teheran und 3) Trapezund-Erzerum-Bajaset-Choi-Tabris-Teheran. Den ersten Weg kannte ich schon von früher her und wollte ihn daher vermeiden. Der Weg nach Trapezund war nach den Mitteilungen, die mir Dr. Martin von der schwedischen Gesandtschaft in Konstantinopel gemacht hatte, jetzt im Herbst durch Regen, Schnee und angeschwollene Flüsse so gut wie zerstört, und auch der persische Gesandte Mirza Riza Chan riet mir von dieser langen, anstrengenden Fahrt über die Gebirge Kleinasiens ab. Daher und um Zeit zu sparen, wählte ich den Weg über Eriwan und hätte also von Batum nur fünf Reisetage nach Tabris und vierzehn nach Teheran gehabt. Doch in den Sternen stand es anders geschrieben, und anstatt meine Reise nach der Residenz des Schahs durch diesen Weg abzukürzen, verlor ich einen halben Monat an der Küste von Kolchis. –
Wir verbrachten die Nacht im Hotel »Versal«, unserer Räuberhöhle, die Wind und Wetter offenstand, und wo Wirte wie Gäste Gefahr liefen, als Streikbrecher behandelt zu werden. Doch früh am andern Morgen zog ich ins Hotel »Frantsia«, um ein anständiges Dach über dem Kopfe zu haben. Das Hotel war geschlossen und verriegelt, das Dienstpersonal war ausgerissen, und nur der Wirt und zwei halbwüchsige Jungen hatten auf ihren Posten ausgeharrt. Ein Zimmer wurde mir freilich angewiesen, sonst aber hatte ich für mich selbst zu sorgen, so gut es eben gehen würde.
Die Bewirtung war mehr als dürftig; es gab Wein und Brot, das der Wirt auf Lager hatte, und kalten Stör, der bereits einige Tage alt war. Lebensmittel waren für kein Geld zu haben, Feueranzünden war verboten, nur der Samowar durfte morgens und abends angesteckt werden. Nicht einmal Waschwasser gab es; alle »Sutschis«, die sonst Wasser in der Stadt umhertragen, hatten mit den andern Arbeitern gestreikt, und ich mußte mich mit Mineralwasser waschen; hier herrschte ein Wassermangel wie in einer Wüste, obgleich draußen das Meer stürmte.
In der »Frantsia« wohnte auch ein grusinischer Fürst; schon am ersten Abend wurden wir die besten Freunde und »soupierten« zusammen. Er versprach mir auf Ehre und Gewissen, mich durch Grusiens Wälder und über den Surampaß wohlbehalten nach Tiflis zu bringen – offenbar weil er selbst ein Räuberhauptmann war und mit den Aufwieglern unter einer Decke steckte. Ich aber bedankte mich für seine Dienste, wozu mir meine beiden russischen Reisegefährten gratulierten, die es als selbstverständlich ansahen, daß ich ziemlich bald bis auf die Haut ausgeplündert worden wäre, wenn ich mich auf den Vorschlag eingelassen hätte. Nein, hier half nichts anderes als Geduld. Geduld! flüsterte es in den Palmen und Magnolien des Strandes, Geduld! sang die Dünung vom Meere her; ja, die Geduld eines Engels war erforderlich, um in diesem elenden Batum auszuhalten!
Bereits am ersten Tage, dem 31. Oktober, wurde ich einigermaßen über die Lage unterrichtet. Es wurde mir klar, daß es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Streik handelte, sondern um eine politische Bewegung sehr ernster Art. Die Stadt lag wie in schwerem, totenähnlichem Schlafe da, und mit Ausnahme einzelner Schüsse war es still auf den langweiligen, mit Kieselsteinen gepflasterten Straßen, wo sonst der Lärm der Droschken und Lastfuhrwerke zwischen den einförmigen, häßlichen Häuserreihen widerhallte. Alle Verkaufsläden und Geschäftslokale waren mit Fensterläden, Riegeln und Schlössern verwahrt. Ein Grusinier, der durch eine Hintertür seinen Kunden heimlich Eßwaren verkaufte, erhielt von dem Streikkomitee die schriftliche Anzeige, daß er zum Tode verurteilt sei und am nächsten Tage erschossen werde. Durch derartige Drohungen, denen blutige Taten folgen, wurde ein mustergültiger Gehorsam aufrechterhalten. Die Bürger der Stadt halten sich in ihren Häusern; nur Bummler, Gesindel aus aller Herren Länder und Spione lassen sich im Freien sehen; weibliche Wesen sieht man gar nicht, höchstens die Art, die der Hefe angehört. Volksversammlungen und Zusammenkünfte sind verboten, nur kleine Gruppen Arbeiter zeigen sich hier und dort. Vergeblich schaut man aus nach einem Pferde mit einer Last, nach einem mit Trauben beladenen Esel, einem Obsthändler oder nach einem Hausierer. Kommt eine Droschke angefahren, so ist der Kutscher ein Soldat, neben dem eine geladene Flinte liegt, und die im Wagen Sitzenden sind Offiziere. Hallen Pferdehufschläge auf dem Pflaster wider, dann sind die Reiter bis an die Zähne bewaffnete Kosaken. Alle öffentlichen Gebäude sind von Soldaten bewacht, und sowohl innerhalb wie außerhalb der Türen der Banken stehen starke Patrouillen. Als ich meinen grusinischen Portier fragte, weshalb die Eingangstür des Hotels auch bei Tag verschlossen sei, antwortete er, daß man jeden Augenblick überfallen und totgeschlagen werden könne, wenn man sich nicht in Verteidigungszustand setze. Auch hier standen einige Soldaten, die einsilbig oder überhaupt nicht antworteten, wenn man sie anredete. Zehn- bis zwölfjährige Knaben durchstreifen die Straßen; äußerlich sehen sie ganz unschuldig aus, aber in Wirklichkeit sind sie abgerichtete Spione des Streikkomitees, die alle aufschreiben und anzeigen, welche die Streikbefehle übertreten. Sogar die ausländischen Konsulate halten ihre Häuser verschlossen, und nur durch die Hintertür kann man zu den Konsuln gelangen – wenigstens war es so bei den beiden, die ich besuchte. Der eine war der schwedische Konsul, der vor kurzem nach Tiflis gereist war, um sich von dem Bisse eines tollen Hundes heilen zu lassen – hier war entschieden alles toll geworden! Bei Nobels war man jeden Augenblick darauf gefaßt, daß die Naphthareservoire angesteckt und Bomben ins Kontor geworfen werden würden, besonders seit man den Befehl erhalten hatte, den Behörden Petroleum zu liefern.
Ein Kaufmann kann nicht nach seinem Kontore gehen; tut er es, so schreiben ihn die spionierenden Burschen auf, und im besten Fall werden ihm alle Fensterscheiben eingeworfen und er erhält obendrein eine gehörige Tracht Prügel; andernfalls wird ihm brieflich angezeigt, daß er eine bestimmte Summe Geldes zu zahlen habe, wenn er mit dem Leben davonkommen wolle. Die Banken zu besuchen, galt als eine sehr riskante Sache – man lief Gefahr, auf dem Heimweg ausgeraubt zu werden. Dennoch holte ich mir von der Tifliser Handelsbank Geld auf meinen Kreditbrief und gelangte unbehelligt wieder nach Hause.
Neben dem wirtschaftlichen Streik, der, was die Eisenbahnarbeiter betrifft, eine Erhöhung des Monatslohns um 40 Prozent, von 25 auf 35 Rubel bezweckt, arbeiten die Terroristen mit unglaublicher Energie für ihre eigenen, weitausschauenden Pläne. Sie benutzen die allgemeine Unzufriedenheit und wiegeln die unkritischen Massen durch revolutionäre Reden in geheimen Versammlungen auf. Sie behaupten, daß der Zar abgesetzt und Witte Präsident der russischen Republik sei. Das Volk werde jetzt selbst die Macht an sich reißen, alles Eigentum solle gerecht verteilt werden; die Armen würden Grund und Boden und ihr sicheres Brot erhalten, Tyrannei, Autokratie und Sklaverei aber würden ausgerottet werden! Derartige Reden begrüßt die Menge, die Gold und grüne Wälder in naher Zukunft winken sieht, mit stürmischem Jubel. In jedem Menschen, den man auf der Straße trifft, kann man einen Terroristenführer oder einen seiner Handlanger vermuten. Man betrachtet einander mit mißtrauischen Blicken – alle Bewohner der Stadt scheinen auf etwas Außerordentliches, etwas Entsetzliches zu warten, das den Ungerechtigkeiten der alten Zeit mit einem Schlag ein Ende machen wird. In den Gesichtszügen der vornehmem Kaukasier – meistens Grusinier in langem, in der Taille anschließendem Rock, mit der üblichen Pelzmütze und zwei Reihen Patronenhülsen auf der Brust – liest man Befriedigung. Sie freuen sich sichtlich darüber, daß die russischen Behörden mit so ernsten Schwierigkeiten zu kämpfen haben; sie hoffen und erwarten, daß die russische Herrschaft über ihr ehemals freies Kaukasien aufhören werde, und sie sehnen sich nach der Wiederkehr eines Befreiungskampfes, wie er sich Mitte des vorigen Jahrhunderts unter der Führung des unsterblichen Schamil ruhmreich aber hoffnungslos abgespielt hat.
Der Gouverneur hat Befehl erlassen, daß sich niemand, wer es auch sei, nach 6 Uhr auf der Straße zeigen dürfe; es wäre auch ein zweifelhaftes Vergnügen, denn die Straßen sind stockfinster und man kann jeden Augenblick totgeschossen werden. Keine Zivilperson darf bewaffnet gehen. Sobald die Terroristen das Vorhandensein eines Revolvers ahnen, sind sie sofort bei der Hand und bemächtigen sich der Waffe für ihren eigenen Bedarf; sie sollen sich auf diese Weise einen ganz ansehnlichen Waffenvorrat verschafft haben. Kosaken und Soldaten haben Befehl, alle Schußwaffen, die nicht Militärpersonen gehören, unbarmherzig mit Beschlag zu belegen. An diesem 31. Oktober wurden in Batum acht Personen ermordet, darunter fünf Soldaten und ein Gendarm, und fünfzehn verwundet. Der diensttuende Chef der Polizei wurde von einer Schar überfallen und erhielt einen Schuß in die Stirn, wurde aber durch den Schirm seiner Mütze vor dem Tode bewahrt. Er hatte so viel Geistesgegenwart, daß er sich vom Pferde fallen ließ und wie tot liegen blieb, sonst hätte er noch ein paar Kugeln in den Leib bekommen. Es kam zum Handgemenge, das dreien der Angreifer das Leben kostete und bei dem mehrere verwundet wurden. Dies geschah um die Mittagszeit. Schon nach zweitägigem Aufenthalt fragt man nicht mehr viel nach dem Schießen, obgleich die Schüsse einen unangenehmen Eindruck machen, namentlich wenn sie in der stillen Nacht fallen. –
Am Abend kam es im Türkenbasar zu einem heftigen Streit. Etwa hundert Kosaken sprengten auf dem Wege dorthin unter meinen Fenstern vorbei. Eine Salve nach der andern wurde abgegeben, meistens freilich in die Luft, so daß nur wenige verwundet wurden, worauf dann der Platz mit der Nagaika, der Lederpeitsche der Kosaken, gesäubert wurde. Am selben Abend hallten von dem Geschwader 20 Kanonenschüsse wider, die krachten, daß die Fenster in ihren Rahmen klirrten – eine Erinnerung an Rußlands Macht und ein Drohen mit Bombardement im Falle blutigerer Unruhen. Die Scheinwerfer der Kriegsschiffe blitzten die ganze Nacht über die Häuser der Stadt hin; die dem Meere zugewandten Fassaden wurden glänzend beleuchtet; hier und dort schillerte ein türkisches Minaret blendend weiß über dunkeln Silhouetten. In horizontalen Strahlen gleiten diese bläulichweißen Lichtbündel mit kaltem Schein suchend über Batum – die Panzerschiffe haben ihre spähenden Augen von Feuer und Eisen auf die gärende Stadt gerichtet. Auf diese Weise wurde auch ein Teil der Finsternis in Batum erhellt, wenigstens in den Straßen, die mit den Lichtstrahlen parallel lagen.
Der schrille Ton einer Bootspfeife durchschneidet die nächtliche Stille; sie wird aus einiger Entfernung beantwortet und nach einer Weile, kaum hörbar, aus noch weiterer Ferne. Vermutlich sind es die Wächter der Ordnung, die einander benachrichtigen. Ein Schuß hallt unter meinen Fenstern wider, das Klappern von Pferdehufen verhallt, alles ist wieder still; ist noch ein Menschenleben geopfert worden? Ein friedlicher Türke aus Trapezund kam am 1. November hier an, hatte den türkischen Basar besucht und war auf dem Weg nach seinem Nachtquartier. Zwei patrouillierende Kosaken ritten am Abend an ihm vorbei und riefen ihm »Stoj« (Halt!) zu. Der Mann beschleunigte seine Schritte, vielleicht in dem Glauben, daß jenes Wort eine Aufforderung zum Schnellergehen sei. Ein zweiter und ein dritter Zuruf blieben ohne Wirkung. Nun ist der Kosak angewiesen, zu schießen, wenn der Angerufene auch der dritten Warnung nicht gehorcht. Von zwei Kugeln durchbohrt sank der Türke tot auf das Pflaster nieder.
In Gesellschaft des Obersten und des Konsuls verbrachte ich die Tage aufs beste, und manchmal machten wir aus reiner Neugier in vorgerückter Stunde Streifzüge durch die dunkeln Straßen – wenn man einen Oberst in Uniform bei sich hat, ist die Sache nicht so gefährlich. Am Abend des 1. November blieben wir länger als gewöhnlich aus, da wir den Strandboulevard besuchten. Das Meer ist ruhig, und am Ufer spielen sorglos einige Kinder, ein greller Kontrast gegen den Belagerungszustand in dieser aufrührerischen Stadt. Der Boulevard prangt in beinahe tropischem Grün, Araukarien, Magnolien und Palmen verleihen ihm ein durchaus südliches Gepräge. Der Abend ist frisch, die Luft klar und rein, ebenso das Wasser; die Mondsichel steigt über Batum auf, um vergeblich mit der Finsternis in der Stadt zu kämpfen. Hier und dort beginnt ein Stern zu funkeln. Wie eine Feuersbrunst über dem glatten Horizont des Meeres glühend, ist die Sonne eben hinter Trapezund versunken; aber sie hat noch einen brandgelben Schein hinterlassen, der sich in den Fluten des Schwarzen Meeres widerspiegelt. Überall Schweigen und Stille. Ein Dampfer bewegt sich langsam nach Trapezund hin; seine Umrisse heben sich schwarz von dem Widerschein ab, der über der Dünung zittert. Ein wunderbar schönes, fesselndes Bild, das uns einen Augenblick mit den Zuständen in dem unwirtlichen Batum aussöhnt. Im Norden zeichnet sich der Kamm des Kaukasus mit seinen Firnfeldern schwach und leicht wie ein Traum, eine Ahnung, in hellen, rosigen Farben ab; im Nordwesten verschwindet das Gebirge wie zerfließender Nebeldunst. Das Meer ist spiegelblank, die Berge feierlich wie Geister, kein Lufthauch ist zu spüren, die Stadt ist wie ausgestorben – vollständiger Friede umgibt uns in diesem Lande, wo nur die Menschen voller Bosheit sind. –
Am folgenden Tag wohnte ich einer Beerdigung bei. Ein »Gorodowoi«, ein Polizist, war erschossen worden und sollte mit militärischen Ehren begraben werden. Schwache Weihrauchwolken drangen aus dem geöffneten Portal der kleinen Kirche und ließen die ganze Feier wie aus einem mystischen Nebel hervortreten. Ohne jeden Blumenschmuck stand der silberweiße Sarg zwischen brennenden Kandelabern, bärtigen Priestern und Chorsängern, welche die ergreifende Beerdigungshymne »Gospodi pomilui« mit tiefem Basse anstimmten. Endlich war die Feier beendet, und der Mann, der auf seinem Posten den Tod gefunden hatte, sollte zu Grabe geleitet werden. Der Zug setzt sich in Bewegung; voran schreitet ein Geistlicher mit einem großen Kruzifix, der zweite trägt einen Kranz, der dritte und der vierte balancieren eine Heiligenfahne, darauf folgt der Pope, ein kleines Kreuz in der Hand, und dann kommt der Sarg, den höhere Offiziere, darunter auch der Gouverneur General von Parkau, zu Grabe tragen. Hinter der Bahre gehen die Leidtragenden und Freunde, eine Kompagnie Soldaten und zwei Musikkorps, die abwechselnd Trauermärsche spielen, eintönige, schwermütige russische Musik, aber poetisch, ergreifend; wunderbar schön hallt sie in der stillen Straße, wo alles Leben erstarrt ist. Als letzte im Zuge folgt eine Abteilung reitender Kosaken, und auf beiden Seiten der gaffende Pöbel, zu dem auch ich gehöre. Wer war der Tote? Sühnte sein plötzliches Ende ein begangenes Verbrechen? Nein, er war unter Tausenden ein Opfer eines veralteten Systems, das wohl ebenso wie er auf dem Wege zum Grabe ist.
Bald verließen der Gouverneur und die übrigen Offiziere ihre Plätze hinter dem Sarge, die nun von Kameraden des Toten eingenommen wurden. An einer Straßenecke wartete ein Wagen; der Gouverneur stieg mit einem Adjutanten ein, und der Wagen fuhr in fliegender Eile davon, so schnell, daß nur sehr sichere Schützen die Fahrenden hätten treffen können. Langsam und feierlich schritt der Leichenzug die Straße hinab, die Klagetöne der Musik wurden schwächer, und schließlich verschwanden die letzten weißen Uniformen in der Ferne.
General von Parkau war die personifizierte Liebenswürdigkeit und zeigte inmitten all der Unruhe, die ihn umgab, eine großartige Gemütsruhe. Seine charmante Gemahlin und feine liebenswürdigen Töchter schwebten jedoch in beständiger Angst um sein Leben und verließen ihn nicht einmal, wenn er, mit Arbeit überhäuft, in seinem Amtszimmer weilte. Er war einer der Männer, die mit kalter Ruhe auf ihrem Posten zu sterben wissen. Er war in weit höherem Grade als irgendein anderer der Gefahr ausgesetzt, denn während eines Generalstreiks richtet sich der Haß natürlicherweise ganz besonders gegen das Militär und die die Ordnung wahrende Behörde, jene beiden Kräfte, die der Anarchie und der Pöbelherrschaft entgegenarbeiten.
Am 3. November endlich ein Lichtblick in meiner Gefangenschaft! Ich erwachte von dem Lärm auf der Straße, Iswoschtschiks (Kutscher) und Arbeitswagen waren unterwegs, Ochsenkarren rasselten über die Pflastersteine, Kaufleute und Wasserträger gingen auf der Straße, Perser liefen mit Teppichen auf dem Rücken umher, Tataren boten ihren Kram in Tragkörben aus, Grusinier verkauften Weintrauben, Wassermelonen und andere Früchte und priesen ihre Waren mit gellenden Ausrufen an, Bettler zeigten sich in größerer Anzahl als sonst – alle sahen vergnügt und zufrieden aus, waren sie doch dieses nutzlosen Streiks herzlich müde. Das Hotelrestaurant war voller Gäste, die sich auf dem erhöhten Trottoir vor dem Hotel unter einem Zeltdach an kleinen Tischen niedergelassen hatten, um sich an dem neuerwachenden Leben und Treiben zu erfreuen, das unter solchen Umständen jedem anziehender erschien als ein Karneval! Unglücklicherweise ist heute gerade »Prasdnik«, der Jahrestag der Thronbesteigung des Zaren, und, was noch schlimmer ist, morgen haben wir einen der großen Festtage der russischen Kirche, das Fest der »Muttergottes von Kasan«, übermorgen aber ist Sonntag. Es ist wirklich Pech, daß drei Festtage unmittelbar auf die sechs Streiktage folgen müssen! Viele Kaufleute hielten jedoch ihren Laden offen, und man konnte alles bekommen, was man zu erhalten wünschte. Ganz Batum hatte geflaggt, und die Garnison zog mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel in die Kirche, wo aus Anlaß des wichtigen Tages Gottesdienst abgehalten wurde. Aber das, was mir das Allerwichtigste war, der Bahnverkehr war noch in dasselbe Dunkel gehüllt wie bisher, und niemand hatte auch nur eine Ahnung, wann ein Zug nach Tiflis abgehen würde. Allerdings konnte ich jetzt umherfahren und mir die kaukasisch-levantinische Ausstellung verschiedenartigster Volkstypen besehen, die sich auf den Straßen bewegte und bei der die hohen, breitschulterigen Grusinier und die Imeretiner in ihren kleidsamen Trachten, die den harmonischen Körperbau zu vollem Rechte kommen lassen, den Schönheitspreis verdienen.
Mir aber war es jetzt nur darum zu tun, nach Tiflis zu gelangen. Wie wir auch warteten, die Eisenbahnstation lag immer noch ebenso tot und verlassen da und wurde noch ebenso unerbittlich von Militär bewacht wie in den letzten Tagen. Die über den Rion führende Brücke war gesprengt, und das Bahngeleise an mehreren Stellen aufgerissen. Eine Abteilung Pioniere nach der andern wurde zur Ausbesserung der Bahnlinie sowohl von Batum wie von Tiflis abgesandt, doch während man an einer Stelle arbeitete, wurden die Schienen an einer andern aufgerissen! Als man von Kutais einen großen Militärzug nach Poti schickte, entgleiste er schon, als er die erste Station noch nicht erreicht hatte. Dreiundzwanzig Personen wurden getötet oder schwer verletzt. Die Bahn war hier auf sehr schlaue Weise unfahrbar gemacht worden. Das Geleise lag, wie es sollte, und alles schien in schönster Ordnung zu sein, aber auf einer über 200 Meter langen Strecke waren die eisernen Krampen, mit denen die Schienen an den Schwellen befestigt sind, entfernt worden. Die Lokomotive und die ersten Wagen passierten die Stelle ohne Beschädigung, der übrige Zug aber wurde zertrümmert.
Unter solchen Verhältnissen versprach meine Reise nach Tiflis nicht besonders angenehm zu werden; aber ich war fest entschlossen, mich dessenungeachtet dorthin zu begeben. Täglich liefen Berichte ein, daß Pioniere während der Arbeit von den Aufrührern überfallen worden seien und daß blutige Zusammenstöße stattgefunden hätten. Die ersten Züge, die nach Tiflis abgingen, sollten mit starker Bedeckung gefahren werden, und man erzählte, daß aus Tiflis 5000 Mann zum Schutze der Bahnlinie abgegangen seien.
Am Abend des 4. November besuchte ich wieder den Gouverneur, der erklärte, daß in drei Tagen wahrscheinlich ein Zug werde fahren können, daß er aber lange unterwegs sein werde und daß bei allen zerstörten Strecken und gesprengten Brücken umgestiegen werden müsse. Um ganz sicherzugehen, telephonierte er noch an den Oberingenieur der Bahn und erfuhr, daß die Verbindung zwischen Poti und Kutais wiederhergestellt sei und man aller Wahrscheinlichkeit nach werde von Kutais nach Tiflis kommen können.
Ich beschloß daher sofort, mit dem Dampfer, der am selben Abend nach Odessa ging, nach Poti abzufahren. Der Gouverneur war so freundlich, mich mit einem Dokument zu versehen, das mich berechtigte, mit dem ersten besten von Poti abgehenden Militärzug zu reisen. In fliegender Eile suchte ich meine beiden russischen Reisegefährten auf; wir hatten nur eben noch Zeit, unsere Sachen zu packen, unsere Rechnung zu bezahlen und an Bord zu eilen, bevor der Dampfer auf das dunkle Meer hinaussteuerte.