Jeremias Gotthelf
Uli der Pächter
Jeremias Gotthelf

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Neuntes Kapitel

Vom Gemüt und vom Gesinde

Ein Jahr ist nicht alle Jahre, so sagt ein Sprüchwort, die Wahrheit desselben erfuhr Uli. Es war ein spät Frühjahr, war wetterwendisch Wetter, man mußte die Zeit zur notwendigen Arbeit stehlen, mußte in Wind und Wetter, in Schneegestöber manchmal aushalten, fast wie die Franzosen in Rußland. Nun, die waren diszipliniert, darum schlugen sich noch so viele durch und kamen mit dem Leben davon. Wäre es lauter undiszipliniertes Volk gewesen, kein Mann wäre aus Rußland gekommen. Nun aber hatte der arme Uli weder alte noch junge Garde, sondern undiszipliniertes Volk in der Mehrzahl. Das war ein schrecklich Fuhrwerken mit demselben. Wer hat wohl schon an einer Ziege gerissen, damit sie rascher marschiere? Der hat es erfahren, wie die Ziege, statt rascher zu marschieren, mit all vier Beinen verstellt und gar nicht mehr vom Platz will. So geht es auch mit Dienstboten, welche undiszipliniert sind, sie halten zurück, sie machen immer langsamer, am Ende gar nichts mehr. Jeder stellt so gleichsam einen Knittel vor, der sich dem Meister zwischen die Beine wirft, wenn er rascher zufahren will. Von dieser Widerspenstigkeit wurden allgemach auch die Tagelöhner angesteckt, es entstand eine heillose Wirtschaft. Uli arbeitete sich ab wie ein Roß in einer Tretmühle; wie das Rad umgeht, liefen die Tage vorbei, aber wie das Pferd nicht weiterkommt, so schien Uli gebannt und nicht vorwärts zu kommen. Je schlechter man arbeitete, desto mehr klagten die Leute über Ulis Unverständigkeit, wie man ihm nie genug arbeiten könne, auch wenn man sich quäle wie ein Hund. Natürlich hatte man immer später Feierabend, Uli immer mehr zu treiben und zu tadeln, daher die Leute scheinbar Grund zu klagen. Begreiflich suchten sie den Splitter in Ulis Augen, den Balken im eigenen sahen sie nicht. Sonst hatte Uli den Sonntag respektiert, Misten, Grasen und sonstige Arbeit vermieden, war gerne am Sonntag zur Kirche gegangen, hatte ordentlich Appetit nach Gottes Wort; er hatte die Natur, welcher die Worte des ewigen Lebens wohl taten, Bedürfnis waren, gleichsam eine Nahrung, welche die Natur verlangte. Wie aber Nebel in Täler sich drängen allgemach, bis die Täler endlich voll Nebels sind und unsichtbar die Sonne geworden ist, so drängte sich allgemach die Arbeit in den Sonntag hinein; er ward finster, das ewige Licht schien immer düsterer, schien am Ende gar nicht mehr hinein. Was sonst am Samstag gemacht worden war, ward verlegt auf den Sonntagmorgen, und wenn Uli nicht selbst dabei war, ward es gar nicht gemacht. Die lumpigsten Knechtlein waren Nachtschwärmer, wie es die meisten sind, stunden am Sonntag nicht auf, und was Uli darüber sagen mochte, es half alles nichts, sie hatten keinen Glauben zu ihm, sondern das Vorurteil gegen ihn, daß allem, was er sage, eigennützige Absichten zum Grunde lägen. Wo das einmal so ist, hat es gefehlt, da hilft alles Zureden nichts. Bei den meisten Menschen muß der Glaube es machen, zum Erwägen und Erkennen einer Sache sind sie untauglich. Dieses fühlen sie dunkel, daher das Mißtrauen, namentlich gegen alle, welche über ihnen stehen, daher die unbegreifliche Hartnäckigkeit, mit welcher sie das Verderblichste treiben, wenn es ihnen von Leuten eingebläuelt ist, zu welchen sie den Glauben haben. Die Menschheit steht unendlich mehr unter der Herrschaft des Glaubens, als man wähnt. Freilich frägt sich dann immer, an wen man glaubt. Je nachdem die Gemüter sind, hat ein Glaube Gewalt über sie, wie die verschiedenen Stoffe verschieden empfänglich sind für das Licht, daher auch in verschiedenen Farben sich darstellen. Nur kann nie genug gesagt werden, daß der Glaube nicht abhängt von Verstand oder Bildung. Bei Verstand oder Bildung findet man sehr häufig eine Glaubensweise oder eine Leichtgläubigkeit, welcher jeder Christ sich schämen müßte. Es gibt sogar Gelehrte, welche glänzende Examen gemacht, sie verachten die Evangelien, aber sie schwören mit einem wahren Köhlerglauben zu den Kollegienheften eines versoffenen Professors.

Ulis Knechtlein ists also nicht zu verargen, daß sie das Heilsame in seinen Ratschlägen nicht begriffen, dieweil sie halt keinen Glauben zu ihm hatten. Aber Uli ist zu bedauern, daß er sich den Sonntag rauben ließ, gleichsam so unvermerkt, wie Diebe die Börsen stehlen sollen, denn war er vormittags nicht in der Predigt, kam er nachmittags noch viel weniger in die Kinderlehre, kam aber auch zu keinem Buche. Nachmittags mußte er irgendwo aus, wo er an den Arbeitstagen sich nicht Zeit nahm, einem Handwerksmann nach oder um eine Kuh aus oder wollte Geld von einem Müller für Korn oder einem Wirte für eine fette Kuh. Es war immer etwas zu laufen, und manchmal lief er sich außer Atem und ward doch nicht fertig.

Man glaubt aber nun gar nicht, was das für einen Einfluß auf ein Gemüt hat, wenn kein Lichtstrahl von oben es mehr erleuchtet, kein Himmelsbrot es mehr kräftigt, die Dornen und Disteln des Lebens es überwuchern, die Sorgen und Gedanken um Gewinn und Gewerbe es dichten Nebeln gleich umschleiern. Man denke sich eine wilde Kluft, in welche die Sonne nie scheint, aus welcher die Nebel nie weichen, man denke sich, was da wächst, was da kriecht und flattert; man denke sich das grausige Leben, wenn man gebannt würde in eine solche Kluft, da leben müßte in den Nebeln unter dem giftigen Gezüchte und ohne Sonne, nicht einmal sich heben dürfte empor über den Rand der Kluft, nicht einmal mehr den Kopf recken könnte über die Nebel empor in frische, gesunde Luft hinein! Ähnlich nun ist es, wo der Geist des Herrn nicht über den Wassern schwebt, das Wort von oben nicht mehr die Sonne ist, welche die Nebel niederschlägt, wo im Dunkeln kriechen und wachsen kann, was dem finstern Gemüt entwächst, was die Welt ablagert in das finstere Gemüte. Man denke sich doch, wie es werden muß, wenn die Gedanken, welche dem Leibe entstammen, die Empfindungen, welche Haß und Neid gebären, die Sorgen, welche das Gefühl der eigenen Ohnmacht emportreibt, die Kümmernisse ums tägliche Brot und des äußeren Daseins Bestand alle bleiben, kriechen und schleichen durchs Gemüte, wie es da frostig und finster und unheimlich werden, was da für ein Leben sich gestalten muß, wenn des Herren Wort die Empfindungen nicht läutert, Kümmernis nicht verscheucht, die Gedanken und das Trachten nicht nach oben zieht, wenn es immer und immer nur tönet: Was werden wir essen, womit werden wir uns kleiden, wie kann ich meinen Bruder übervorteilen im Handel, wie kann ich mich rächen, mich erhöhen, ihn erniedrigen? Eine unerhörte Verkümmerung der Gemüter wird täglich sichtbarer, die Bande der Liebe und der Verwandtschaft faulen und lösen sich, das Hohe und Edle bleibt unbegriffen, ungesucht. Begeisterung wird lächerlich, Selbstsucht zur Sittlichkeit, und woher wohl das? Weil die Sonne fehlt, die den Nebel niederschlägt, weil das Wort fehlt, welches die Seelen speiset, die Liebe zeuget, zum Himmel zieht.

Diesen Wandel bei Uli fühlte niemand schmerzlicher als Vreneli. Es tat ihm vor allem weh, daß die Sonntagsruhe von der Glungge wich, das Getümmel der Arbeitstage nicht verstummte, das rechte Feierkleid, so glänzend rein und schön, Haus und Hof nie mehr so recht angezogen wurde. Wie Uli auch trieb und selbst zuweilen Hand anlegte, so recht aufgeräumt wurde nicht mehr, Zeit und Hände fehlten; Zeit und Hände mußten immer mehr da verwendet werden, wo ihr Tun was eintrug. Aber mehr noch grämte sich Vreneli wegen der Verdunklung von Ulis Gemüt. Seine Gedanken waren bloß auf Gewinn und Gewerb gerichtet. Sinn für was anderes zeigte sich immer weniger, immer weniger konnte Vreneli ein höher, besser Wort mit ihm reden, auf der Stelle war er bei Haushaltungssachen und dem, was in Mein und Dein einschlug. Er hatte selten Zeit mehr, das liebliche Mädchen auf den Knieen zu schaukeln oder auf den Armen ums Haus zu tragen, und machte ein ärgerliches Gesicht, wenn zuweilen sich jemand mit ihm versäumen mußte, was doch bei einem so jungen Kinde nicht anders möglich war. Ja manchmal schien es Vreneli, als sei Uli bereits auf dem Punkte angekommen, wo man nicht mehr frägt: Was ist recht vor Gott und macht das Herz nicht schwer, wenn es noch heute gestorben sein muß?, sondern: Wie komme ich am weitesten und was trägt mir am meisten ein? Das ist ein so gewöhnlicher, gemeiner Standpunkt und es stehen so viele Menschen darauf, daß man es nicht einmal merkt, auf was man steht und wer darauf steht. Vreneli stund aber nicht auf diesem Standpunkte. Ehrlich währe am längsten, daran glaubte es, und für unehrlich hielt es, was man nicht gern hatte, daß es einem in Handel und Wandel angetan würde. Es sah zu seiner Sache, nahm gerne einen guten Preis dafür, übervorteilte jedoch niemand, hing niemand was Schlechtes für was Gutes an. Es hatte die ganz sichere Ansicht, daß bei der Ehrlichkeit der größte Vorteil sei. Betrüge ich jemand, so hütet sich der vor mir und sagt es noch Andern. Gebe ich ihm die Sache recht und gut, so kömmt er wieder und sagt es Andern. So habe ich guten Absatz und gerne gibt man mir, was ich fordere. Ich möchte mir nicht nachreden lassen, daß ich jemand verkürzt hätte, sei es Reich oder Arm, so kalkulierte Vreneli. Uli im Nebel seines Treibens verlor die Fassungskraft für diese Grundsätze, sein Gesichtskreis zog sich zusammen, er begann dafür zu halten, daß ein Spatz in der Hand besser sei als eine Taube auf dem Dache, daß man nicht einen Kreuzer nach einem Taler werfen solle, indem man leicht um beides kommen könne, daß jeder heute machen müsse, was er könne, dieweil er nicht wisse, ob morgen noch ein Tag für ihn sei. Das ist die kurzsichtige Politik kurzsichtiger Menschen, welche nie an die Folgen denkt, eine Politik, an welcher so unendlich Viele verarmen an Leib und Seele, eine Politik, welche jedoch durchaus nicht zu verwechseln ist mit dem Ausspruch des Herrn: Sorget nicht für den morgigen Tag! Es ist genug, daß jeder Tag seine eigene Plage habe. Der führt uns bloß zu Gemüte, daß wir uns nicht kümmern sollen um das, woran wir nichts machen können, was aus Gottes Hand alleine kommt, daß wir trachten sollen nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, also darum uns kümmern sollen, das Rechte zu tun, in allen Dingen den Willen Gottes zu vollbringen wie die Engel im Himmel, daß zu uns komme sein Reich, daß geheiligt werde sein Name.

Es schien Vreneli, als ob es kalt werde um ihns. Es war ihm, wie es dem Frühling sein muß, wenn er, in der Liebe der Sonne aufgeblüht, allmählich abnehmen fühlt der Liebe Wärme, kalte Winde um ihn wehen, eisig, tödlich der Reif sich naht; wie es der Erde sein müßte, wenn feindselig unwiderstehlich eine Macht ihr ins Herz dringen würde und dort ausblasen wollte mit eisigem Munde die Feuer, welche des Herrn Hand selbsteigen sich angezündet auf dem allerheiligsten der Altäre, auf dem Herzen der Erden. Die Sterne über seinem Leben schienen erbleichen, sein Leben sich gestalten zu wollen zum Leben eines Hundes in einer Tretmühle, wo die Tage umgehen, aber das Trippeln und Trappeln alle Morgen neu angeht in gleicher Pein und gleichen Ängsten, bis am Abend die Glieder steif geworden und die Ruhe gesetzliche Notwendigkeit. Es war nicht die Arbeit, welche Vreneli beschwerlich fiel, es war die Atmosphäre, in welcher die Arbeit verrichtet werden sollte. Mit erfrornen Fingern macht man keine Knoten auf, mit erkältetem Gemüte wird Leichtes schwer verbracht. Liegt wohl hier ein bedeutender Teil der Schuld, daß Arbeit so schwer wird, die Klagen darüber so laut, die Sucht nach bloßem Genuß so mächtig, der Neid gegen Begünstigtere so giftig, die Menge oben und unten so weichlich? Sehr möglich, daß der Dunstkreis des Gemütes der Arbeit so günstig ist bei uns wie der Dunstkreis in Grönland Äpfeln und Birnen, von Trauben wollen wir nicht einmal reden.

Es ging schwer und alle Tage schwerer, das fühlte Vreneli wohl und mit alle Tage größerem Schmerze. In Beziehung auf den Landbau gehörte das Jahr zu den mühseligen zwar und doch zu den gesegneten. Es gibt solche Jahre zuweilen, wo man alles so mühsam stehlen muß, und wenn man am Ende alles übersieht, so hat man einen reichen Segen gewonnen, Jahre, wo unser Herrgott das ganze Jahr hindurch es selten jemand recht macht, ein beständiger Jammer ist, es sei nicht gut, es komme nicht gut, und am Ende ist alles wohl geraten, alles gut gekommen, und jedermann muß sagen: Es ist doch gut, daß ein Anderer als ich das Wetter macht und daß unsere Gedanken nicht seine Gedanken und unsere Ungeduld nicht seine Ungeduld ist. Uli machte mehr als hundert Taler mit Raps oder Reps, mit Klee- und Flachssamen, hatte eine Masse überflüssiger Kartoffeln, war glücklich im Stall gewesen; er hatte das Meiste selbst besorgt, so daß er aus Sachen, welche man sonst eben weniger rechnet, eine bedeutende Summe löste. Es läßt sich mit solchen Pflanzungen aller Art viel machen, aber sie brauchen fleißige Hände. Sie nehmen Leute und Zeit in Anspruch, und wo man ohnehin von beiden zu wenig hat, schaden sie mehr, als sie nützen. Man versäumt entweder sie oder die Hausarbeiten, und nichts ist beim Landbau nachteiliger als unrechte Zeit (Unzeit) und schlechte Arbeit. Was man an der Arbeit spart, muß man doppelt und dreifach am Lande büßen, manchmal alsbald, manchmal erst nach zwei, drei Jahren. Das nun faßte Joggeli ins Auge und behauptete, Uli nütze ihm den Hof aus und so sei es keine Kunst, Geld zu machen. Wenn der Hof dann nichts mehr abtrage, so gebe er ihn ihm wieder an die Hand und er könne zusehen, was damit machen; er ward hässig darüber, er sagte, er hätte es auch machen können, wenn er gewollt, aber er hätte nicht das Haus zum Fenster aus werfen wollen; die, welche ihm zu einem Pächter geraten, sollten jetzt kommen und sehen, wie es ihm ergehe: geraubet werde ihm das Geld, verhunzet das Land, und wer sich das alles müsse gefallen lassen und froh sein, wenn man ihm nicht noch die Kleider nehme, das sei er, Joggeli, der Glunggenbauer.

Aber neben diesem großen Verdruß hatte er doch auch seine große Freude, und diese Freude erwuchs ihm aus dem Mißgeschick, welches Uli mit seinem Gesinde hatte. Es war ein edler Stoff. Ulis alter Meister, der Bodenbauer, hatte ihn belehrt über die Bedeutung, welche ein guter oder böser Name für einen Knecht oder eine Magd hat, und dieses hatte Uli vollkommen begriffen, darnach gelebt und den Erfolg erfahren. Nun hätte der Bodenbauer Uli auch Vorlesungen halten sollen über den Wert des guten oder bösen Namens für Meisterleute, das hatte er leider unterlassen. Wahrscheinlich dachte er, Uli werde die allgemeine Regel auch auf sein neu Verhältnis anwenden können, aber im Anwenden, insbesonders auf sich und seine eigenen Verhältnisse, sind nicht alle Leute stark. Gar viele haben es wie der Vogel Strauß, der, wenn der Jäger ihm an der Ferse liegt, den Kopf unter einen Flügel steckt und meint, der Jäger sehe ihn nun so wenig als er den Jäger. Überhaupt haben die meisten Menschen die Meinung, sie seien gerade recht, wie sie seien, und wer anders sei als sie, der sei nicht recht. Diese Meinung findet man auf allen Stufen der Gesellschaft, sie macht sich geltend in allen Lebensgebieten, vom absoluten Staate weg bis ins Bettlerhandwerk hinein. Einem Absoluten oder einem mit absoluter Meinung von sich selbsten kömmt es nie in Sinn, daß er nicht den rechten Namen habe, daß er mit besonderer Vorsicht für einen guten zu sorgen hätte. Von solch absoluter Gesinnung sind nun unendlich viele Meisterleute, es fällt ihnen nicht ein, daß in der Masse der Dienstboten jedes Haus, jeder Meister und jede Meisterfrau einen viel ausgeprägtern Namen haben als Dienstboten unter den Herrschaften. Es ist unter den Dienstboten ein viel größerer Zusammenhang, ein viel inniger Zusammenhalten als unter den Herrschaften. Ach Gott, wenn so manches gute, liebe Frauchen wüßte, wie sie betitelt wird unter dem Gesinde, wie schwarz ihr Name angeschrieben stünde in der Weltgeschichte der Gesindestube, welch schrecklich dumme, lächerliche Geschichten man ihr nacherzählte, sie kriegte sicherlich Ohnmachten. Sie meint es nicht böse, aber sie hat keinen Begriff von diesen Verhältnissen, darum tölpelt sie darin so schrecklich herum. Es ist merkwürdig, wie dumm die Leute sind, besonders die Gebildeten. Da lassen sie zum Beispiel ihre Töchter bilden, mit großer Not und Geld, im Ausland und im Inland, in Klöstern und Pensionen, mit Gouvernanten und Tanzmeistern, damit der Tölpel abgeschliffen werde, damit sie sich in gebildeter Gesellschaft, in Salons und auf Dampfschiffen ohne Anstoß, aber mit Anstand leicht und angenehm bewegen könnten. Denn, wohl gemerkt, dies müsse gelernt sein, sagen sie, und eingeübt, von selbst gebe das sich nicht; so viel Verstand haben sie und richten ihre Töchter zum einfachen Teeservieren zum Beispiel monatelang ab. Aber so viel Verstand haben sie nicht, zu begreifen, daß man auch das Bewegen nach unten, in Gesindestube und Küche, erlernen und einüben muß, daß man da mit Anstand und taktfest sich bewegen lerne, nicht tölpelhaft werde und verhöhnt von Spandau bis Magdeburg. Man glaube es doch nur, es kömmt unendlich mehr Elend ins Haus, ins Gemüt, ins tägliche Leben, wenn die Herrschaft, namentlich die Frau, taktlos und tölpelhaft in der Küche und unter dem Gesinde hantiert, als wenn sie linkisch im Salon tut und eben nicht graziös sich zu beugen und zu neigen weiß. Ach Gott, wie manches gute, liebe Frauchen sah dies nach Jahren, nachdem sie unsäglichen Jammer ausgestanden, ein Elend geschluckt hatte, ein zehnmal größeres als Napoleon im Feldzug von Rußland, endlich ein, lernte, was sie versäumt hatte, suchte gut zu machen, den Ruf zu verbessern, aber wie lange versuchte sie dies umsonst! Ein guter Name geht in Augenblicken verloren, ein schlechter wird in Jahren nicht zu einem guten. Ist bei einer Herrschaft, welche nicht im guten Geruch steht, eine Stelle leer, so melden sich diejenigen nicht, welche etwas auf ihrem Rufe halten. Ein guter Knecht hält sich für hundertmal mehr als ein schlechter Meister und es tief unter seiner Würde, bei ihm sich zu melden, er findet überall sein Fortkommen. Es meldet sich also lauter mittelmäßig oder schlecht Zeug, und auch dieses tritt mit vorgefaßter Meinung ein. «Da mache nur, was du willst, und laß dich nicht kujonieren; da bleibst doch nicht lang, da ist noch Keins lange geblieben,» heißt es in allen Ecken. Ja, so ein Mägdlein würde es für eine eigentliche Schmach halten, wenn es länger bliebe als die Andern, und was es während der kurzen Zeit der Madame zu schlucken gibt und für Ärger macht, wer spricht es aus, wer schreibt es nach! Und dies alles rühmt es als Heldentaten beim Brunnen, beim Bäcker, beim Fleischer, und wenn es beten täte, würde es dasselbe sagen, es Gott rühmen, so verdienstlich kömmt es ihm vor. Daß endlich dabei das Gemüt eines Meisters oder einer Meisterfrau versauert und verbittert, wen will das wundern? Was ist dies für ein Dabeisein? Wir fragen. Aber kann es anders kommen, wenn man mit solchen Vorurteilen in ein Haus kömmt, oder wer will von ungebildeten, rohen Menschen erwarten, daß sie alsbald Mißtrauen und Vorurteile ablegen, die Verhältnisse sehen, wie sie sind? Wer will das Aufgeklärten zumuten? Jeder neue Dienstbote erneuert also den alten Ruf, ob mit Recht oder Unrecht, das untersucht niemand mehr, man nimmt es als einmal gegeben an, als ein fait accompli, frischt also damit das alte Elend neu auf, und fast unmöglich wird es beim besten Willen, diesem Ruf bei Lebzeiten noch ein Ende zu machen.


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