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Einundzwanzigstes Kapitel

Erst am Morgen des Wahltags verließ Courtier Monkland Court. Er hatte bereits eine Zeitlang an schlechtem Gewissen gelitten. Denn sein Knie war fast geheilt, und er wußte recht gut, daß es Barbara und nur Barbara war, derentwegen er blieb. Die Atmosphäre des großen Hauses mit seiner Armee von Dienern, die Unmöglichkeit, etwas für sich selbst zu tun und das Gefühl, von der tätigen und entbehrungsreichen Seite des Lebens gänzlich isoliert zu sein, ärgerte ihn außerordentlich. Diese Leute, die eine Existenz führten, die von ihrer eigenen gesellschaftlichen Wichtigkeit förmlich erdrückt zu werden schien, taten ihm aufrichtig leid. Es war nicht ihre Schuld, er sah ein, daß sie ihr Bestes taten. Sie waren gute Exemplare ihrer Art, weder verweichlicht, noch zu üppig, wie dies gewöhnlich in einem degenerierten und verschwenderischen Zeitalter der Fall war; sie versuchten augenscheinlich einfach zu sein – und das schien ihm das Traurige ihrer Lage zu vergrößern. Sie waren ihrem Schicksal nicht gewachsen. Welcher menschliche Geist konnte auch frei und ohne Schaden aus jener großen, ihn einschließenden Heerschar materieller Vorteile hervorgehen? Einem Beduinen wie Courtier kam es vor, als ob sich eine kaum offenbare, doch entsetzliche Tragödie vor seinen Augen abspielte; und ganz im Mittelpunkt dieser Tragödie stand das Mädchen, das ihn so sehr anzog. Jede Nacht, wenn er sich in sein geräumiges Zimmer begab, das so fein duftete und wo alles ohne Aufhebens so vortrefflich für seine Bequemlichkeit eingerichtet war, dachte er:

»Beim Himmel, morgen reise ich ab!«

Jeden Morgen aber, wenn er sie beim Frühstück traf, war sein Gedanke genau derselbe, und in manchem Augenblick ertappte er sich bei der Frage: ›Falle auch ich in den Bann dieser Existenz – verweichliche ich?‹ Er erkannte wie nie zuvor, daß die besondere, künstliche ›Selbstzucht‹ des Patriziers eine Art Konservierungsmittel war, von dem er sich mit dem Instinkt der Selbsterhaltung ganz hatte durchdringen lassen, um den Verfall seines verzärtelten Organismus zu verhindern. Er merkte es sogar an Barbara – eine Art gefühlssicherer Hülle, etwas wie Mißtrauen gegen alles Gefühlsmäßige, Lyrische, etwas wie Verachtung für Sympathie und Empfinden. Und tagtäglich trat die Versuchung stärker an ihn heran, mit rauher Hand dies Gewand zu zerreißen; herauszufinden, ob er sie nicht dazu bringen könnte, Feuer zu fangen und von einem Gefühl oder einer Idee entflammt zu werden. Trotz ihrer quälenden, jugendlichen Selbstsicherheit merkte er, wie sie dieses Sehnen in ihm fühlte, und dann und wann ward er flüchtig einer Art Sorglosigkeit an ihr gewahr, die ihn weiterlockte.

Und dennoch, als er sich endlich am Abend vor dem Wahltag von ihr verabschiedete, konnte er sich nicht schmeicheln, wirklich einen Funken aus ihr geschlagen zu haben. Bei dieser letzten Begegnung gab sie ihm keinerlei Gelegenheit, sondern stand ruhig und lächelnd unter den andern Frauen, als wäre sie entschlossen, sich von ihm nicht wieder durch seine ironische Ergebenheit verspotten zu lassen.

Am nächsten Morgen stand er ganz zeitlich auf, da er ungesehen verschwinden wollte. In dem ihm zur Verfügung gestellten Auto fand er eine kleine Gestalt in einem Leinenkleidchen, die sich gegen die Kissen zurücklehnte, so daß ein paar von Sandalen bekleidete Zehen zum Rücken des Chauffeurs emporwiesen. Sie gehörten Klein-Ann, die im Laufe der Geschäfte das Fahrzeug vor der Tür entdeckt hatte. Ihre unerwartete, schwache Stimme unter der plötzlichen kleinen Nase, die freundlich, wenn auch nicht zu freundlich sprach, war für Courtier beruhigend.

»Fahren Sie fort? Ich kann bis zum Tor mitkommen.«

»Das fügt sich gut.«

»Ja. Ist das Ihr ganzes Gepäck?«

»Leider.«

»O! Es ist wirklich eine ganze Menge, nicht wahr?«

»So viel, wie ich verdiene.«

»Natürlich brauchen Sie keine Meerschweinchen mit sich herumzuschleppen!«

»Gewöhnlich nicht.«

» Ich tu's immer. Da ist Großmütterchen!«

Es war tatsächlich Lady Casterley, die etwas abseits vom Fahrweg stand und einem großen Gärtner Weisungen erteilte, was er mit einer alten Eiche tun sollte. Courtier stieg aus und ging auf sie zu, um sich von ihr zu verabschieden. Sie begrüßte ihn mit einer gewissen grimmen Herzlichkeit.

»Sie gehen also! Das freut mich, obzwar Sie durchaus versichert sein können, daß Sie mir persönlich sympathisch sind.«

»Durchaus!« Ihre Augen glänzten boshaft.

»Männer, die wie Sie lachen, sind, wie ich Ihnen bereite gesagt habe, gefährlich!«

Dann fuhr sie sehr ernsthaft fort:

»Meine Enkelin wird Lord Harbinger heiraten. Ich erwähne das, Mr. Courtier, um Ihres Seelenfriedens willen. Sie sind ein Ehrenmann; die Sache wird nicht weitergehen.«

Courtier, sich über ihre Hand beugend, entgegnete:

»Dann wird er Glück haben.«

Die kleine alte Dame sah ihn fest an.

»Jawohl. Adieu!«

Courtier lüftete lächelnd den Hut. Seine Wangen brannten. Als er wieder das Auto erreicht hatte, sah er sich um. Lady Casterley war neuerlich damit beschäftigt, den großen Gärtner zu belehren. Klein-Anns Stimme unterbrach seine Gedanken:

»Hoffentlich kommen Sie wieder. Denn ich glaube, daß ich zu Weihnachten hier sein werde; und auch meine Brüder werden dann hier sein, Jock und Tiddy, Christopher nicht, weil er zu klein ist. Ich muß jetzt gehen. Adieu! Hallo, Susie!«

Courtier sah sie davonschlüpfen und sich dem kleinen, blassen, anbetenden Pförtnerstöchterchen beigesellen.

Das Auto fuhr in den Heckenweg hinaus.

Hätte Lady Casterley diese Enthüllung geplant, was tatsächlich nicht der Fall gewesen war, denn erst bei Courtiers Lachen hatte sie sich impulsiv dazu entschlossen, so hätte sie keine wirksamere ersinnen können. Tief in seinem Innern lebte das überaus rege Mißtrauen eines Heimatlosen, das fast an Verachtung grenzt Leuten gegenüber, die so jeder weitern Entwicklung unfähig, die so seßhaft und so fix und fertig waren wie Aristokraten oder Bürger, lebte der ganze Schrecken eines Mannes der Tat vor allem, was er ›winseln und wehklagen‹ hieß. Ihm, der nur wenig Sinn für konventionelle Moral, jedoch stark ausgeprägte Selbstachtung besaß, wäre es natürlich nicht eingefallen, Barbara ohne den Gedanken an eine Ehe nachzustellen; und das geheime Bemühen, Harbinger auszustechen, das in einer Ehe enden sollte, wobei er etwa die Rolle eines Piraten spielen würde, war ebenso wenig nach dem Geschmack eines Mannes, der sich gern für genau so gut wie jeden andern hielt.

Er ließ das Auto auf den Weg zu Audrey Noels Häuschen abbiegen, denn er mochte nicht weggehen, ohne jenem Schiff in Not ein ermutigendes Signal zu geben.

Sie kam zu ihm auf die Veranda heraus. Aus dem Druck ihrer schmalen und etwas gebräunten Hand – die Hand einer Frau, die nie ganz müßig war – fühlte er, daß sie auf sein Verständnis und seine Sympathie baute; und nichts konnte dermaßen Courtiers Edelmut wachrufen wie solch stummer Appell an seinen Schutz. Er sagte sanft:

»Lassen Sie sie nicht merken, daß Sie entmutigt sind.« Er drückte ihre Hand fest: »Warum sollten Sie Ihr Leben so vergeuden? Es ist eine Schmach und Schande!«

Er hielt jedoch inne, als er beim Anblick ihres regungslosen Gesichtes, das so viel mehr als Worte sagte, seine Rede als unangebracht empfand. Er protestierte als zivilisierter Mann; ihr Antlitz war der Protest der Natur, die stumme Erklärung gegen ihren Willen vergeudeter Schönheit, einer Schönheit, die das Leben zu der Umarmung einlud, welche das Leben in die Welt rief.

»Ich mache mich aus dem Staube,« sagte er. »Wir beide passen nicht zu diesen Leuten. Hier kann man keine wilden Vögel brauchen!«

Sie drückte seine Hand, ging wieder ins Haus zurück, und Courtier betrachtete den Flecken Luft, wo ihre weiße Gestalt gestanden hatte. Er hatte sich stets als besonderer Beschützer Audrey Noels gefühlt, und dieses Gefühl hätte bei ein wenig Ermunterung ein wärmeres werden können. Doch da sie sich in dieser Sonderstellung befand, hätte er nicht um die Welt den Tau von ihrem Glauben abstreifen wollen, daß sie ihm vertrauen könne. Und da er nun selbst den Blick auf eine andere geworfen hatte und Audrey in dieser bittern Not war, empfand er ihretwegen den Groll, den ein Bruder fühlt, wenn Gerechtigkeit und Mitleid sich verschworen haben, seine Schwester zu verhöhnen. Die Stimme des Chauffeurs Frith erweckte ihn aus seinem düstern Sinnen: »Lady Barbara, gnädiger Herr!«

Courtier folgte den Augen des Mannes und sah, wie sich auf dem Fels über ›Ashmans Torheit‹ eine Reiterstatue am Horizont abhob. Er ließ den Wagen sofort halten und stieg aus.

Er erreichte sie bei der Ruine; diese war Blicken von der Straße durch jene göttliche Fügung entzogen, die solchen Menschen günstig ist, welche sie auszunützen verstehen. Er konnte nicht sagen, ob sie von seinem Herannahen gewußt hatte, und er hätte seine ganze Habe hergegeben, die nicht groß war, wenn er durch das steife Grau ihres Kleides und die zarte Cremefarbe ihres Körpers in jenen geheimnisvollen Winkel, ihr Herz, hätte schauen können, wenn er einen Augenblick wie Ashman von allem Materiellen gänzlich losgelöst gewesen wäre und ein Geisterdasein dort hätte führen können, wo keine Schranken zwischen Mann und Weib sind. So rätselhaft erschien ihm das Lächeln auf ihren Lippen, das durch ihren Willen darauf gehaucht war wie die erste, den Frühlingswinden zum Hohn auf die Erde gehauchte Blume. Wie konnte man wissen, was es bedeutete! Und dennoch tat er sich etwas auf seine Kenntnis der Frauen zugute, von denen er so manches gesehen hatte. Doch er vermochte nur hervorzubringen:

»Ich freue mich über diesen Zufall.«

Als er dann plötzlich emporsah, kam sie ihm seltsam bleich und bebend vor.

»Ich werde Sie in London wiedersehen!« sagte sie, berührte das Pferd mit der Peitsche und ritt, ohne sich umzuwenden, über den Berg davon.

Courtier kehrte zur Heidemoor-Straße zurück und murmelte, als er in den Wagen stieg:

»Bitte schneller, Frith!« …


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