Jeremias Gotthelf
Uli der Pächter
Jeremias Gotthelf

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Fünfzehntes Kapitel

Wie viel man an einem Tage gewinnen und wie viel man verlieren kann

Am Sonntag also mußte Vreneli zu Gevatter stehen, da gab es einen kleinen Streit. Uli sagte: «Nimm das Fuhrwerk, es ist weit und die Rosse haben nicht viel geschafft.» «Will nicht die vornehme Frau machen,» sagte Vreneli, «das würde sich übel schicken für uns.» «Bist noch immer böse?» sagte Uli, «das wäre dumm.» «Nein,» sagte Vreneli, «bin weder böse noch dumm, aber wo du recht hast, da gestehe ich es gerne. Ich will nicht über meinen Stand hinaus und nie vergessen, daß wir nichts haben und nichts sind als Arbeitsleute. Wir haben wohl Rosse im Stall, aber sie sind nicht unser, das große Bauernwesen ist wohl da, aber wir sind nicht der Bauer, und den Schein, als wären wir es, will ich mir nicht geben. Fahren ist für vornehme Leute oder wenigstens für solche, welche es scheinen möchten.» Und was Uli auch sagte, Vreneli blieb auf seinem Sinn. Als am Morgen in aller Frühe Vreneli zum Gehen fertig stund und noch links und rechts befahl, wie es gehen solle den Tag über, da wollte Uli dem Vreneli wieder kanzeln. Vreneli war ganz einfach angezogen, hatte nicht etwa die Hochzeitkleider an, um im Glanze aufzutreten, hatte nicht einmal seine schweren silbernen Göllerkettelein eingehängt und gar nichts von Seide am Leibe und doch derlei Dinge im Schranke. «Wann willst dann dies brauchen?» frug Uli. «Das wäre ein Anlaß gewesen, die Kleider verderben dir, wenn du sie nicht brauchst.» «Habe deswegen nicht Kummer,» sagte Vreneli, «dafür laß mich sorgen, und wenn wir mal Bauer und Bäurin sind, dann sollst du Wunder erleben, wie ich aufziehen will. Bis dahin will ich lieber, die Leute sagen: Die kömmt doch gering daher, sie werden es nicht besser vermögen, als: Die mag wohl, wird meinen, man wisse nicht, wer sie ist; der wird es noch anders kommen. Sieh, Mannli, vornehm täte ich gerne; im Guttätig-, nicht im Hoffärtigsein, da ist ein Unterschied, den mußt du noch lernen, er hat viel auf sich. Doch behüte dich Gott und lebe wohl, muß pressieren, es ist ohnehin wohl spät.» Als Uli dem Weibchen nachsah, mußte er sich gestehen, daß heute, trotz der einfachen Kleidung, wohl kaum ein schmuckeres Weibchen auf Berner Wegen gehen werde, als eins eben von seinem Hause ablief.

Es war das erstemal seit seiner Heirat, daß Vreneli so weit von Hause sich entfernte, mehr als drei Stunden weit. Es war ein klarer, aber rauher Frühlingsmorgen, ein starker Reif lag auf den Feldern, Schnee bedeckte die niederen Höhen. Noch sah man bedeutendere Sterne am Himmel, die minderen hatte der beginnende Tag verschlungen, das heißt für Vrenelis Augen. Andere Augen, nur einige Stunden weiter, sahen es anders und Gottes Augen noch ganz anders. So geht es mit den Augen und der Sterne Bedeutung, und noch ganz anders mit den Menschen, welche man sinnbildlich Sterne nennt. Sterne hier könnte man zwanzig Stunden weiter nicht für Stallaternen brauchen, und noch zehn Stunden weiter wären sie nichts als schmutzige Öltöpfe oder winzige Talgstümpfchen.

So einmal aus dem Gesurre des täglichen Getriebes herauszukommen, ist äußerst wohltätig. Es ist, als ob die Sinne freier würden, als steige man auf ein Berglein und übersehe nun den Wald, den man sonst vor lauter Bäumen nicht gesehen. So ging es Vreneli. Ihre ganze Lage rollte sich vor ihm auf wie eine Landkarte. Es sah die schönen Punkte, die steilen Höhen, die gefährlichen Pässe, es sah, wie mit Gottes Hülfe keine Gefahr für sie wäre, wenn die gehörige Vorsicht gebraucht würde, eine weise Sparsamkeit am rechten und nicht am unrechten Orte, kein närrisches Vertrauen in unbewährte Menschen. Wenn schon das letzte Jahr nicht das beste gewesen, so war es mit ihnen doch vorwärtsgegangen, nur hatten sie leider das Geld nicht beisammen, das machte Vreneli seufzen. Hätten wir es doch nur, dachte es. Was hilft viel lösen, wenn man nichts kriegt? Viel versprechen kostet ja nichts, zahlen ist die Hauptsache. Mit Behagen dagegen überschlug es, wie sich ihr Hausrat gemehrt und ihre Vorräte, mehr als Uli dachte. Wenn es sein müßte, ein paar hundert Gulden ließen sich lösen aus Entbehrlichem, meinte es. Mit Behagen dachte es an seine Kindlein, deren es bereits drei hatte, die so lustig blühten, als wären sie drei Röselein im Garten, zählte sich die kleinen Handbietungen auf, welche Vreneli bereits leistete. Es freute sich, wie sie mehren würden, fast Tag um Tag, und dachte an die Zeit, wo das Mädchen sein rechter Arm sein werde, seine wahre Meisterjungfrau. Wenn nur die Pässe nicht gewesen wären mit ihren Gründen und Schlünden. Es hätte Vreneli keinen Kummer gemacht, sie zu durchfahren, wenn es die Peitsche geführt, das Fahren in seiner Hand gelegen wäre; es glaubte zu sehen, wo man mehr hüst und wo mehr hott fahren müsse, wenn man sicher durchkommen wolle. Aber das ist das Peinliche auf Fahrten und gar auf der Lebensfahrt, wenn man sich fuhrwerken lassen muß, sieht sich bald rechts am Abgrunde, bald links in den Lüften, kann nichts dran machen als höchstens hüst oder hott schreien. Der, welcher fährt, sieht Abgründe und Wände nicht, hört das Schreien nicht, fährt zu, immer blinder und toller, je mehr man wehrt und schreit, expreß hüst, wenn er hott fahren sollte, und hott, wenn hüst ihn retten könnte, er fährt, bis es aus ist mit dem Fuhrwerk, dann fängt er mörderlich zu brüllen an, wie man mit dem Wehren und Geschrei schuld sei am Unglück, hätte man ihn alleine machen lassen, es wäre ganz anders gegangen. Ach wie viele solche Fuhrwerke holpern wohl nicht auf dem Lebenswege, es wackeln die Räder, taumeln an den Rändern der Abgründe, Eins fährt, das Andere schreit, sie wackeln, sie taumeln, bis endlich das Fahren aus, das Fuhrwerk geborsten ist. Wie peinlich und angstvoll ein solches Fahren ist, ist so begreiflich, aber am wenigsten begreifts, wer die Zügel führt und die Peitsche; kann er, so haut er, wer schreit und Pein zeigt. Wenn Staatswagen so karren und taumeln, ists noch schauerlicher und graulicher als bei Familienwagen! Daran dachte Vreneli und wie das Ding wohl anzufangen sei, daß Uli so recht auf ihns höre, sich nicht umgarnen lasse von falschen Freunden, nicht umstricken von den Netzen des Geizes. Es fehlte ja nirgends als da, aber das war doch so gefährlich, daß ihm angst und bange ward bei dem Sinnen und Denken, der Weg ihm unter den Füßen schwand, ohne daß es es merkte, es am Häuschen stand, wo das Patekind lag, ehe es daran dachte.

Im Häuschen sah es armütig aus und wehmütig das Hausgeräte und die Hausbewohner. Vreneli hätte seine Gespielin nicht wieder erkannt, hatte Mühe, sich zu überzeugen, daß sie es wirklich sei. Zu einem alten Weibe war das lustige Mädchen zusammengealtert, die blanke Haut war gelb geworden, und matt, sehr matt waren Gebärden, Schritte, ja selbst das Gangwerk ihrer Rede. Die Kinder glichen Zwetschgen, über welche ein früher Reif gegangen, der Kaffee war so dünn, die Milch so blau, daß sie, als beide zusammengegossen waren, aussahen akkurat wie der blaue Himmel, wenn ein leiser Nebel darüberliegt. Der Tisch wackelte, die Kaffeekanne machte ein weinerliches Gesicht, denn sie hatte Spalten, die Tassen waren zusammengeborgt, die Untertassen kamen hierher, die Obertassen dorther, sie sahen aus wie die Gevatterschaft selbst, welche aus einem kleinen, dummen Bauernsöhnchen und einer alten, grauen Frau und also Vreneli bestund. Die Kindbetterin war anfangs gegen Vreneli schüchtern und tat fremd, es schmerzte Vreneli fast. Zehn Jahre waren zwischen ihnen durchgeflossen, seit sie ein Herz und eine Seele gewesen; diese zehn Jahre, wie weit hatten sie sie auseinandergerissen! Jahre verknöchern sich gerne zu Bergen, stellen sich zwischen die Menschen, scheiden sie durchaus, höchstens sehen sie sich noch, kennen einander aber nicht. Wenn nun so nach zehn Jahren der Strom der Zeit Zwei zusammenschwemmt in ein Stübchen, daß sie bei einander sitzen, sich ansehen und Rede stehen müssen, so sehen sie einander an und lesen sich gegenseitig ein Blatt Weltgeschichte ab, und was sie sich gegenseitig ablesen, macht die Einen neidisch, die Andern dankbar, Andere demütig, Andere hoffärtig, Andere giftig, Andere wehmütig. Als das arme Weiblein Vreneli vor sich hatte, war es eben demütig und wehmütig, denn der Grund seines Gemütes war gut und treu. Es sah mit Demut an Vreneli auf, dem seine einfache, nette Kleidung so vornehm stund, Respekt einflößte, denn wer eine so einfache Kleidung so zu ordnen und zu tragen wußte, der war von Jugend auf in guter Kleidung und hatte daheim noch bessere, als es am Leibe trug, während man oft scheinbar kostbarer, aber verschliffener Kleidung von weitem ansieht, daß unter derselben ein verlumpt Hemd stehet und daheim nicht drei ganze sich vorfinden würden. Dachte mit Demut, wenn es gewußt, wie es geworden, es hätte nicht an ihns sprechen dürfen, aber schön sei es von ihm, daß es doch gekommen und seiner sich nicht geschämt. Dachte aber auch mit Wehmut, wie die Zeit sie verschieden gestellt, an ihm gezimmert und genagt, Vreneli zu einer Frau gemacht, dachte mit Wehmut, wie es erst in zehn Jahren sein werde, wie da wohl es zusammengemagert und, ein verdorret Laub, von der Erde verschlungen sein werde, während Vreneli vollständig zu einer Bäuerin sich abgerundet habe. Je mehr Vrenelis Freundlichkeit aufblühte, desto weh- und demütiger ward das arme Frauchen; zwischenein kam die Freude, es zu sehen und zu gedenken der vergangenen Zeit ohne Gram und ohne Sorgen.

Die Armütigkeit trat erst so recht hervor, als man das Kindlein schmücken wollte zur Kirche. So rein und schön, als sie können, zieren die Eltern das Taufkind aus; es soll diese Sorgfalt so gleichsam ein Pfand sein, daß sie es schmücken und zieren wollen nicht bloß äußerlich zum Gang in den Tempel des Herrn, sondern von Stunde an auch innerlich und es auferbauen zu einem Tempel, darin der Herr wohnen mag. Da waren gelbgewaschene Windeln und keine ganze Käppchen, gar erbärmlich dünn das Decklein, in welches man es legte, und verschossen und schlecht das Tuch, mit welchem man es deckte. Das arme Kind mußte sich früh gewöhnen, daß des Lebens rauhe Winde ihm hart an die Haut gingen. Die alte Gotte hatte das grausam ungern, konnte sich gar nicht darein schicken, mit einem so schlecht angekleideten Kinde zur Kirche zu gehen. Wenn sie das gewußt hätte, sagte sie, sie hätte die Magd gesandt, die hätte dieses auch verrichten können. Das arme Frauchen hatte die Tränen in den Augen, entschuldigte sich bestmöglichst. Sie hätte Besseres leihen wollen, aber, fremd hier, hätte man allenthalben Ausreden gehabt; da hätte sie gedacht, wegem lieben Gott hätten sie sich nicht zu schämen, den Leuten aber nicht mehr nachzufragen als sie ihnen. Da hätte sie es ja den Gevattersleuten können sagen lassen, die würden ihretwegen schon dafür gesorgt haben, zürnte die graue Alte, die eben auch nicht sehr appetitlich aussah.

Da trat Vreneli ins Mittel, durch dieses unwürdige Geträtsche sehr bemüht. Es wolle das Kind schon tragen, sagte es, es schäme sich seiner gar nicht; vielleicht sei das Kind, welches Jesus unter die Jünger gestellt und gesagt: So ihr nicht werdet wie dieses Kindlein, werdet ihr nicht ins Reich Gottes kommen, nicht besser geschmückt gewesen als dieses, und allweg wollten sie Gott danken, wenn sie Beide Gott so wohl gefielen als dieses Kindlein, und ein Beispiel hätte man, daß ein Kind, welches nicht einmal ein Deckeli gehabt, sondern bloß in Windeln gewickelt gewesen sei, groß geworden sei und noch jetzt allen armen Sündern zum Heil. «Du wirst eine Stündlerin (Besucherin von religiösen Versammlungen) sein mit Schein,» grinste die Alte. «Nicht, daß ich wüßte,» antwortete Vreneli, «aber mich dünkt, man sollte sich in die Umstände schicken können, auf die Hauptsache sehen, an Nebensachen sich nicht stoßen, und dies um so mehr, je älter man ist.» «So,» sagte die Alte, «das wird sollen gestochen sein. Ja ja, es gibt Leute, sie meinen, sie hätten die Weisheit mit dem Breilöffel gefressen, und sehen den Dreck auf der eignen Nase nicht. He nun so dann, so gehts! Bin alt, habe darum schon manchmal erfahren, daß unser Herrgott Solchen den Verstand mit der Muskelle anrichtet, und dann sagten ich und Andere: So recht, nur angerichtet, und je mehr, je besser. So sollte es allen gehen, welche besser sein wollen als andere Leute oder gar noch fromm.» «Ich sehe dich doch noch?» frug das Fraueli weichmütig Vreneli. «Gewiß,» sagte Vreneli, «aber jetzt ists Zeit! Gebt mir das Kind in Gottes Namen, und gehen wollen wir in Gottes Namen, und daß des Kindes Eingänge und Ausgänge sein ganz Leben lang alle geschehen in Gottes Namen, das wolle Gott.» Wie nötig das arme Würmlein das hätte, mußte Vreneli denken den ganzen Weg entlang, während die andere Gotte alle möglichen Manövers machte, damit die Leute nicht meinten, sie gehöre zum Kinde; sie dachte nicht daran, wie wenig ihr alle Künste hülfen, da sie in der Kirche vor aller Leute Augen doch zum Kinde stehen mußte.

Man kann allerdings nicht genug daran denken, wenn man ein arm Kind zur Kirche trägt, wie nötig dasselbe Gott habe, wenn das Elend der Sünde es nicht verschlingen soll.

Der Taufschmaus oder, wie man merkwürdigerweise sagt, die Kindbetti (wahrscheinlich, weil der Mann die Kosten dazu mit Weh und Schmerzen aufbringt) wurde im Wirtshause ausgerichtet. Die eigentliche Kindbetterin blieb zu Hause, wohin auch das Kind getragen wurde. Vreneli verarbeitete grausam viel Langeweile, ehe die Mahlzeit aufgetragen wurde. Mit seiner Mitgevatterin stund es auf gespanntem Fuße, mit den Andern war nicht viel zu reden, die Wirtin war nicht redselig und der Wirt handelte mit Juden um Kühe. Der Wirt gehörte nämlich unter die Wirte, welche weder Sonntag noch Sabbat kennen, um alles handeln und die eigne Seele verschachern würden, wenn man sie an einen vierkreuzerigen Strick binden und weiterführen könnte. Wahrscheinlich um solcher Wirte willen wird der liebe Gott die Seele unsichtbar gemacht oder keinen Strick geschaffen haben, an dem man sie halftern kann. Der kleine Bauernsohn war ein Dorfrenommist. Ungeheure Heldentaten hatte er vollbracht, aber alle waren mit Schmutz angemacht oder nahmen ein schmutziges Ende. Vreneli kriegte großen Ekel darüber. Sobald es das Nötigste gegessen und getrunken hatte, verschwand es ganz in großem Stile. Der Wirtin trug es auf, später seine Entschuldigungen zu machen, nahm noch Wein und Fleisch mit sich, versteht sich für sein Geld, und machte dem verlassenen Fraueli sich zu.


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