Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Gerade während meines kurzen Aufenthalts in Bajaset erhielt der persische Konsul die Nachricht, daß 1500 Mann bewaffneter Kurden und Türken bei der Zollstation Kasli-göll in Persisches Gebiet eingefallen seien, um, wie es hieß, sich dafür zu rächen, daß Perser sich auf der türkischen Seite ebensolche Freiheiten herausgenommen hatten. Der Konsul bat mich, in Tabris den Waliad, den Kronprinzen, von den Unruhen an der Grenze zu unterrichten und zugleich ja nicht zu vergessen, ihn selbst aufs beste zu empfehlen – durch Protektion und Nepotismus erklimmt man im Lande der Sonne und des Löwen die Zinnen der Macht. Indessen hatte ich keine direkte Veranlassung, mich mitten in plündernde kurdische Horden hineinzubegeben, und änderte auch meinen ursprünglichen Plan nicht, den drei Tage kürzeren Weg über Dschulfa nach Tabris einzuschlagen.
In Begleitung des Zollbeamten Kostsinitsch verließ ich am 26. November das gastfreie Konsulat, auf dessen Dach die russische Fahne stolz in der Sonne flatterte. Schnell ging es bergab, und wieder schimmerte der blendend weiße Gipfel des Ararat zwischen den Hügeln hervor. Eine richtige Straße ist nicht vorhanden, nicht einmal Wagengleise sind zu sehen. Jetzt bestand meine Eskorte nur noch aus zwei türkischen Kavalleristen, und auch diese sollten an der Grenze umkehren. Sie nützten mir gar nichts, hatten vom Wege keine Ahnung, und wußten nicht einmal, wie die Dörfer hießen.
Nachdem wir einen die Aussicht verdeckenden Bergrücken hinter uns haben, steigt rechts von unserem Wege näher als je zuvor der Ararat in seiner ganzen Größe auf. In Kara-bulak erreichen wir die türkische Zollstation, wo ein gebieterischer Herr sich wichtig machte und erklärte, daß er mein sämtliches Gepäck untersuchen müsse. Er beruhigte sich jedoch schnell, als er meine Papiere geprüft hatte, und begnügte sich damit, den Arbaleuten anderthalb Pfund (28 Mark) als Faustpfand abzunehmen, um sicher zu sein, daß sie nicht auf die russische Seite hinüberfuhren. Der Kutscher des einen Lastwagens, ein Armenier, mußte in Kara-bulak bleiben, denn Armenier werden überhaupt nicht über die Grenze gelassen, weder in der einen, noch in der anderen Richtung.
Noch schwebt die Rauchwolke aus Bajasets Schornsteinen graublau über der kleinen Stadt, die fern im Süden sichtbar ist, während das Land im Osten, nach der persischen Grenze zu, ganz flach und offen aussieht. Der Anstieg nach dem Grenzpaß beginnt; zu beiden Seiten unseres Weges zeigen sich kurdische Hirten mit ihren Schafen. Bereits im Anfang des Weges sind die Abhänge mit Tuffschutt bestreut; je höher wir hinaufgelangen, desto schlimmer wird es, und schließlich liegen große vulkanische Blöcke so dicht, daß es nicht mehr möglich ist, zwischen ihnen hindurchzukommen. Auf horizontalem Boden über Steinblöcke zu fahren, ist schon ein mühevolles Unterfangen, aber auf steilen Abhängen ist es Wahnsinn. Es war mir ein vollkommenes Rätsel, daß die Fahrzeuge bei der Strapaze, die hier unser wartete, überhaupt aushielten. Die Pferde stemmten sich an und arbeiteten sich mit allen Kräften vorwärts; aber kaum hatten wir eine kleine Strecke zurückgelegt, so rissen die Zügel des einen Seitenpferdes, und während sie wieder zusammengeknüpft wurden, folgte ich zu Fuß den Lastwagen. Der eine Gepäckwagen war im Begriff, umzuwerfen, als es auf diesem unglaublichen Terrain etwas zu schnell vorwärtsging. Meine wertvollen Instrumente schwebten zwischen Himmel und Erde, und eigentlich ist es ein Wunder, daß bei einer solchen Fahrt nicht alles zerschlagen und zermalmt wird. Auf und nieder über Steine und Blöcke, über Felsplatten und in tückische Gruben hinein; die Wagen knirschen und knacken und schaukeln wie Schiffe bei hohem Seegang.
Endlich sind wir droben bei der Steinpyramide, die die Grenze zwischen Rußland und der Türkei bezeichnet. Hinter und unter uns im Süden sehen wir jetzt die Ebene mit ihren Morästen und blauen mit Schilf bewachsenen Seen auf gelbem Grund.
Tschingil heißt die russische Grenzwachstation, wo 18 Kosaken und zwei Zollbeamte die Kontrolle besorgen. Auch hier gibt es einen kleinen, mit Schilf bewachsenen See; in seiner Nähe liegt das Kurdendorf Dschilli. Die erste Strecke abwärts ist steinig und flach, beim fünften Werstpfahl aber geht es fast kopfüber hinunter. Man erstaunt über diese ungeheure Steilheit und fragt sich, wie es möglich sei, solche Wände hinunterzufahren. Die Aussicht über das Tal des Aras oder Araxes reicht außerordentlich weit. Im Norden erhebt der Alagös seinen 4104 Meter hohen, glockenförmigen Kegel; auch er ist ein erloschener Vulkan mit schwefelhaltigem Krater und scharf begrenzter Schneelinie.
Es wird dämmerig; die Schatten über den Bergen gleiten schnell über die Abhänge und klettern langsam an den südlichen Hängen des Alagös hinauf. Langsam und vorsichtig rollt die Droschke in den Kehren bergab. Schakir hält die Pferde fest in den Zügeln; er sitzt wie auf Nadeln, und die Pferde stemmen die Vorderfüße in kurzen Abständen auf, um den Wagen zurückzuhalten.
Es wird dunkler und frischer. Schon umgibt uns undurchdringliche Nacht, als wir im Dorfe Argow vor der Zollstation halten, deren Vorsteher mich mit größter Gastfreundschaft empfängt und mich bittet, bei ihm ein Glas Tee zu trinken, ehe ich weiterfahre, denn bis Igdir seien es noch 18 Werst. Unterdessen läßt er zwei Reiter der Grenzwache ihre Pferde satteln, und als es von neuem weitergeht, reitet der eine mit einer Laterne an der Spitze und der zweite hinter den Lastwagen, um aufzupassen, daß nichts herunterfällt. Jetzt geht es flott vorwärts, denn der Weg ist gut, die Sterne funkeln hell, aber Dörfer und Gehöfte kündigen sich in der Dunkelheit nur durch eine Schar Hunde an, die mit wütendem Gebell auf unsere Wagen losstürmen.
Endlich sind wir in Igdir, und ich mache es mir in einer leidlichen russischen »Gostinnitsa« (Gastwirtschaft) gemütlich, besuche den »Ujäsdnij Natschalnik«, den Bezirkschef, einen liebenswürdigen Hauptmann, und esse mit ihm und seiner Familie zu Abend.
Am Morgen des 27. November nahm ich Abschied von Schakir, der mich von Erzerum her so gut gefahren hatte, und von den beiden anderen Kutschern; sie halten in Bajaset einen Paß zum Überschreiten der Grenze erhalten, fürchteten sich aber entsetzlich vor den Armeniern auf der russischen Seite. Sie erhielten ein schönes Trinkgeld, und ihre Dankbarkeit war groß, als es mir gelang, ihnen die Erlaubnis zu erwirken, daß die beiden russischen Soldaten sie noch bis an die Grenze geleiten dürften. Schakir glaubte, der Zollschnüffler in Kara-bulak werde im Leben nicht die anderthalb Pfund herausgeben, die er als Sicherheit für ihr Wiederkommen genommen hatte. Ich schrieb daher an den französischen Vizekonsul in Erzerum, daß der Zollbeamte in diesem Fall gezwungen werden müsse, seine Pflicht zu tun.
Igdir hat 6000 Einwohner und 800 Häuser; es verlockte mich nicht zu längerem Aufenthalt, als unumgänglich nötig war. Mit drei Wagen und neun Pferden verließ ich das Städtchen und fuhr die vortreffliche Chaussee entlang, die zur Eisenbahn führt. Die Wanderer und Landleute, denen mau hier begegnete, sind größtenteils Tataren, aber der Blick fällt auch auf Kurden und Kaukasier, die man an ihren charakteristischen Trachten leicht erkennt.
Bei dem armenischen Dorf Markara überschreiten wir den Araxes auf einer eisernen Brücke mit hölzernen Bohlen. Um diese Jahreszeit sieht der Fluß recht klein aus und er scheint nicht gewachsen zu sein, seitdem wir auf der alten Spitzbogenbrücke in Köpri-köi über ihn gegangen sind; seine trüben Wassermassen ringeln sich langsam nach dem Kaspischen Meere hinab.
Wir nähern uns einer großen Handelsstraße, das sieht man sehr deutlich an dem lebhaften Verkehr, den kleinen Kamelkarawanen, den mit Salz und anderen Waren beladenen Fuhren, die nach der Eisenbahn gehen, den immer dichter liegenden Höfen und den Gärten, die von Lehmmauern eingefaßt sind. Eine kleinere Brücke führt uns über den Kur Arax, den »trockenen Araxes«, einen Arm, der früher den ganzen Fluß enthalten hat, in dem jetzt aber nur noch ein Streifen klaren, stagnierenden Wassers stand. In der Nähe des Tatarendorfes Kalchun erreichen wir die Eisenbahn bei der Station Etschmiadsin.
Es war erst 10 Uhr, und da der Zug nach Nachitschewan vor 3 Uhr nicht abging, hatte ich Zeit, dem berühmten Kloster Etschmiadsin einen wenn auch nur flüchtigen Besuch abzustatten. Einer der Wagen aus Igdir übernahm es, mich dorthin zu befördern. Wir wollten gerade abfahren, als sich zwei grusinische Kaufleute, die im Klosterdorf einen Weinkeller hatten, einstellten und mich baten, sie doch mitzunehmen, da sie sonst keine passende Fahrgelegenheit dorthin finden könnten. Sehr gern; sie konnten mit ja als Ciceroni nützlich werden und mir erzählen, was sie von den in Kaukasien herrschenden Verhältnissen wußten. Zunächst weihten sie mich in ihre Privatangelegenheiten ein und erzählten mir, daß sie Besitzer großer Weingärten in dieser Gegend seien. Der Wein, der an Ort und Stelle 10 Kopeken (21½ Pfennig) die Flasche koste, werde nach dem europäischen Rußland exportiert und habe ihnen sonst durchschnittlich einen Jahresgewinn von 12 000 Rubel eingebracht, in diesem Jahre aber werde die Einnahme infolge der Streiks 8000 nicht übersteigen.
Unterdessen fuhren wir durch angebaute Gegenden mit lebhafter Tätigkeit und durch öde Striche, wo der Boden brach lag. Endlich erhoben sich Etschmiadsins Kirchtürme und Klostergebäude vor uns, und wir hielten vor dem Hauptportal. Hier sagte ich meinen zufälligen Reisegefährten Lebewohl und wurde von einem Armenier in einen großen Hof geführt, auf dem ein liebenswürdiger Mönch mich willkommen hieß und sich erbot, mir soviel zu zeigen, als sich in der Zeit von einer Stunde besichtigen ließ.
Etschmiadsin, »wo der eingeborene Sohn herabstieg«, wurde im Jahre 301 von Gregor, dem Apostel Armeniens, gegründet; im Jahre 1441 wurde es Sitz des Katholikos, des Patriarchen der armenisch-gregorianischen nichtunierten Kirche und des Heiligen armenischen Synod. Das Kloster zerfällt in drei Teile, deren jeder seine Kirche hat – daher der gewöhnliche türkische Name Ütsch-kilisse, die drei Kirchen –, und wird teilweise von einer Festungsmauer mit Türmchen umgeben. Im Innern der vornehmsten Kirche, der Kathedrale, zeigt ein auf vier Säulen ruhendes kleines Tabernakel die Stelle an, wo der Heiland im Jahre 301 aus dem Himmel herabstieg, sich dem Apostel Gregor, der den König Tiridates für das Christentum gewann, offenbarte und den Platz bestimmte, wo die Kirche erbaut werden sollte. Sie ist in Kreuzesform mit einer Kuppel in byzantinischem Stil erbaut, und ihre innere Ausstattung ist sehr einfach und prunklos.
Der schwarzgekleidete ernste Mönch, der mich umherführte, erzählte mir, daß das Kloster jetzt nur 35 Mönche habe, welche die Regeln des heiligen Basilius befolgten. Der Katholikos, ein 85jähriger Greis, der augenblicklich in Tiflis weilte, war offenbar Gegenstand großer Verehrung; wohin man auch kam, sah man sein Bild. Etschmiadsin hat eine geistliche Hochschule, eine Schule, eine Buchdruckerei, eine Bibliothek und Wohnhäuser für Pilger, denn jeder Armenier muß wenigstens einmal in seinem Leben eine Wallfahrt nach diesem Kloster machen. Auch ein Museum ist hier, durch das ich einen eiligen Rundgang machte.
Dem Museum gerade gegenüber liegt in demselben Gebäude die Bibliothek, die sehr wertvolle Manuskripte in armenischer Sprache enthält. Die kostbarste Nummer soll eine Bibel aus dem 10. Jahrhundert auf Pergament sein; sie ist in Elfenbeindeckel eingebunden, die im 4. Jahrhundert geschnitzt worden sind. Mitten im Bibliotheksaal sind auf einem langen Tische Handschriften und Urkunden ausgestellt. An diesem Tische sitzen, wie man mir sagte, gelehrte Gäste oft ganze Tage lang, um in den Schützen der Bibliothek zu blättern. Gegenwärtig war niemand da außer dem Herrn Bibliothekar, einem hochgewachsenen, schwarzhaarigen Mönch, der angenehm aussah und eine schwarze Kutte trug. Mit großem Eifer wollte er mich auf die Photographie dreier mit Gewalt erbrochener Kassenschränke aufmerksam machen, ein Bild, bei dem man es entschieden darauf angelegt hatte, Sensation zu erregen, und zu dem er mir folgende drastische Erklärung gab, für deren Richtigkeit ich jedoch nicht bürgen möchte.
Im Jahre 1903 hatte der Generalgouverneur von Kaukasien verlangt, daß der Klosterschatz von Etschmiadsin, der beinahe eine halbe Million Rubel betrug, nach Tiflis geschickt werden solle, um von nun an von den russischen Behörden verwaltet zu werden. Dies sollte nicht geschehen, um das Kloster seiner klingenden Schätze zu berauben, denn die Zinsen des Kapitals sollten den Mönchen, sobald sie ihrer bedurften, zur Verfügung stehen. Aber die Mönche und die Archimandriten weigerten sich, ein solches Verfahren anzuerkennen und die Schlüssel zu den Kassenschränken auszuliefern. Da ließ der Generalgouverneur die Schränke mit Gewalt öffnen und den Schatz nach Tiflis bringen, eine Tat, die in ganz Armenien die größte Erbitterung hervorrief und zum größten Teil die zahlreichen Attentate veranlaßte, die in den beiden letzten Jahren von Armeniern gegen russische Behörden begangen worden sind. Der neue Generalgouverneur ließ die Klosterkasse wieder nach Etschmiadsin zurückbringen, und damit beruhigten sich die Armenier.
Vor der Hauptkirche erhebt sich ein sehr schöner Denkstein aus Marmor auf dem Grabe eines Sir MacDonald, der 1830 in Tabris gestorben ist. Etschmiadsin wurde im Jahre 1827 während des Perserkriegs von Paskewitsch erobert und ist seit dem Frieden von Turkmantschai im Jahre 1828 russisch geblieben.
Die Stunde war bald verronnen, und wenn ich den Zug, der nur dreimal wöchentlich nach Nachitschewan geht, nicht verpassen wollte, mußte ich den freundlichen Mönchen eiligst Lebewohl sagen und das alte Kloster, das mich enttäuscht hatte, verlassen. Eine Stunde vor Abgang des Zugs langte ich auf dem Bahnhof an. Es wird wohl noch Zeit genug sein, das Gepäck aufzugeben und seine Fahrkarte zu kaufen, dachte ich. Aber im ganzen Bahnhofsgebäude war weiter niemand als der Telegraphenbeamte und der Restaurateur; der Stationsvorsteher fand sich, ein wenig angesäuselt, erst im letzten Augenblick ein und erklärte mir mit verblüffender Arroganz, daß es viel zu spät sei, soviel Gepäck noch unterzubringen. Ich setzte ihm auseinander, daß ich rechtzeitig auf dem Bahnhof gewesen sei, daß er nicht berechtigt sei, seinen Posten zu beliebiger Zeit zu verlassen und daß ich ihn bei seinen Vorgesetzten in Tiflis anzeigen wolle, wenn er nicht dafür sorge, daß ich mit diesem Zug abreisen könne, der an den Zug aus Uluchanlu, welcher am nächsten Morgen nach Nachitschewan gehe, Anschluß habe. Aber der Mann war ein Flegel und beantwortete meine Drohungen damit, daß er dem Zug das Signal zum Abfahren gab. Der Telegraphenbeamte, der samt dem übrigen Bahnhofspersonal mit dem Stationsvorsteher auf dem Kriegsfuße stand, teilte mir indessen mit, daß schon nach einer Stunde ein Güterzug in derselben Richtung abgehen werde, und ich bestach nun das Personal, mich und mein Gepäck bis Uluchanlu mitzunehmen.
Dieses Spitzbubennest erreichten wir in der Dunkelheit. Hier gab es nicht einmal ein Loch, in dem man unter Dach und Fach hätte kommen können. Der Stationsvorsteher, ein kaukasischer Bandit, war nett und freundlich und überließ mir einen Eisenbahnwagen zweiter Klasse als Nachtquartier, erklärte aber, daß er für mein Gepäck keine Verantwortung übernehmen könne, da hier kein Güterboden sei und alles, was nicht niet- und nagelfest sei, gestohlen zu werden pflege! Es blieb mir nichts anderes übrig, als wiederum einige russische und grusinische Arbeiter mit zehn Rubeln zu bestechen, damit sie die Verantwortung für das Gepäck übernähmen, das nun die Nacht über in ihre Behausung gestellt wurde, wo Gesindel und Weibervolk ein schreckliches Leben führten. Dann führte mich ein russischer Stationsdiener nach meinem Abteil, das muffig, alt und schmutzig war und in welchem es, wie er mir zur Vorbereitung sagte, entsetzlich viele Wanzen gab. Zwei Stunden leistete er mir noch Gesellschaft und unterhielt mich sehr gut mit seinen liberalen Ansichten und seinen haarsträubenden Beschreibungen der Gemetzel und Bombenattentate in Tiflis, wo er damals gewesen war und eine Schußwunde in das eine Bein als Andenken an jene Zeit erhalten hatte.
Als er endlich mit seiner trüben Laterne abzog, riet er mir, meinen Abteil von innen abzuschließen; er werde mit dem Schlüssel wiederkommen, »denn hierzulande ist niemand sicher«, meinte er, »und daß Sie Geld haben, kann man sich schon denken«. Allerdings bewachten Gendarmen die auf dem Gleise stehenden Wagen, aber man könne doch nie wissen, was geschehen werde, und gestern abend erst hätten einige Spitzbuben gerade in der Zeit, als die Gendarmen zum Teetrinken gegangen seien, die Gelegenheit benutzt, um durchs Fenster in einen Wagen einzubrechen und eine Kasse zu stehlen, in der glücklicherweise nur 70 Rubel gewesen seien. »Daher ist es besser, wenn man sich einschließt«, meinte er, verschwand in der Dunkelheit und kam – überhaupt nicht wieder.
Ich installierte mich so gut es ging in dem Abteil, las eine Weile im Liegen bei einem qualmenden Talglicht und schlief dann ruhig auf dem Sitze ein, den Revolver neben mir. Leise tappende Schritte waren dann und wann neben und unter dem Wagen hörbar, und einmal kletterte jemand vorsichtig auf die hintere Plattform. Um Mitternacht kamen zwei Männer mit einer Laterne herein und ließen sich ebenso häuslich nieder, wie ich es getan hatte; es waren Passagiere, die auch nach Nachitschewan wollten. Nachtruhe fand ich daher eigentlich nicht, und sobald der Tag graute, erhob ich mich, stieg aus, ging auf dem Bahnsteig auf und nieder und ergatterte an einem im Freien aufgestellten Büfett ein Glas Tee mit Brot, »Sakuska« und Weintrauben. Es reute mich jetzt eigentlich, daß ich nicht direkt nach Persien hineingegangen war und daß ich die Grenze Kaukasiens – wenn es auch nur die alleräußerste war – berührt hatte und daher in einem Zipfel dieses Landes verweilen mußte, den lauter Abenteurer und Gesindel bevölkerten.