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Viertes Kapitel

Als Barbara der Dämmerung entgegenschwamm, badete Miltoun eben in jenen Wassern der Milde und Wahrheit, die im britischen Unterhaus von einer Seite zur andern strömen.

Während der langen Debatte über die Bodenfrage, in deren Verlauf er seine erste Rede halten wollte, hatte er sich bereits neunmal erhoben, ohne den Blick des Vorsitzenden auf sich zu lenken, und allmählich überkam ihn ein Gefühl von Unwirklichkeit. Dieses große Parlament, in dem ohne Ende das schwache Geräusch einer einzigen Menschenstimme und seltsame, mechanische Kundgebungen der Zustimmung oder Mißbilligung erschollen, existierte doch gewiß nur in seiner eigenen maßlosen Phantasie! All diese Gestalten waren nur Ausgeburten seines Hirns! Und wenn er endlich zum Sprechen käme, würde er selbst sein einziger Zuhörer sein! Die von der Ausdünstung der vielen Menschen verdorbene, schwüle Luft, die zahllosen unbeweglichen Lichter, die langen Reihen der Bänke, die ferne Menge blasser, horchender Gesichter, die so hoch thronten, existierten alle nur in seiner Vorstellung! Sogar das Kommen und Gehen im Mittelgang spielte sich nur in seiner eigensinnigen Einbildung ab! Und tief im Innern dieses titanischen Phantasiegebildes übertönte das Gemurmel seiner eigenen, noch nicht gesprochenen Rede die nichtigen Wortgebilde, die jene leise, stets wechselnde Stimme in weiter Ferne in die Luft schleuderte!

Dann war dieses Traumgesicht plötzlich verschwunden; er stand und sprach mit pochendem Herzen.

Bald jedoch verlor er alle Angst; er hatte nur das unklare Bewußtsein, daß seine Worte sonderbar klangen und fand ein seltsames, kaltes Vergnügen daran, sie in das Schweigen hinauszuschleudern. Um ihn herum schienen keine Menschen mehr, sondern nur Münder und Ohren zu sein. Und er berauschte sich an dem Gefühle, daß er mit diesen Worten jene hungrigen Münder und Augen stumm und unbeweglich im Bann hielt. Dann wußte er, daß er alles gesagt hatte, was zu sagen war, setzte sich nieder und starrte regungslos in all den Geräuschen und die Hände über dem Knie verschlungen, auf den Hinterkopf des vor ihm Sitzenden. Und bald, nachdem jene ferne Stimme wieder zu sprechen begonnen hatte, nahm er seinen Hut und ging hinaus, ohne nach rechts oder links zu blicken.

Statt des Gefühls der Erleichterung und der gehobenen Stimmung, das die Herzen jener erfüllt, die den ersten Sprung gewagt, empfand Miltoun in tiefster Seele nur Bitternis. In Wirklichkeit hatte er durch das Halten dieser Rede nur eine Art schmerzstillenden Mittels angewandt. Mehr denn je war er dadurch zur Überzeugung gelangt, wie nutzlos jetzt seine Karriere war, da er sie mit Audrey Noel nicht teilen konnte. Er ging langsam zum Temple-Gebäude, die Themse entlang, wo die Laternen ins Nichts verblaßten vor der täglichen Feier der Gottheit, da Licht und Dunkel einander ablösen.

Denn Miltoun war nicht einer von jenen, die die Dinge ruhig hinnehmen; er nahm die Dinge verzweifelt ernst, tiefgründig und rebellierend. Er nahm sie wie ein Reiter, der gleichzeitig das Reittier ist, der sich aufbäumend sich selber die Sporen gibt, der höhnisch zusammenzuckt bei dem grausamen Zerren des eigenen Zaumes; der in seinem einsamen, stolzen Herzen die ganze Bürde von Kämpfen trägt, die seichtere oder heiterere Naturen mit andern teilen.

Wie er so heimging, sah er kaum weniger verstört aus als manche der Obdachlosen, die allnächtlich am Themseufer schliefen, als wäre es ihnen ein Trost, so nahe am Wasser zu liegen, das ihnen Vergessenheit gewähren könnte. Er war vielleicht unglücklicher als sie, deren Geist unter dem Druck des Lebens die Kraft eingebüßt hatte, sie zu quälen.

Nun, da Audrey Noel für ihn verloren war, tauchte ihre Schönheit und jener unbeschreibliche Reiz, der sie so liebenswert machte, vor ihm auf wie herrliche Blumen, die nur zu seiner Qual vorhanden waren, weil er sie nie fassen durfte – und die er doch hätte fassen können, hätte er nur gewollt! Das war die eigentliche Ursache seines verzehrenden Leidens. Sie fassen zu können, hätte er nur gewollt! Auch litt er körperlich an einer Art schleichenden Fiebers seit dem Tage, an dem er, als er sie zuletzt gesehen hatte, so durchnäßt worden war. Und infolge dieses in ihm schlummernden Fiebers waren alle Dinge und Gefühle, ebenso wie seine Empfindungen im Parlament vor seiner Rede, fern und gedämpft, als könnte er nur durch eine dichte Hülle zu ihnen vordringen, die er nicht zu durchbrechen vermochte. Und die ganze Zeit schienen in seiner Seele zwei Menschen einander auf Leben und Tod zu befehden: der Mensch, der an göttliche Fügung und Autorität glaubte, um die sich seine ganzen Überzeugungen bisher gedreht hatten, und ein verzweifeltes, heißblütiges, hungriges Geschöpf. Er fühlte sich ganz elend, voll sonderbarer Sehnsucht nach der Gesellschaft eines Wesens, das seine Empfindungen verstehen könnte, und weil er so lang niemand zum Vertrauten gemacht hatte, wußte er nicht, wie er diese Sehnsucht stillen sollte.

Der Morgen dämmerte bereits, als er in seiner Wohnung ankam; da er sicher wußte, daß er nicht schlafen würde, ging er gar nicht zu Bett, sondern wechselte nur die Kleider, machte sich Kaffee und setzte sich ans Fenster, das auf den mit Blumen bewachsenen Hof hinausging.

Ein Ball im Temple-Gebäude war noch nicht zu Ende, obgleich die Lampions bereits ausgelöscht und entfernt waren. Miltoun sah einen Mann und ein Mädchen im Schatten eines alten Brunnens, die den letzten Tanz durchsaßen. Ihr Kopf war auf ihres Partners Schulter gesunken, ihre Lippen hingen aneinander. Und zum Fenster flutete der Duft von Heliotrop empor, zusammen mit der Melodie des Walzers, den diese beiden hätten tanzen sollen. Diese beiden, die so verstohlen einander umarmten, der Schimmer ihrer suchenden Augen, das Wispern ihrer Lippen, die Steinnische mit den zwitschernden Spatzen, die sie so geschickt erwählt hatten – das war die Welt, die er abgeschworen hatte! Als er wieder hinsah, waren sie wie eine Vision verschwunden; auch die Musik hatte aufgehört, kein Heliotropduft war mehr zu spüren. In der Steinnische kauerte eine verlaufene Katze, die auf die zwitschernden Spatzen lauerte.

Miltoun ging wieder fort, bog in den leeren ›Strand‹ und schritt weiter, ohne zu achten wohin, bis er sich gegen fünf Uhr auf der Putney-Brücke befand.

Dort ruhte er aus, indem er sich über die Brüstung lehnte, und ins graue Wasser hinunterstarrte. Die Sonne brach gerade aus dem Hitzenebel hervor; frühe Lastwagen fuhren vorbei und die Leute gingen bereits zur Arbeit. Zu welchem Zweck wanderte der Strom dahin, und zu welchem Zweck kreuzte ihn ein Menschenstrom zweimal an jedem Tage? Warum mußten Männer und Frauen leiden? Miltoun konnte in dem vollen Strome dieses Lebens ebenso wenig ein Ziel erblicken wie in dem Kreisen der Möven im frühen Sonnenlicht. Er verließ die Brücke und ging nach Barnes Common. Dort lagerte die Nacht noch immer auf den Ginsterbüschen, die von grauen Spinnweben und glänzenden Tautropfen bedeckt waren. Er kam an einer noch schlafenden Landstreicherfamilie vorbei, die dicht aneinandergedrückt schliefen. Selbst die Obdachlosen lagen einander in den Armen!

Von den Wiesen gelangte er auf die Straße nahe den Toren von Ravensham; er ging hinein, kam in den Gemüsegarten und ließ sich auf einer Bank dicht bei den Himbeerbüschen nieder. Sie waren vor Dieben geschützt, aber bei Miltouns Schritten brachen zwei Amseln aufgeregt aus dem Netzwerk hervor und flogen davon.

Seine hagere, so regungslos dasitzende Gestalt fiel einem Gärtner auf, der die Nachricht in Umlauf brachte, daß sich Seine junge Lordschaft im Gemüsegarten befände. Clifton hörte davon und kam selbst heraus, um sich zu vergewissern. Der alte Mann stellte sich ganz ruhig vor Miltoun hin.

»Sie sind zum Frühstück gekommen, Mylord?«

»Wenn es meiner Großmutter recht ist, Clifton.«

»Wie ich höre, haben Eure Lordschaft gestern nachts gesprochen.«

»Jawohl.«

»Hoffentlich sind Sie im Unterhaus zufrieden?«

»Danke, Clifton, so ziemlich.«

»Ich glaube, es ist nicht mehr das, was es in den großen Tagen Ihres Großvaters zu sein pflegte. Er hatte eine recht gute Meinung davon. Es änderte sich gewiß.«

»Tempora mutantur.«

»Freilich. Ich finde einen ganz neuen Geist in öffentlichen Angelegenheiten. Die billigen Blätter machen es; man liest sie, aber man kann doch nicht zustimmen. Ich bin gespannt, Ihre Rede zu lesen. Es heißt, daß eine erste Rede eine große Anstrengung bedeutet.«

»Ja, ziemlich.«

»Aber Sie hatten keinen Grund, ängstlich zu sein. Es war gewiß wundervoll!«

Miltoun sah, wie die magern, blassen Wangen des Alten zwischen den schneeweißen Bartkotelettes sich tiefrot färbten.

»Ich habe die ganze Zeit auf diesen Tag gewartet,« murmelte er, »seit ich Eure Lordschaft kenne – achtundzwanzig Jahre. Das ist der Anfang.«

»Oder das Ende, Clifton.«

Das Antlitz des Alten sah plötzlich tief erstaunt und besorgt aus.

»Nein, nein,« sagte er. »Bei Ihrem bisherigen Leben niemals!«

Miltoun faßte seine Hand.

»Verzeihen Sie, Clifton – ich habe Sie nicht kränken wollen.«

Und eine Minute lang sprach keiner von beiden, sondern sie sahen wie überrascht ihre ineinander liegenden Hände an.

»Möchten Eure Lordschaft vielleicht ein Bad nehmen? Das Frühstück wird noch immer um acht Uhr eingenommen. Ich kann Ihnen ein Rasiermesser besorgen.«

Als Miltoun das Frühstückszimmer betrat, saß seine Großmutter, ein Exemplar der ›Times‹ in der Hand, vor einem Teller mit Grape Fruit und aß dazu einen Keks aus Schrotmehl: ihre erste Mahlzeit. Ihr Aussehen entsprach kaum Barbaras Beschreibung ›erstaunlich gut‹; in Wirklichkeit sah sie ein wenig weiß aus, als hätte sie die Hitze angegriffen. Doch mangelte es ihren kleinen, stahlgrauen Augen nicht an Lebendigkeit und ihrem Benehmen nicht an Energie.

»Wie ich sehe,« sagte sie, »hast du deinen eigenen Weg eingeschlagen, Eustace. Dagegen habe ich nichts einzuwenden; es ist nur zu loben. Aber denke an eines, mein Lieber: So sehr du dich auch ändern magst, du darfst nie schwankend werden. Dort zählt nur eines, nämlich den gleichen Nagel fortwährend mit dem gleichen Hammer auf den Kopf zu schlagen. Du siehst gar nicht gut aus.«

Miltoun, der sich niederbeugte, um sie zu küssen, murmelte:

»Danke, ich fühle mich ganz wohl.«

»Unsinn,« erwiderte Lady Casterley. »Man kümmert sich nicht um dich. War deine Mutter im Parlament?«

»Ich glaube nicht.«

»Natürlich. Und was treibt Barbara? Sie sollte sich um dich kümmern.«

»Barbara ist bei Onkel Dennis zu Besuch.«

Lady Casterley preßte die Lippen zusammen; dann sah sie ihren Enkel durchdringend an und sagte:

»Ich werde dich noch heute hinbringen. Ich werde dich mit Seeluft kurieren. Was meinen Sie, Clifton?«

»Seine Lordschaft sieht tatsächlich blaß aus.«

»Halten Sie den Wagen bereit, wir wollen von Clapham Junction fahren. Thomas kann in die Stadt fahren und dir ein paar Kleider holen. Oder wir telephonieren lieber deiner Mutter um ein Auto, wenn ich auch die Autos nicht leiden kann. Im Zug ist es zu heiß. Bitte, Clifton, besorgen Sie das!«

Gegen diesen Plan erhob Miltoun keinen Einwand. Und während der ganzen Fahrt war er so sehr in Apathie und Lässigkeit versunken, daß es Lady Casterley im höchsten Grade unheilkündend vorkam. Denn Lässigkeit bedeutete für sie einen seltsamen, unverzeihlichen Zustand. Die kleine große Dame, die Verkörperung des aristokratischen Prinzips, war durch und durch vom Instinkt künstlicher Energie erfüllt, von der wachen Kraft, die jene, die gesellschaftlich nichts mehr zu erhoffen haben, entwickeln müssen, damit sie nicht herabsinken und neuerdings zu hoffen gezwungen sind. Offen gestanden konnte sie sich kaum noch zurückhalten, ihren Enkel durch eine scharfe Bemerkung aufzurütteln, denn sie kannte den Grund dieses Zustands, und ihrem Temperament nach konnte sie eine Niedergeschlagenheit aus solcher Ursache nicht ruhig mitansehen. Wäre es irgend ein anderes ihrer Enkelkinder gewesen, so hätte sie nicht gezögert, doch Miltoun hatte etwas an sich, das sogar Lady Casterley in Schach hielt, und nur ein einziges Mal während der vierstündigen Fahrt versuchte sie, seine Reserve zu durchbrechen. Sie tat es auf eine für sie recht sanfte Art – war doch er vor Allem die Hoffnung und der Stolz ihres Herzens! Ihre kleine, magere, harte Hand unter seinen Arm schiebend, sagte sie leise:

»Mein Lieber, grüble nicht darüber nach. Das taugt zu nichts.«

Miltoun aber entfernte sanft ihre Hand und legte sie auf die Wagendecke, ohne etwas zu erwidern, oder ohne im geringsten merken zu lassen, daß er sie verstanden hätte.

Und Lady Casterley, tief verletzt, preßte ihre welken Lippen fest aufeinander und rief scharf:

»Langsamer bitte, Frith!«


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