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Zweiter Teil


Erstes Kapitel

Um drei Uhr am Nachmittag des neunzehnten Juli begann die kleine Ann Shropton den Aufstieg über die Haupttreppe von Valleys House in London. Sie kletterte langsam empor, genau in der Mitte, eine außerordentlich winzige, weiße Gestalt auf den breiten, schimmernden Stufen, die sie laut zählte. Ihre Zahl war am nächsten Tage immer wieder anders, weshalb sie Ann, für die etwas Neues des Lebens Würze war, sehr interessant fand.

Als sie zu der Stelle kam, wo die Treppe auseinanderzweigte, hielt sie inne, um zu überlegen, welche der beiden Treppen sie das letztemal benützt hatte, und da es ihr nicht einfiel, setzte sie sich nieder. Sie hatte eine Botschaft zu überbringen. Diese war neu gewesen, als sie sich auf den Weg begeben hatte, war jedoch jetzt schon verhältnismäßig alt und würde wahrscheinlich noch mehr an Interesse verlieren, in Anbetracht des nun von ihr gefaßten Planes, durch die ganze Bildergalerie zu spazieren. Und das durch ein großes Fenster hereinströmende Sonnenlicht überflutete das Innere des weiten Raumes aus schimmerndem Holz und Marmor, aus dem sie gekommen war, mit hellem Glanz, während sie so dasaß und diesen Plan zur Reife brachte. Klein-Anns Natur verwarf gewohnheitsmäßig Feen und alle phantastischen Wesen, da sie ihr zu sehr in der Luft schwebten und nicht genug Wirklichkeit und ›Zug‹ besaßen; und dieser Glanz, der in seiner wandernden Herrlichkeit fast nicht mehr irdisch war, strich über ihr kleines Haupt hinweg und spielte seltsam um die Pfeiler im Vorraum, ohne in ihr die leisesten Vorstellungen oder Gefühle wachzurufen. Der Wunsch, zu entdecken, was am Ende der Bildergalerie wäre, nahm ihren durchaus praktischen und tätigen Geist ganz in Anspruch. Nachdem sie sich für die Treppenflucht zur linken Hand entschlossen hatte, betrat sie jenen unendlich langen, schmalen und infolge der herabgelassenen Jalousien ziemlich dunkeln Salon. Da der Fußboden hier sehr schlüpfrig war, trippelte sie vorsichtig weiter und mit einer gewissen Feierlichkeit, die teils durch das Dunkel, teils durch die Gemälde hervorgerufen war. Tatsächlich sahen sie in diesem Lichte etwas furchterregend aus, jene alten Caradocs – einige von ihnen schwarze, gepanzerte Geschöpfe, die wie mit brennender, grimmer Kampfgier die kleine weiße Gestalt ihres Nachkommen, die zwischen ihnen hindurchging, anzustarren schienen. Doch Klein-Ann, die wußte, daß es nur Bilder waren, verfolgte unverrückbar ihren Kurs und dann und wann, wenn sie einen passierte, der ihr häßlicher als die übrigen vorkam, rümpfte sie ihre plötzliche kleine Nase. Wie sie erwartet hatte, zeigte sich am Ende eine Tür. Sie öffnete sie und trat auf einen Treppenabsatz hinaus. In der Ecke war eine steinerne Stiege, und es waren auch zwei Türen dort. Es wäre doch lustig, die Stiege emporzugehen, aber es wäre auch lustig, die Türen zu öffnen. Mit einem leisen Schauer ging sie auf die erste Türe zu und drehte den Griff um. Es war einer jener in einem Haushalt notwendigen Räume, an denen sie keinen besonderen Gefallen fand; und nachdem sie diese Tür etwas laut geschlossen hatte, öffnete sie die andere und stand in einem Zimmer, das denen unten, die alle hoch und schön vergoldet waren, gar nicht ähnlich sah, sondern eher dem, in welchem sie ihren Unterricht erhielt – niedrig und voll von Büchern und Lederstühlen. Vom Ende des Zimmers her, das sie nicht sehen konnte, vernahm sie ein Geräusch, als ob jemand etwas küßte, und aus Instinkt wollte sie fast schon fortgehen, als das Wort »Hallo!« ihr plötzlich die Lippen öffnete. Und fast gleich darauf sah sie, daß Großmamachen und Großpapa am Kamin standen. Da sie nicht recht wußte, ob ihre Gegenwart willkommen war, kam sie näher und begann sofort:

»Sitzt du gewöhnlich hier, Großpapa?«

»Jawohl.«

»'s ist nett, nicht wahr, Großmamachen? Wohin führt denn die steinerne Stiege?«

»Aufs Turmdach hinauf, Ann.«

»O! Ich hab' eine Botschaft zu überbringen, deshalb muß ich jetzt wirklich gehn.«

»Das tut uns leid.«

»Ja, adieu!«

Als Lord und Lady Valleys die Tür hinter sich schließen hörten, sahen sie einander mit zweifelhaftem Lächeln an.

Die kleine Unterhaltung, die Klein-Ann unterbrochen, hatte sich folgendermaßen ergeben:

Lord Valleys hatte die Gewohnheit, sich in dieses ruhige und einfache Zimmer zurückzuziehen, das nicht sein offizielles Arbeitszimmer war, wo er sich den Angriffen von Sekretären stets ausgesetzt fühlte; nach dem Lunch war er hier heraufgekommen, um eine Pfeife zu rauchen und etwas Quälendes wiederzukäuen.

Die Angelegenheit stand mit seinem Gutsbesitz in Pendridny in Cornwall in Verbindung. Sie hatte schon seit langem sowohl seinen Agenten wie ihn selbst beunruhigt, und jetzt lag sie ihm zur endgültigen Entscheidung vor. Die Frage betraf zwei Dörfer im Norden seines Gutsbesitzes, deren Einwohner von einem großen Steinbruch gänzlich abhängig waren, dessen Betrieb aber seit einiger Zeit verlustbringend war.

Als gütigem Mann ging ihm jede Maßnahme, die seine Pächter ins Elend stürzen würde, gegen das Gefühl, besonders in Fällen, in denen sie in keinem gegnerischen Verhältnis zu ihm standen. Auf das Wesentliche reduziert, verhielt sich die Sache jedoch folgendermaßen: Abgesehen von dem betreffenden Steinbruch war der Gutsbesitz Pendridny nicht nur in Betrieb, sondern warf auch einen Gewinn ab, erhielt sich selbst und lieferte auch einiges Geld zur Erhaltung von Valleys House, des Trainingquartiers in Newmarket und für sonstige allgemeine Spesen; der Betrieb des Steinbruchs aber, die Summe für die Erhaltung Pendridnys und die Deckung der Pensionen für altersschwache Diener hatten eher ein entgegengesetztes Resultat zur Folge.

Wie er so an diesem Nachmittage dasaß und seine Lieblingspfeife rauchte, war er endlich zu dem Schluß gekommen, daß nichts anderes übrig bliebe, als den Steinbruch zu schließen. Diesen Beschluß hatte er nicht leichtfertig gefaßt, obwohl – um gerecht gegen ihn zu sein – das Bewußtsein, daß diese Entscheidung gewiß einen geharnischten Protest in der lokalen und vielleicht auch in der nationalen Presse verursachen würde, ihn heimlich eher zu dem Entschluß angespornt, als ihn davon abgehalten hatte. Er hatte das Gefühl, als wolle man ihm im vorhinein etwas diktieren, und er ließ sich nicht gern diktieren. Diese armen Leute ihres einzigen Lebensunterhaltes berauben zu müssen, war ihm, das wußte er, viel widerlicher, als jenen, die gewiß darüber Lärm schlagen würden; sein Gewissen war rein, und er konnte jenen zukünftigen Protest der bloßen Parteigegnerschaft zuschreiben. Er hatte in der ehrlichsten Absicht die Sache nach allen Seiten hin zu prüfen versucht und folgendermaßen räsoniert: ›Wenn ich diesen Steinbruch weiterbetreibe, erkenne ich tatsächlich das Prinzip der Proletarisierung an, da ich naturgemäß von jedem meiner Güter erwarten muß, daß es seine eigenen Häuser, Grund und Boden und Jagden erhält und auch zur Erhaltung dieses Hauses, meiner Familie, des Rennstalls und aller dabei beschäftigten Angestellten beiträgt. Auf meinen Gütern ein Geschäft betreiben zu lassen, das zur allgemeinen Erhaltung nicht beiträgt, hieße einen Teil meiner Pächter auf Kosten der übrigen beschützen und dabei eigentlich in Proletarier verwandeln; das muß daher eine unrichtige Wirtschaft und eine Art von verkapptem Sozialismus sein. Ferner: wenn ich das logisch weiter ausdenke, so könnte das zu meinem Ruin führen; und es so weit kommen zu lassen, wenn ich auch vielleicht persönlich nichts dagegen einzuwenden hätte, würde heißen: ich glaube nicht daran, daß ich kraft meiner Traditionen und Erziehung die beste Einrichtung bin, die der Staat benützen kann, um das Wohl des Volkes sicherzustellen …‹

Als er bei Prüfung des Problems diesen Punkt erreicht hatte, hatte sich sein Verstand oder eher sein eigenes Selbst in gar nicht so unnatürlicher Weise dagegen aufgebäumt und erklärt: ›Und das ist lächerlich!‹

Unpersönlichkeit war modern, und gewöhnlich hielt er es für richtig, unpersönlich zu denken. Man kam jedoch zu einem Punkt, wo eine derartige Möglichkeit aufhörte, wenn man nicht an sich selbst, an seinem Stand und an seinem Land zum Verräter werden wollte. Und auf den Einwand, den er klugerweise selbst erörterte, anstatt ihn durch einen andern erörtern zu lassen: nämlich, daß es ein Mißverhältnis war, wenn ein einziger mit einem Federstrich über den Lebensunterhalt von Hunderten verfügen konnte, deren Sinne und Gefühle den seinen ähnlich waren, hatte er erwidert: »Wenn ich es nicht täte, dann würde es sicher irgendein Plutokrat oder eine Gesellschaft tun – oder noch schlimmer: der Staat!« Da gemeinschaftliche Unternehmungen seiner Meinung nach dem Geist des Landes fremd waren, blieb, so weit er die Sache beurteilen konnte, keine andere Wahl übrig. Tatsachen waren Tatsachen, und darüber war nicht hinwegzukommen!

Trotz alledem tat es ihm leid, sich zu dieser Entscheidung gezwungen zu sehen, denn wenn er auch keinen rechten Blick für soziale Verhältnisse hatte, so war er doch zumindest human.

Er rauchte noch immer seine Pfeife und starrte ein mit kleinen Zahlen beschriebenes Blatt Papier an, als seine Frau eintrat. Obgleich sie seinen Rat über eine grundverschiedene Sache einholen wollte, sah sie doch sofort, daß er verärgert war und sagte:

»Was ist denn los, Geoff?«

Lord Valleys stand auf, ging zum Kamin, klopfte bedächtig seine Pfeife aus und hielt ihr dann das Blatt Papier hin. »Dieser Steinbruch! Bringt nichts ein – fort damit!«

Lady Valleys' Gesicht veränderte sich.

»Ach nein! Es wird ein so furchtbares Elend geben!«

Lord Valleys starrte seine Fingernägel an. »Ihn weiterbetreiben, hieße das ganze Gut belasten,« sagte er.

»Ich weiß, aber wie könnten wir den Leuten wieder gegenübertreten? Ich könnte nie mehr wieder hingehn. Und die meisten von ihnen haben so große Familien.«

Da Lord Valleys seine Nägel weiter so bedächtig und gedankenvoll anstarrte, fuhr sie ernsthaft fort:

»Ich möchte lieber ein Opfer bringen. Lieber soll Pendridny verpachtet werden, als daß all die Leute ihre Arbeit verlieren. Es würden sich doch Pächter dafür finden?«

»Pächter? Das beste Waldschnepfen-Jagdgebiet in der Welt!«

Lady Valleys fuhr in ihren Gedanken fort:

»Nach und nach könnten wir andere Arbeit für die Leute finden. Hast du Miltoun befragt?«

»Nein,« sagte Lord Valleys kurz, »und werde es auch nicht tun – er ist zu unpraktisch.«

»Er scheint immer recht gut zu wissen, was er will.«

»Ich sage dir,« wiederholte Lord Valleys, »Miltoun ist in einer solchen Sache nicht zu brauchen – er und seine Ideen gehören ins Mittelalter.«

Lady Valleys kam näher auf ihn zu und faßte ihn an den Rockklappen.

»Geoff, wirklich – mir zu Gefallen: mach es auf eine andere Art!«

Lord Valleys runzelte die Stirn, indem er sie eine Zeitlang anstarrte; endlich erwiderte er:

»Dir zu Gefallen – will ich es für ein Jahr aufschieben.«

»Du hältst das für besser, als es zu verpachten?«

»Die Vorstellung, daß irgend ein Fremder hinkommen soll, mißfällt mir. Noch Zeit genug, sich dazu zu bequemen, wenn es sein muß. Betrachte es als mein Weihnachtsgeschenk.«

Lady Valleys beugte sich etwas aufgeregt zu ihm hin und küßte sein Ohr. In diesem Moment war Klein-Ann eingetreten.

Nachdem sie wieder fort war und sie jenen zweifelhaften Blick gewechselt hatten, sagte Lady Valleys:

»Ich bin Babs' wegen hergekommen. Ich weiß nicht recht, was ich von ihr halten soll, seit wir in London sind. Sie ist nicht mit dem Herzen bei der Sache.«

Lord Valleys entgegnete fast mürrisch:

»Wahrscheinlich die Hitze – oder Claud Harbinger.«

Trotzdem er seine Vaterschaft leicht nahm, gefiel ihm der Gedanke doch nicht, das Kind zu verlieren, das er so zärtlich bewunderte.

»Ah!« sagte Lady Valleys langsam, »ich bin dessen nicht so sicher.«

»Wie meinst du das?«

»Sie ist so sonderbar. Ich bin gar nicht so gewiß, daß sie nicht etwas für diesen Mr. Courtier fühlt.«

»Was?« rief Lord Valleys aus und wurde dabei höchst unphilosophisch rot.

»Jawohl.«

»Zum Teufel, Gertrude, Miltouns Geschichte ist für wenigstens ein Jahr genug gewesen!«

»Für zwanzig,« murmelte Lady Valleys. »Ich beobachte Babs. Er geht nach Persien, heißt es.«

»Hoffentlich läßt er seine Gebeine dort,« brummte Lord Valleys. »Wahrhaftig, das ist zu viel! Mir kommt vor, euch allen ist der Kopf verdreht!«

Lady Valleys zog die Augenbrauen hoch. Die Männer waren doch in solchen Dingen recht sonderbar! Recht sonderbar und hilfloser als Kinder.

»Ich muß jetzt in meine Versammlung gehen,« sagte sie. »Ich nehme sie mit und will versuchen, ob ich etwas aus ihr herausbringen kann.« Und sie ging fort.

Es war die Eröffnungsversammlung der Gesellschaft zur Förderung der Geburtenziffer, deren Präsidium sie zu übernehmen versprochen hatte. Sie hatte sich von Anfang an sehr für diese Idee eingesetzt, die ihrer starken und vollblütigen Natur entsprach. Viele Bewegungen, denen sie unmöglich ihren Namen versagen konnte, übten auf sie nur wenig Anziehungskraft aus, und es war wirklich tröstend, etwas wie Enthusiasmus für einen Teil ihrer sozialen Arbeit zu empfinden. Nicht, daß sie in der Sache etwa von akademischer Beständigkeit gewesen wäre, denn im Privatleben unter ihren Freundinnen war sie keineswegs engherzig dogmatisch betreffs der Pflicht der Gattinnen, zahlreiche Nachkommenschaft zu haben. Sie dachte über die Sache vom Standpunkt des Staates und ohne alle Bigotterie. Große, gesunde Familien in allen Fällen, einzelne ausgenommen! Was ihrer Anschauungsweise eigentlich zugrunde lag, war – nationale Ausbreitung! Ihr Motto – und sie beabsichtigte, falls möglich, es zum Motto der Liga zu machen, war: ›De l'audace, et encore de l'audace!‹ Es war eine Frage der vollen Geltendmachung der Nation. Sie hatte einen wahren und in einem gewissen Sinne rührenden Glauben an ›die Flagge‹, ohne Berücksichtigung dessen, was sie verhüllen mochte. Das war ihr Idealismus. »Man mag so viel man will darüber reden,« pflegte sie zu sagen, »daß das Nationalleben in Übereinstimmung mit sozialer Gerechtigkeit geleitet werden solle! Was schert sich die Nation um soziale Gerechtigkeit! Die Sache ist viel größer. Es ist eine reine Gefühlssache. Wir müssen uns ausbreiten!«

Da sie auf dem Weg in die Versammlung mit ihrer Rede beschäftigt war, machte sie keinen Versuch, Barbara ins Gespräch zu ziehen. Das hatte Zeit. Das Kind, obwohl blaß und müde, sah so wunderschön aus, daß es eine Freude war, ihre Unterstützung einer solchen Bewegung gewonnen zu haben.

In einem kleinen, dunkeln Zimmer hinter dem Saale war das Komitee bereits versammelt, und alles begab sich sogleich auf die Tribüne.


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