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Dreißigstes Kapitel

In dem großen Treibhaus von Ravensham stand Lady Casterley dicht neben einigen japanischen Lilien mit einem Brief in der Hand. Ihr Gesicht war ganz weiß, denn sie hatte zum erstenmal nach einer Influenza das Zimmer verlassen; und auch ihre sonst feste Hand, die den Brief hielt, zitterte ein wenig. Sie las:

 

›Monkland Court.

Rasch ein paar Zeilen, liebe Mutter, ehe die Post abgeht, um Dir zu sagen, daß Babs glücklich abgereist ist. Das Kind sah wunderschön aus. Sie läßt Dich herzlich grüßen und läßt Dir so eine dumme Botschaft ausrichten, nämlich: Du würdest gerne hören, daß sie nun in Sicherheit sei und mit beiden Füßen fest auf dem Boden stünde.‹

 

Ein grimmiges, leises Lächeln spielte um Lady Casterleys blasse Lippen. Ja, in der Tat, es war auch Zeit! Das Kind war sehr nahe am Rand des Abgrunds gewesen, sehr nahe daran, eine romantische Dummheit zu begehen! Das war nun vorüber! Sie hielt den Brief wieder hoch und las weiter:

 

›Wir waren natürlich alle dabei und fahren morgen zurück. Geoffrey ist ganz melancholisch. Es kann doch nie mehr so sein wie früher, ohne unsere Babs. Ich habe Eustace sehr genau beobachtet, ich glaube wirklich, daß er endlich sicher über diese Geschichte hinweg ist. Er leistet eben außerordentlich Tüchtiges im Parlament. Geoffrey sagt, seine Rede über die Armengesetzgebung wäre weitaus die beste gewesen.‹

 

Lady Casterley ließ die Hand mit dem Briefe sinken. Sicher hinweg? Ja, er war über die Geschichte sicher hinweg! Er hatte das Rechte, das Natürliche getan! Und mit der Zeit würde er auch glücklich werden! Er würde jetzt zu jener Zinne der Macht emporklimmen, die sie für ihn erträumt hatte, seit er ganz klein gewesen war, seit seine kleine braune Kinderhand in ihrer gelegen hatte, als sie zwischen den Blumen spazieren gingen oder zwischen den Möbeln der großen Zimmer. Aber wie sie so dastand, den Brief zerknitternd, grauweiß, wie ein kleiner, energischer Geist zwischen den hohen Lilien, die mit ihrem Duft das große Treibhaus erfüllten, flogen Schatten über ihr Gesicht. War es das flüchtige Nachmittagssonnenlicht? Oder dämmerte ihr der Sinn des alten griechischen Ausspruchs auf: ›Der Charakter ist das Schicksal‹? Begann sie plötzlich die allgemeine Wahrheit zu begreifen, daß wir alle Sklaven der eigenen Natur sind, und daß gerade das, was wir am sehnlichsten gewünscht haben, uns schließlich versklaven muß?

 


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