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Neuntes Kapitel

In dem kleineren Salon, den man benutzte, wenn nur so wenige Gäste da waren, war Mrs. Winlow zum Klavier getreten und spielte für sich allein, denn Lady Casterley, Lady Valleys und deren beide Töchter waren zusammengerückt, als wollten sie vereinigt diesem feindlichen Gerücht die Stirn bieten.

Es sprach erstaunlich zu Gunsten von Miltouns Charakter, daß man hier ebenso wenig wie im Speisesaal in die Lauterkeit seiner Beziehungen zu Mrs. Noel Zweifel setzte. Während man aber dort nur den Einfluß der Angelegenheit auf die Wahl in Betracht zog, war hier schon erkannt worden, daß der Schwerpunkt der Sache ganz wo anders lag. Der Geist dieser Frauen, der mit intuitiver Schnelligkeit den Kern von allem erfaßte, was ihre männlichen Angehörigen betraf, hatte bereits die Tatsache begriffen, daß dieses Gerücht einen Mann von Miltouns Veranlagung an jene Frau gewissermaßen ketten müßte.

Sie bewegten sich jedoch auf einer so dünnen Schicht von Tatsachen, worunter sich ein so tiefer Sumpf von Vermutungen befand, daß die Unterhaltung fast zur Qual ward. Vielleicht hatte noch nie zuvor eine dieser vier Frauen so klar und so stark gefühlt, welch bedeutende Rolle Miltoun – jener recht sonderbare und unbekannte Enkel, Sohn und Bruder – in ihren Zukunftsplänen spielte. Ihre unterdrückte Aufregung gab sich auf sehr verschiedene Weise kund. Lady Casterley, die aufrecht in ihrem Stuhle saß, verriet sie nur durch eine erhöhte Entschiedenheit im Sprechen, die fortwährende nervöse Bewegung der einen Hand, die schmale Falte zwischen ihren sonst immer ruhigen Brauen. Lady Valleys blickte ratlos drein, als überrasche es sie ein wenig, sich selbst ernst zu sehen. Agatha sah aufrichtig besorgt aus. In ihrer ruhigen Art war sie eine Frau von starkem Charakter und jener natürlichen Frömmigkeit, die die bestehende Ordnung des Lebens und der Religion ohne eine Frage hinnimmt. Da Heim und Familie ihr die Welt bedeuteten, empfand sie einen wahren, wenn auch nur sanft geäußerten Schrecken vor allem, was, wie sie instinktiv fühlte, diese Ideale zerstört. Man hielt sie für etwas phlegmatisch, langweilig und beschränkt, man verglich sie mit der Henne, die ewig um ihre Küchlein gluckt. Der Anflug von Heroismus in ihrer Natur war vielleicht nicht so offenbar. Ihr Mitgefühl mit der Lage ihres Bruders war jedoch ehrlich und ließ sich weder ändern noch beruhigen. Sie sah ihn in Gefahr, Schaden zu nehmen in dem einzigen Sinne, in dem ein Mann für sie existierte: als Gatte und als Vater. Das war es, was sie sich so zu Herzen nahm, obgleich sie in ihrer Frömmigkeit auch seine Seele gefährdet sah; denn sie teilte die Auffassung der Landeskirche über die Unlösbarkeit der Ehe.

Was Barbara anbetraf, so stand sie am Kamin, die weißen Schultern gegen das verzierte Marmorsims gelehnt, die Hände auf dem Rücken, und blickte zu Boden. Ab und zu kräuselten sich ihre Lippen, zuckten ihre geraden Brauen, entrang sich ihr ein matter Seufzer; dann kam ein leises Lächeln zum Vorschein, das jedoch sofort unterdrückt ward. Sie allein schwieg still – die Jugend kritisierte das Leben; ihr Urteil fand nur Ausdruck in dem gleichmäßigen Auf- und Abwogen ihres jungen Busens, der Ungeduld ihrer Brauen, dem gesenkten Blick ihrer blauen Augen, aus denen ein ruhiges, unauslöschliches Leuchten strahlte.

Lady Valleys seufzte.

»Wenn er nur nicht so ein sonderbarer Junge wäre! Er ist ganz der Mann dazu, sie aus purem Eigensinn zu heiraten.«

»Was?« rief Lady Casterley.

»Du hast sie noch nicht gesehn, liebe Mutter. Eine leider ungemein anziehende Person – ein entzückendes Gesicht.«

Agatha sagte ruhig:

»Mutter, wenn sie wirklich geschieden ist, so glaube ich kaum, daß Eustace es tut.«

»Gewiß nicht, das ist noch das einzige,« murmelte Lady Valleys, »hoffen wir das beste!«

»Weißt du nicht einmal, welcher von den beiden sich hat scheiden lassen?« fragte Lady Casterley.

»Also der Pfarrer sagt, sie hätte es getan. Aber er ist sehr nachsichtig; es kann auch so sein, wie Agatha hofft.«

»Ich hasse alle Ungewißheit. Warum fragt denn eigentlich niemand dieses Frauenzimmer?«

»Ich will dich hinführen, liebes Großmütterchen, und du sollst sie selbst fragen; du wirst es so liebenswürdig tun.«

Lady Casterley blickte auf.

»Wir werden sehen,« gab sie zurück.

Etwas kämpfte mit der autokratischen Kritik in ihren Augen. Ebenso wenig wie die übrige Welt konnte sie anders handeln, als Barbara gewähren lassen. Ihr, die von der Gottgewolltheit ihres Standes überzeugt war, gefiel dies prachtvolle Kind. Sie bewunderte sogar – obgleich Bewundern nicht ihre Gewohnheit war – jene warme Lebensfreude, die der einer schönen Nymphe glich, die mit nackten Gliedern die Wogen teilt und den Schaum der Brandung von sich schüttelt. Sie empfand, daß in diesem Enkelkinde viel eher als in der braven Agatha der Patriziergeist verkörpert war. Agatha hatte wohl ihre guten Seiten, Ernsthaftigkeit und vornehme Gesinnung; aber etwas moralisch Engherziges und übertrieben Kirchliches verletzte das praktisch-weltliche Temperament Lady Casterleys. Es war eine Schwäche und Schwäche war ihr unsympathisch. Barbara, die würde nie bedenklich werden über Moralfragen oder Angelegenheiten, die für die Aristokratie nicht von Bedeutung waren. In der Tat konnte sie aus purem Übermut nur zu sehr nach der andern Seite hin über die Schnur hauen. Hatte doch das unverschämte Kind gesagt: ›Leute ohne Vergangenheit können auch keine Zukunft haben.‹ Und Lady Casterley fand Leute ohne Zukunft unerträglich. Sie war ehrgeizig; es war nicht der niedrige Ehrgeiz eines Menschen, der sich aus nichts emporgearbeitet hat, sondern die große Leidenschaft dessen, der obenauf ist und oben bleiben will.

»Und wo hast du dieses – eh – anonyme Geschöpf kennen gelernt?« fragte sie.

Barbara trat vom Kamin auf sie zu und wie sie sich jetzt über Lady Casterleys Stuhl beugte, schien sie diese vollkommen einzuhüllen.

»Ich bin ganz normal, Großmütterchen; mich konnte sie nicht betören.«

Lady Casterley lugte zweifelnd aus jener wohligen Hülle hervor mit einem Blick mißbilligenden Behagens.

»Ich kenne deine Schliche!« sagte sie. »Heraus damit!«

»Ich sehe sie dann und wann. Es ist eine Freude, sie anzuschaun. Wir wechseln ein paar Worte.«

Wieder sprach Agatha in ihrer hastigen Ausdruckslosigkeit:

»Meine liebe Babs, du solltest wirklich nicht so voreilig sein.

»Mein lieber Engel, warum denn nicht? Was liegt mir daran, wenn sie auch vier Männer gehabt hat?«

Agatha biß sich auf die Lippen und Lady Valleys murmelte lachend:

»Du bist wirklich entsetzlich, Babs!«

Eben verstummte Mrs. Winlows Musik, denn die Herren waren eingetreten. Und die Gesichter der vier Frauen schienen auf einmal gleichgültig, als hätten sie Masken darüber gezogen; obgleich dies infolge der Verwandtschaft zweiten Grades mit den Winlows fast oder ganz eine Familiengesellschaft war, empfand doch jede dieser vier auf ihre eigene Art und Weise, daß sich dieses Thema nicht so allgemein diskutieren ließ. Das Gespräch sprang von der Kriegspanik – Winlow wollte ganz bestimmt wissen, daß es damit in einer Woche vorbei sein würde – auf Brabrooks Rede über, die wohl gerade im Augenblick gehalten wurde und von der Harbinger eine Imitation zum besten gab. Die Unterhaltung kam auf Winlows Flug, auf Andrew Grants Artikel im ›Parthenon‹, auf die Karikatur Harbingers im ›Klatsch‹ mit dem Titel ›Der neue Tory. L-rd H-rb-ng-r lenkt die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf Sozialreform‹. Sie stellte ihn dar, wie er einen nackten Säugling einer Anzahl alter Damen mit Adelskronen hinhielt. Dann war die Rede von einer Tänzerin. Dann von der Gesetzesvorlage über allgemeine Versicherung. Abermals von der Kriegspanik; vom letzten Buch eines berühmten französischen Schriftstellers; und noch einmal von Winlows Flug. Alles klang freimütig und zwanglos, jeder schien das zu sagen, was ihm gerade einfiel. Trotz alledem aber vermied man seltsamerweise, auf die geistige Bedeutung dieser Dinge einzugehen; oder erkannte man etwa eine solche Bedeutung gar nicht?

Lord Dennis, am andern Ende des Zimmers in eine Mappe mit Kupferstichen vertieft, fühlte, wie etwas seine Wange berührte; und einen gewissen Duft erkennend, sagte er, ohne den Kopf zu wenden:

»Hübsche Sachen das, Babs!«

Da er ohne Antwort blieb, sah er auf.

Barbara stand tatsächlich da.

»Es ist mir so zuwider, wenn man sich über Leute hinter ihrem Rücken mokiert!«

Zwischen diesen beiden hatte stets gute Kameradschaft geherrscht, schon seit den Tagen, als Barbara – ein goldhaariges Kind, das auf einem grauen Pony im Herrensitz ritt – ihn während der ganzen Season allmorgendlich auf seinem Spazierritt durch den Hydepark begleitet hatte. Die Zeit des Reitens war nun für ihn vorbei; von allen Vergnügungen im Freien übte er jetzt nur mehr das Fischen aus, das er mit der ironischen Ausdauer einer verschlossenen, hochsinnigen Natur betrieb, die nicht eingestehen will, daß die geheimnisvolle Hand des Alters schon auf ihr ruht. Aber war Barbara auch nicht mehr seine Begleiterin, so erwartete er doch noch immer ihr Vertrauen; und daher sah er ihr besorgt-verwundert nach, als sie von ihm weg an ein Fenster trat.

Es war eine jener Nächte, dunkel, jedoch leuchtend, wo die Bosheit am Himmel hinzutreiben scheint; wo die Sterne, unter und über schwarzen Wolken, Augen gleichen, die mit vorsätzlicher Böswilligkeit drohend auf die Menschen herabblitzen. Sogar die hohen, seufzenden Bäume waren von diesem Geist besessen, bis auf einen einzigen, eine dunkle turmähnliche Zypresse, die schon dreihundertfünfzig Jahre dort stand, deren hochragende Gestalt so recht den Geist der Tradition verkörperte und die weder schwankte, noch ein Ächzen ausstieß wie die andern Bäume. Von ihr, die zu fest gefügt, zu widerstrebend war, um sich vom Atem der Natur durchwehn zu lassen, kam nur ein trockenes Rascheln. Immer noch exotisch, obwohl sie hier Jahrhunderte schon wuchs, sah sie, durch die Augen der Nacht nunmehr zum Leben erweckt, geradezu furchterregend aus in ihrer speergleichen, herben Strenge, als ob etwas in ihrer Seele vertrocknet und erstorben wäre. Barbara trat vom Fenster zurück.

»Mir scheint,« sagte sie, »wir können unser Leben lang nur mit dem Gedanken spielen, uns ganz für eine Sache einzusetzen!«

Lord Dennis gab trocken zurück:

»Ich verstehe nicht recht, was du meinst, meine Liebe.«

»Sieh dir einmal Mr. Courtier an!« murmelte Barbara. »Er führt doch ein um so viel gefahrvolleres Leben als irgend einer unserer Männer. Und doch mokieren sie sich über ihn.«

»Na, was hat er denn bisher geleistet?«

»Ach, wahrscheinlich nichts Besonderes; doch bei ihm heißt es stets: alles oder nichts. Was aber liegt zum Beispiel Harbinger an einer Sache? Wenn seine Sozialreform ins Wasser fällt, wird er noch immer Harbinger mit fünfzigtausend Pfund im Jahr sein.«

Lord Dennis sah etwas sonderbar zu ihr empor.

»Wie? Ist's möglich, daß du den jungen Mann nicht ernst nimmst, Babs?«

Barbara zuckte die Achseln; von einer Schulter glitt das Band ein wenig herab.

»Es ist ihm wirklich alles nur ein Spiel, und das weiß er auch – das merkt man seiner Stimme an. Natürlich kann er nichts dafür, und das weiß er ebenfalls.«

»Ich habe gehört, daß er sich für dich interessiert, Babs; ist das wahr?«

»Er hat mich noch nicht eingefangen.«

»Wird er's?«

Barbaras Antwort war wieder ein Achselzucken; und ungeachtet aller Schönheit ihrer marmorgleichen Schultern glich es dem Achselzucken eines kleinen Mädchens mit einem Schürzchen.

»Und dieser Mr. Courtier –,« meinte Lord Dennis trocken, »interessierst du dich für ihn?«

»Ich interessiere mich für alles; das weißt du doch, mein Lieber!«

»Aber mit Maß, mein Kind!«

»Aber mit Maß, natürlich – wie der arme Eusty!« Sie hielt inne. Harbinger selbst stand dicht vor ihr mit einer Miene, die der Ehrerbietung so nahe kam, wie sie sonst nie an ihm zu bemerken war. Ja, er sah sie mit fast zaghaften Blicken an.

»Möchten Sie mir nicht das Lied vorsingen, das mir so gut gefällt, Lady Babs?«

Sie gingen zusammen fort; und Lord Dennis, der dem prächtigen jungen Paare nachsah, strich sich nachdenklich den Bart.


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