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Sechstes Kapitel.
Ein Hochland mit Abfluß nach drei Meeren.

Man wundert sich, noch so nahe der Küste das kontinentale Klima so deutlich ausgeprägt zu finden. Der Abend war klar und ruhig, und als ich am 18. November um 7 Uhr aufbrach, nachdem ich gründlicher als gewöhnlich ausgeschlafen hatte, zeigte das Thermometer – 0,5 Grad. Es schwebten aber schon leichte Wölkchen über der Erde und zogen gerade ihre Morgenmäntel von glänzendem Gold an; sie dienten einer großen Karawane persischer Dromedare und Kamele, die der Reif mit weißen Decken geschmückt hatte, als prächtiger Hintergrund. Auch der Erdboden schillert weiß, und seine oberste Schicht ist gefroren, aber so dünn, daß man noch weich fährt. Wir folgen dem Euphrat an seinem linken Ufer aufwärts, nachdem wir ihn auf einer Brücke überschritten haben, die auf vier kistenähnlichen steinernen Pfeilern ruht. Er heißt hier Kara-su und mochte wohl 5 Kubikmeter Wasser in der Sekunde führen. Die Ufer haben keinerlei Vegetation, und das ganze, schwach hügelige Land ist öde und unfruchtbar. Am rechten Ufer liegt Jagdarisch, ein Dörflein am Fuße einer Bodenerhebung; ein anderes weiter oben heißt Karabijik.

Wieder bringen wir eine unübersehbare Karawane, die nach Persien will, in Unordnung; die Tiere werden von dem Geklapper, das sich ihnen von hinten her nähert, ängstlich und trotten in wiegendem Schritt nach der Seite. Soweit der Blick auf dem flachen Terrain reicht, ist die Straße gedrängt voller Kamele und Dromedare; sie scheinen die Landschaft ganz zu beherrschen und verschwinden, klein wie Punkte, in der Ferne. Es kostete ziemliche Zeit, an diesen 272 Kamelen, die von 38 Tataren geführt wurden, im Schritt vorbeizufahren. Aus der Entfernung hörte man das gemeinsame Läuten ihrer Glocken wie einen zitternden Ton himmelan steigen. Während wir an ihnen vorbeifuhren, betäubte uns das Getöse und Geklingel aller dieser Glocken, und dann verhallten die Töne wieder hinter uns.

Bei dem Dorfe Aghamed verbindet eine hübsche Brücke mit zwei Pfeilern die beiden Flußufer. Sowohl zur Rechten wie zur Linken ziehen sich schneebedeckte Bergrücken hin, und in dem flachen Lande zwischen ihnen, wo die Gehöfte leicht zu zählen sind, breiten sich frischgepflügte Felder aus.

In Ilidscha entspringen, wie der Name besagt, heiße Quellen; über ihnen ist ein Badehaus errichtet. In dem einzigen mir zugänglichen seiner drei Becken hatte das Wasser eine Temperatur von 37 Grad; in den beiden andern badeten gerade Frauen. Das klare Wasser dampfte, und über dem ganzen Felde ringsumher lag ein heller Nebel, der aus der Ferne einem See ähnelte.

Vor uns erscheint jetzt in der Ferne unter einem kleinen, weißen Kamme die Stadt Erzerum. Man sieht sie wie eine Insel in der öden Landschaft vor sich liegen, man fährt über lauter einsame Felder und nähert sich ihr langsam. Doch nichts gibt ihre Nähe kund, kein nennenswerter Verkehr, keine Nachbardörfer und Gärten. Jetzt unterscheidet man schon die Häuser, die Minarets und eine kleine Anzahl Bäume, und endlich passieren wir ihre doppelten Wälle und den dazwischen liegenden Graben und werden von einer Polizeiwache angehalten, die meinen türkischen Paß prüft. Durch enge Gassen, wo man im Schmutz hätte ertrinken können, erreichen wir den Meidan mit seinem bunten Leben, seinen Ochsenkarren, seinen Läden und seiner Menschenmenge.

In Erzerum lebte ich in Gesellschaft der Konsuln wie ein Europäer. Mein Kutscher Mehemet war angewiesen, vor dem Tore des französischen Konsulats zu halten. Hier wurde ich mit größter Gastfreiheit von dem Vizekonsul Herrn Srabian empfangen, einem Armenier, der während der Urlaubszeit des Konsuls die Geschäfte Frankreichs besorgte; der französische Konsul war Herr Grenard, derselbe, der mit dem unglücklichen Dutreuil de Rhins Tibet durchreist hatte. In Herrn Srabians großer Kanzlei wurde mir ein gemütliches Zimmer angewiesen. Nach einer sehr notwendigen, gründlichen Auftakelung meines äußern Menschen besuchte ich den russischen Generalkonsul Skriabin, den englischen Konsul Shipley und den Generalgouverneur oder Wali des Wilajet Erzerum, Nazim Pascha, einen vollendeten Gentleman, der ausgezeichnet Französisch sprach und aus Konstantinopel Befehl erhalten hatte, mich auf der Reise durch die unsichern kurdischen Grenzgegenden mit einer Eskorte von sechs Kavalleristen zu versehen. Während ich bei ihm saß, machte der persische Konsul mit seinen beiden Sekretären eine Visite; ich hatte dadurch Gelegenheit, die Bekanntschaft dieses Würdenträgers zu machen, dessen Visum auf meinem Passe von großer Bedeutung war. Dann sprach ich bei den amerikanischen Missionaren und ihrem Arzte vor und bat diesen, sich meines verwundeten Arabatschi anzunehmen, dessen Kopf nach der Schramme, die ihm der eskortierende Kavallerist beigebracht hatte, wie bei einer Blutvergiftung angeschwollen war.

Mit Herrn Srabian als Cicerone unternahm ich während des Ruhetags eine Fahrt durch die engen, malerischen und eigentümlichen Straßen der Stadt, deren tiefer Kot mit Abfall aus den Häusern vermischt war und wo, wie dies in Konstantinopel bis vor kurzem der Fall war, die Straßenreinigung nur durch herrenlose Hunde besorgt wird. Kein Grün, keine Gärten, nur hin und wieder eine einsame Pappel oder Weide unterbricht die Mosaik solider Steinhäuser und platter Dächer der Stadt Erzerum. Aus der Araberzeit ist das Tschift-minareh ein prachtvolles Denkmal mit seiner »Pischtak«-Fassade und zwei kannelierten Türmen; die Hauptmoschee Uli-Dschami ist eine alte griechisch-orthodoxe Kirche, welche die mohammedanischen Eroberer in einen Tempel des Islam verwandelt haben. Die Stadt hat 40 000 Einwohner, von denen ein Viertel Armenier sind, die vier Kirchen und eine Schule besitzen; die übrigen sind Türken und einige Kurden und Lasen. Im ganzen Wilajet Erzerum, das 646 000 Einwohner zählen soll, sind 80 Prozent Mohammedaner und 20 Prozent Christen. Die Türken haben in der Stadt etwa sechzig Moscheen, mehrere Derwischklöster, ein Hospital, Schulen und »Hammams« (Bäder). Seit 1864 ist die Stadt mit Festungswerken umgeben; die wichtigsten Forts sind Top-dagh und Kirimitli-dagh. Die Garnison soll aus 8000 Mann verschiedener Waffengattungen, hauptsächlich aber Festungsartillerie, bestehen.

Nach Herrn Srabian befinden sich in der Gegend von Erzerum einige Dutzend Zigeunerfamilien christlichen Glaubens. Sie führen ein unstetes Leben und unterscheiden sich von andern Nomadenstämmen im Lande durch Religion und Sprache. Ihre Sprache ist ein armenischer Dialekt, der mit einer Anzahl Sanskrit- und parthischen Wörtern durchsetzt ist. Der Sage nach stammen diese Zigeuner aus Ägypten.

Wie Trapezund, hat auch Erzerum alte Ahnen. Vor der seldschukischen Eroberung war Ardsin eine Stadt am rechten Ufer des Oberlaufs des westlichen Euphrat; sie wurde durch ein Erdbeben und dann gänzlich durch die Seldschuken zerstört. An der Stelle, wo Ardsin stand, liegt jetzt nur ein Dorf, Kara-ars (Karars oder Kars), »die schwarze Erde« oder »die Trauererde«. Der Name Erzerum oder Erzirum soll eine Abkürzung oder Zusammenziehung von Erzen-el-Rum, »die römische Erde«, sein. Garin Chalach ist der armenische Name der Stadt. Im 5. Jahrhundert erbaute Theodosius II. Anatolius an diesem wichtigen Platze eine Festung, im 11. Jahrhundert blühte die Stadt und 1201 wurde sie von den Seldschuken erobert, aber nur, um vierzig Jahre später in den Besitz der Mongolen und im Jahre 1517 in den der Türken zu gelangen. Im Jahre 1829 eroberten die Russen Erzerum, gaben es aber nach dem Frieden von Adrianopel den Türken zurück. Noch einmal, im Jahre 1878, nahmen die Russen die Stadt in Besitz, räumten sie aber nach dem Frieden von San Stefano wieder. Noch heute hat Rußland ein wachsames Auge auf diese Gegend, und der russische Generalkonsul gilt hier als der mächtigste Mann. Rußland hat sich auch die Konzession zu einer Eisenbahn von Sinope nach Bitlis am Wansee, nahe der persischen Grenze, gesichert; es macht aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen keinen Gebrauch davon, weil diese Linie die transkaukasische Eisenbahn zum großen Teile lahmlegen würde.

Ein Blick auf die Landkarte genügt, um sich von Erzerums wichtiger strategischer Lage zu überzeugen. Allerdings ist dieses Hochplateau (2030 Meter) mit seinen kalten Wintern und heißen Sommern und seinem kargen Erdreich wenig zum Anbau geeignet, aber von Erzerum gehen Heerstraßen nach allen Seiten des westlichen Asien.

An einem Punkte, der eine knappe Tagereise im Nordosten der Stadt liegt, kann man innerhalb einer Stunde zu den Quellen dreier Bäche reiten, von denen der eine dem Tschoroch zuströmt, der zweite sich in den Euphrat ergießt und der dritte zum Aras fließt, oder mit andern Worten, die nach dem Schwarzen Meere, in den Persischen Meerbusen und nach dem Kaspischen Meere Abfluß haben. Erzerum liegt also gerade auf dem Scheitelpunkt einer Hochebene, die drei verschiedenen Meeren Zuflüsse sendet, und wie die natürlichen Wasserwege von diesem Brennpunkt nach diesen Meeren hinunterlaufen, so auch die großen Handelsstraßen und die strategischen Linien, die Kleinasien und die Wege nach dem Persischen Meerbusen beherrschen. Erzerum liegt auch der russischen Grenze und Kars nahe, und man kann überzeugt sein, daß zu seiner Befestigung und zu seiner Verknüpfung mit Kars durch eine geschützte Verbindungslinie schon jetzt alle notwendigen Vorbereitungen getroffen sind. Von den drei Sekretären des russischen Generalkonsuls war auch der eine ein Militärattaché.

Von der westlichen Euphratquelle berichtete Herr Srabian die folgende, in Erzerum bekannte Sage. Als es Kaiser Heraklius geglückt war, das Kreuz aus den Händen der Perser zurückzuerobern, wurde die ihm folgende Eskorte von Feinden überfallen und in jener Gegend zum Kampf gezwungen. Um das Kreuz zu retten, grub man es auf der Spitze eines Berges ein. Nachdem der Kampf vorüber und die Feinde geschlagen waren, kehrte man zurück, um das Kreuz auszugraben. Aus der Erde, in der es gelegen hatte, sprang eine starke Quelle hervor. Die Quelle, die seitdem Chatchapaid, das Holzkreuz, heißt, wird als heilig betrachtet und aus der ganzen Gegend von Wallfahrern besucht. Die Türken nennen den Berg Giaur-dagh, den »Berg der Ungläubigen«.

Von Erzerum gilt dasselbe wie von Trapezund: daß der Bau der kaukasischen Eisenbahn seiner kommerziellen Bedeutung in der letzten Zeit den Todesstoß gegeben hat. Die beiden Wilajets Erzerum und Trapezund, welche die uralte Handelsstraße von Tabris durchschneidet, zogen früher aus dem Durchgangshandel eine jährliche Einnahme von 500 000 türkischen Pfund, aber diese Ziffer ist jetzt auf 100 000 Pfund heruntergegangen. Transitgüter bezahlen keine andere Abgabe als die für Plombierung; die Einkünfte der beiden Provinzen bestanden nur aus dem Gelde, das die Karawanen dort für ihren und der Tiere Unterhalt zurückließen. Die Kosten einer einzigen Reise berechnet man auf anderthalb Pfund pro Kamel; 20 000 Kamele ziehen jetzt jährlich von Tabris aus und ebensoviele von Trapezund, das bedeutet 40 000 Kolli das Jahr in der einen und ebensoviele in der andern Richtung. Gewöhnlich begleiten die Besitzer der Kamele selbst die Karawane, und nur auf der großen Heerstraße bedient man sich dieser Tiere, im übrigen geht der Transport in beiden Wilajets mit Pferden, Eseln, Büffeln und Ochsen vor sich. Großen Abbruch erleidet der Handel auch durch die Unsicherheit in der Nähe von Bajaset, wo kurdische Räuberbanden sich herumtreiben. Gewöhnlich unternehmen sie ihre Angriffe bei Nacht, wenn die Karawanen sich gerade gelagert haben oder eben aufbrechen wollen. Eine andere Art und Weise besteht darin, daß die Kurden heimlich die Plomben wegreißen und dadurch einen Vorwand haben, die Warenballen an der Grenze zu öffnen und Streit anzufangen, der nicht selten mit blutigen Zusammenstößen endet, da die Karawanenleute auf Widerstand vorbereitet sind.

Das Wilajet Erzerum exportiert Rinder, Pferde, Häute, Rauchwaren, Korn u. a. für 8 Millionen Mark und importiert verschiedene Kolonial- und Manufakturwaren, Gewürze, Alkohol, Wein, Tabak, Zündhölzer, Glas, Porzellan u. dgl. für 12 Millionen. Der Ausfall von 4 Millionen wurde früher durch Arbeiter gedeckt, die an anderen Orten gut verdient hatten und 300 000 türkische Pfund an Ersparnissen heimbrachten. Dies hat aber jetzt aufgehört infolge einer Verordnung, die den Auswanderern das Wiederkommen verbietet. Die Folge ist, daß die Steuern in den letzten vier Jahren um 36 Prozent erhöht worden sind; das Leben ist kostspieliger geworden, die Christen sind gänzlich verarmt, und ihr Elend wirkt indirekt auf die Türken zurück. Dies war der allgemeinen Ansicht nach ein Glied in jener Kette systematischer Verfolgung der Christen, die Sultan Abdul Hamid erdacht hatte und die ihnen größeren Schaden zufügte als die blutigen Metzeleien. Seit dem Bombenattentat auf den Sultan sind alle Schrauben fester angezogen worden. An Armeniern begangene Morde bleiben straflos, armenische Mädchen werden von den Mohammedanern geraubt und gezwungen, zum Islam überzutreten; der Bauer muß vor Sonnenuntergang mit seinen Ochsen vom Felde heimkehren, sonst werden sie ihm gestohlen; ein Armenier, der seinen Distrikt verlassen will, muß einen besondern Erlaubnisschein besitzen, der für die Muselmänner nicht nötig ist.

Infolge dieses neuem geführten Aussaugesystems geht der Grund und Boden in den Besitz der Mohammedaner über. Vor fünfzehn Jahren waren 95 Prozent der armenischen Bevölkerung Grundbesitzer, jetzt haben nur noch 35 Prozent Grundbesitz. Der Rest ist nach und nach gezwungen worden, sich bei kurdischen und türkischen Nachbarn als Tagelöhner zu verdingen oder deren Pächter zu werden. Dies ist auch einer der Gründe, daß es mit dem Wohlstand und der Wirtschaft des ganzen Landes abwärtsgeht, denn die Kurden arbeiten gar nicht und die Türken wenig, und die Armenier, die sich auf den Ackerbau verstehen, werden Diener und Sklaven. Die Landwirtschaft liegt darnieder, und es ist schwer zu verstehen, welches Interesse die türkische Regierung daran haben kann, das Land verarmen zu lassen, oder welcher Vorteil ihr daraus erwachsen könnte. So betrug z. B. die Steuereinnahme in einem Distrikt, wo sie vor zwölf Jahren 18 000 Pfund gewesen war, nur noch 6000 Pfund. –

Der Ruhetag ging schnell zu Ende; in der Dämmerung besuchte der liebenswürdige Herr Srabian mit mir die armenisch-gregorianische Kathedrale, die auf Kosten der armenischen Gemeinde in Erzerum, zu der mehrere reiche Mitglieder gehören, erbaut ist. Das Innere der Kirche macht in all seiner Einfachheit einen recht feierlichen Eindruck; die Frauen sitzen auf vergitterten Emporen, denn die armenischen Frauen gehen wie die Mohammedanerinnen verschleiert, aber nur leicht mit weißen Stoffen.

Am ersten Abend dinierte ich bei Herrn Srabian und hatte Gelegenheit zu sehen, wie es in einem armenischen Hause zugeht. Es ist in der Hauptsache gerade so wie in Europa; die Damen tragen die einfachen, dunklen, aber kleidsamen Gewänder ihrer Heimat, eine Art Diadem im Haar und weiße Schleier, die das Gesicht nicht ganz verhüllen und recht schmuck wirken. Schlank, schwermütig und bleich gehen die Armenierinnen einher und sehen wie Bräute aus, als ob jeder Tag für sie ein Hochzeitstag wäre. Man empfindet Mitleid und Sympathie für dieses unglückliche, geknechtete Volk und grämt und schämt sich, daß die europäischen Großmächte noch heute es untätig mit ansehen können, daß der Türke ein christliches Volk unterdrückt.

In den fünf von Kurden bewohnten Provinzen Erzerum, Wan, Bitlis, Diarbekir und Charput wurde vor dreizehn Jahren irreguläre Kavallerie eingerichtet, eine Art kurdischer Miliz, die nach ihrem Urheber, dem Sultan Abdul Hamid, Hamidié heißt. Man sagte mir, diese Idee habe keinen anderen Zweck als den, die Kurden, die früher auf eigene Hand auf Raub ausgegangen seien, jetzt unter einem kaiserlichen Titel ihr altes Räuberleben ungestraft weiterführen zu lassen. Sechs Banditen dieser Sorte bildeten das Geleit, das mir Nazim Pascha mitgab. Sogar viele Türken waren der Regierung Abdul Hamids überdrüssig geworden und sehnten sich nach etwas anderem, schlimmstenfalls sogar nach russischer Oberhoheit. Der alte Fuchs im Jildis-Kiosk sammelte nicht zum wenigsten in Kleinasien glühende Kohlen auf sein Haupt. Nun ist er aller Regierungssorgen ledig und hat viel Zeit zum Bereuen seiner Sünden, und kein Mensch soll sein Regiment vermissen, wenn auch viele seine gerissene diplomatische Begabung und Klugheit bewundert haben.

Um 2 Uhr nachts donnerte der Kanonenschuß, der die letzte Mahlzeit vor Sonnenaufgang ankündigt. Es war noch dunkel, als ich die beiden Arabas kommen und das Gepäck holen hörte. Jetzt hatte ich zwei Lastwagen und eine Droschke; die Wege werden immer schlechter, je weiter man in den Kontinent hineinreist, und jeder Wagen war, wie auch meine Droschke, mit drei Pferden bespannt. Von Trapezund oder Trabsun, wie der Name hier ausgesprochen wird, rechnet man 312 Kilometer bis Erzerum, und von dieser Stadt 250 Kilometer bis Bajaset. Für alle drei Fuhrwerke hatte ich 30 türkische Pfund zu bezahlen (550 Mark), wenn sie mich in fünf Tagen nach Bajaset brächten; das macht täglich 50 Kilometer; andernfalls sollten sie nur 27 Pfund erhalten. Es ist also sehr kostspielig, mit viel Gepäck durch Armenien zu fahren, besonders da die Eskorte, die Kutscher und die Aufseher der Hans reichlich bemessenes »Bakschisch« beanspruchen.

Nach einem letzten Frühstück bei dem gastfreien Herrn Srabian nahm ich in seinem Wagen Platz, denn er wollte mich durchaus noch ein Stück Wegs begleiten, während der Kawaß des Konsulats in meiner Droschke fuhr, um aufzupassen, daß beim Fahren der photographische Apparat nicht hinausgeschleudert werde. Hier und dort sieht man auf den Hügeln detachierte Forts, die zur äußern Befestigungslinie gehören, deren Aufgabe es ist, den sich oberhalb der Stadt öffnenden Engpaß zu verteidigen.

Ich lasse Erzerum hinter mir zurück. Als Totaleindruck kann man von der Stadt sagen, daß sie eigenartig und ungewöhnlich, aber einförmig und wenig pittoresk ist. Die beste Aussicht über die ganze Stadt hatte ich vom amerikanischen Missionshause aus: ein Meer von Dachgeländern, Schornsteinen und Minarets, alles grau in grau, zusammengedrängt, plump und solide. Aber es ist auch notwendig, daß die Häuser schwer und dicht gebaut sind, denn die Einwohner Erzerums wohnen auf einem Hochplateau mit extrem kontinentalem Klima, dessen Winterkälte auf 30 Grad sinken kann! Das Brennholz ist in der Stadt teuer, da alles Holz, zur Feuerung und zum Bauen, aus 100 Kilometer Entfernung von der russischen Grenze geholt wird. Das Land ist baumlos; dennoch erinnern alte Leute sich noch der Zeiten, in denen die Höhen um Erzerum bewaldet waren. Wir begegnen auch ganzen Reihen Karren, deren Inhalt aus ausgegrabenen Pappelwurzeln besteht, die in der Stadt als Brennmaterial verkauft werden. Arme Leute sammeln überall Viehdung, der hier wie in Zentralassen »Tesek« genannt und zur Feuerung verwendet wird.

Zur Linken haben wir den Bergkamm Kiretschlu mit seinem Gipfel, auf dem der westliche Euphrat entspringt. An dem schmalen Engpaß Dewe-bujun, von wo der Weg zu einer Paßschwelle ansteigt, sagte ich dem liebenswürdigen Herrn Srabian Lebewohl und stieg in meine eigene Droschke, die der ganz zuverlässige Kutscher Schakir lenkte. Anfangs ist der Weg gut, und ein reger Lokalverkehr zwischen der Hauptstadt und den ostwärts liegenden Dörfern macht sich bemerkbar. Das Wetter ist herrlich, frisch und klar. Nur da, wo Quellen über den Weg rieseln, hat sich Schlamm gebildet, sonst ist die Straße trocken. Dies soll aber eine große Ausnahme sein, denn gewöhnlich liegt die Erde hier schon Anfang November unter einer Schneedecke. Man reist dann zu Schlitten nach Bajaset. Jetzt waren jeden Augenblick starke Schneefälle zu erwarten; darum hatten wir das Gepäck auf zwei Lastwagen verteilt, die trotzdem Gefahr liefen, bis zum nächsten Frühling eingeschneit in Bajaset bleiben zu müssen. Auch aus diesem Grunde ist die Fahrtaxe in dieser Jahreszeit so hoch.

Hinter Nebutschar-chani passieren wir die Wasserscheide zwischen dem westlichen Euphrat und dem Aras, und nun befinden wir uns in einem Lande, das nach dem Kaspischen Meere hin Abfluß hat. Wieder begegnen wir langen Reihen knirschender Karren, gezogen von »Dschamusch«, von schwarzen Büffeln. Die Telegraphenstangen begleiten mich wie bisher getreulich auf meinem Weg und rufen in mir Sehnsucht nach Gegenden wach, in denen man von der Zivilisation abgeschnitten ist! Der eine Draht führt über Ziwin nach Kars, der andere nach Bajaset. Die Straße wird jetzt wieder gut, fest und makadamisiert; an beiden Seiten liegen angebaute Felder in dem breiten, flachen Tal, das niedrige Hügel begrenzen.

Dem Bache Kale-su, einem Nebenfluß des Aras, folgend, kommen wir in das große Dorf Hassan-kale, das am Westfuß einer kleinen Bodenerhebung liegt; auf ihrem Gipfel bietet eine Festungsruine einen malerischen Anblick. Hier kamen der Kaimakam der Gegend, der Kommandant und der Distriktsingenieur, die alle drei gut französisch sprachen, mir entgegen, um mich zu begrüßen. Sie machten mit mir einen kleinen Spaziergang durch das Dorf. Straßenpflaster findet sich hier nur stellenweise und wechselt mit tiefen Löchern und Schlamm- und Schmutzlachen ab, die nach faulendem Unrat stinken. Selbst wenn der Weg draußen auf der Landstraße trocken wie Zunder ist, sind die Dorfstraßen von all dem Unrat und von ausgegossenem Schmutzwasser klatschnaß; Rinnsteine und Kanalisation gelten als überflüssige Dinge. Nur unmittelbar längs der Häuserreihen kann man einigermaßen trocknen Fußes gehen. Vor dem Dorf liegt der Friedhof, der Guristan; die Leute machen sich viel Arbeit mit den Gräbern; jede Ruhestätte wird mit zwei hohen, aufrechtstehenden Denksteinen geschmückt. Hassan-kale soll 7000 Einwohner und 400 Mann Garnison haben, hauptsächlich Kavallerie und eine Batterie.


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