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Drittes Kapitel

In einem sehr hohen, nur spärlich möblierten Zimmer mit weißer Holzverkleidung, begrüßte Lord Valleys seine Schwiegermutter ehrerbietig.

»Habe die Fahrt in neun Stunden gemacht – kein übles Tempo.«

»Schön, daß du gekommen bist. Wann findet Miltouns Wahl statt?«

»Am neunundzwanzigsten.«

»Schade! Er sollte nicht in Monkland sein, wo jenes – anonyme Frauenzimmer in der Nähe wohnt.«

»Aha! Du hast also von ihr gehört!«

Lady Casterley gab scharf zur Antwort:

»Geoffrey, du nimmst die Dinge zu leicht.«

Lord Valleys lächelte.

»Diese ewige Kriegspanik,« sagte er, »geht einem auf die Nerven. Ich kann nicht recht dahinter kommen, wie die Stimmung im Lande eigentlich ist.«

Lady Casterley erhob sich:

»Es ist dem Lande ganz egal. Wenn der Krieg losgeht, wird auch die nötige Stimmung da sein. So kommt's ja immer. Reiche mir den Arm! Bist du hungrig?« …

Sobald Lord Valleys vom Krieg sprach, redete er als einer, der, seit er im gesetzten Alter stand, zu den Lenkern der Staatsgeschicke gehörte. Es ging ihm genau so wie den Lilien in dem großen Glashaus, die unmöglich mit den Augen einer Blume im Garten draußen zu sehen, oder deren Gefühle zu teilen vermochten. Er, der von den besten Vorurteilen und Gewohnheiten seines Standes ganz durchdrungen war, hielt sich vom allgemeinen Leben nicht ferner, als man erwarten durfte. Als ein Mann von Tatsachen und gesundem Denken stand er sogar einigermaßen in Fühlung mit der Meinung des Durchschnittsbürgers. Er war ganz aufrichtig, wenn er erklärte, daß er besser zu wissen glaube, was dem Volke not tat, als jene, die darüber leere Worte machten; und zweifellos hatte er recht, denn seinem Temperament nach stand er dem Volke näher als dessen eigenen [Führern], obwohl er das vielleicht nicht gern gehört hätte. Seine weltmännische, politische Klugheit war vom Leben einer Natur aufgepfropft worden, deren Triebkraft praktische Veranlagung und Mangel an Phantasie war. Es war seine Aufgabe, tüchtig zu sein, jedoch nicht übereifrig oder gar vom Wunsch erfüllt, Ideen bis in ihre logischen Konsequenzen durchzuführen; weder engherzig noch puritanisch zu sein, so lange die äußere Hülle des ›guten Tones‹ unverletzt blieb; ein liberaler Pachtherr zu sein, so lange seine Interessen nicht ernstlich dadurch geschädigt wurden; als Gönner der Künste aufzutreten, so lange diese Künste nicht dasjenige offenbarten, was er zuvor nicht bemerkt hatte; es war seine Aufgabe, eine offene Hand, einen unerschrockenen Blick, eiserne Nerven und jenes ausgezeichnete Benehmen zu haben, das nie gekünstelt war. Es lag in seiner Natur, ein vertrauensvoller Gatte, ein nachsichtiger Vater, ein ehrlicher und gewissenhafter Politiker zu sein, und als Mann an Vergnügungen, Arbeit und frischer Luft seine Freude zu haben. Er bewunderte und liebte seine Frau und hatte seine Heirat nie bereut. Vielleicht hatte ihm noch nie etwas leid getan, es wäre denn, daß er noch nicht das Derby gewonnen oder noch nicht ganz erreicht hatte, daß seine besondere Zucht schwarzgefleckter Vorstehhunde genau dem Normaltyp entsprach. Seine Schwiegermutter achtete er, so wie man etwa ein Prinzip achtet.

Aus der Persönlichkeit jener kleinen alten Dame sprach tatsächlich die ungeheure Kraft aufgespeicherter Energie – die ererbte Sicherheit derjenigen, deren Prestige nie angezweifelt worden war; die infolge langer Immunität und einer gewissen, aus der Gewohnheit des Befehlens hervorgegangenen, scharf ausgeprägten Nüchternheit tatsächlich die Fähigkeit eingebüßt hatten, sich vorzustellen, daß ihr Prestige angezweifelt werden könnte. Die Kenntnis ihrer selbst war kein auf gewöhnlichem Wege erworbenes Wissen, sondern entsprang einem tätigen, alles beherrschenden Temperament. Durch die ihrer Klasse eigene Notwendigkeit gestärkt, die offenkundigere Seite der öffentlichen Angelegenheiten gründlich kennen zu lernen; mit der Tradition einer Kultur bewaffnet, welche die Führerschaft erfordert; von Ideen inspiriert, die aber stets die gleichen blieben; keinem Herrn untertan, doch Sklave des eigenen Bedürfnisses zu herrschen, besaß sie einen Geist, der so furchtbar war wie die zweischneidigen Schwerter, die ihre Vorfahren, die Fitz-Harolds, einst bei Azincourt und Poitiers geschwungen hatten – einen Geist, der stets aus Instinkt jene innerliche Kenntnis des eigenen Wesens oder des Wesens anderer zurückgewiesen hatte, die durch das unsinnige, für die Autorität so zersetzende Verstehenwollen und durch die Betrachtung und Versenkung in sich selbst entsteht. Wenn Lord Valleys als der Körper der aristokratischen Maschine gelten konnte, so war Lady Casterley die Sprungfeder darin. In ihrem ganzen Leben auf peinlichste Zwanglosigkeit bedacht und unauffällig in der Kleidung; von genügsamen, höchst einfachen Gewohnheiten; eine Frühaufsteherin; stets vom Morgen bis in die Nacht hinein mit irgend etwas beschäftigt, und nicht verbrauchter mit achtundsiebzig als die meisten Frauen schon mit fünfzig, hatte sie nur eine schwache Stelle – und das war gerade ihre Stärke – Blindheit für die Bedeutung und die Natur ihres Platzes im Universum. Sie war ein Typus, eine Kraft.

Wunderbar gut paßte sie zu dem Zimmer, in welchem sie das Dinner einnahmen; die grauen Wände, die von einem hohen, etwa im Stil Fragonards gehaltenen Fries überragt waren, zeigten viele, jetzt schon recht verblaßte Nymphen und Rosen; auch zu der Einrichtung paßte sie, die aussah, als hätte sie in Zeiten hinübergedauert, denen sie nicht mehr angehörte. Auf den Tischen standen keine Blumen außer fünf Lilien in einem alten Silberkelche, und an der Wand über der großen Anrichte hing ein Bildnis des verstorbenen Lord Casterley.

Sie sagte:

»Hoffentlich läßt sich Miltoun nicht beeinflussen.«

»Das ist ja gerade das Malheur. Er leidet an übertriebenen Prinzipien – wenn er sie nur nicht in seine Reden hineinzerren wollte!«

»Laß ihn in Frieden! Und sieh dazu, daß er gleich nach der Wahl von diesem Frauenzimmer fortkommt. Wie heißt sie eigentlich?«

»Mrs. Soundso Lees Noel.«

»Wie lange wohnt sie schon dort?«

»Fast ein Jahr, glaube ich.«

»Und du weißt gar nichts von ihr?«

Lord Valleys zog die Schultern hoch.

»Ah!« sagte Lady Casterley, »natürlich! Du läßt der Sache ruhig ihren Lauf. Ich will selber hinfahren. Gertrude kann mich doch aufnehmen? Was hat dieser Mr. Courtier mit jener guten Dame zu schaffen?«

Lord Valleys lächelte. Aus diesem Lächeln sprach seine ganze höfliche, leichtlebige Philosophie. ›Ich menge mich nicht in die Sachen anderer‹, schien es zu sagen; und beim Anblick dieses Lächelns preßte Lady Casterley die Lippen aufeinander.

»Er ist ein Heißsporn,« sagte sie. »Ich habe sein Buch gegen den Krieg gelesen – höchst aufreizend. Hauptsächlich gegen Grant und Rosenstern gerichtet. Ich habe gerade eines der Resultate vor meinem eigenen Tor gesehen. Einen Pöbel von Agitatoren gegen den Krieg.«

Lord Valleys unterdrückte ein Gähnen.

»Wirklich? Ich hatte keine Ahnung, daß Courtier irgend welchen Einfluß ausübt.«

»Er ist gefährlich. Die meisten Idealisten zählen nicht – aber sein Buch zeigt Talent.«

»Ich wünschte wahrhaftig, diese Kriegspanik hörte endlich auf, beide Länder machen sich damit nur lächerlich,« murmelte Lord Valleys.

Lady Casterley erhob ihr Glas, das voll blutroten Weins war.

»Ein Krieg würde uns retten,« sagte sie.

»Ein Krieg ist kein Spaß.«

»Es wäre der Anfang besserer Verhältnisse.«

»Meinst du?«

»Wir würden wieder die führende Nation sein, und die Demokratie würde um fünfzig Jahre zurückgeworfen werden.«

Lord Valleys machte drei kleine Häufchen Salz und hielt inne, um sie zu zählen; während er dann leicht die Augenbrauen hob, die zu zweifeln schienen, was er sagen würde, murmelte er:

»Ich dächte, daß wir heutzutage doch alle Demokraten wären … Was wollen Sie, Clifton?«

»Ihr Chauffeur möchte gerne wissen, für welche Zeit Sie den Wagen wünschen.«

»Sofort nach dem Dinner.«

Zwanzig Minuten später bog er durch das eiserne Tor in die Straße, die nach London führte. Es wurde dunkel, und an dem zitternden Himmel hatten sich Wolken angehäuft, die scheinbar in ewiger Zwecklosigkeit hierhin und dorthin trieben. Keine bestimmte Richtung schien ihren Schwingen vorgeschrieben. Wie eine Schar gigantischer Elstern, die immerzu kreuz und quer aneinander vorbeiflogen, hatten sie sich am Firmament versammelt. Der Geruch des Regens hing in der Luft. Der Wagen wirbelte keinen Staub auf, sondern rollte rasch und unaufhaltsam dahin, wobei er sich den Weg mit seinen Lichtern suchte. Auf der Putney-Brücke wurde sein Lauf durch eine Reihe Lastwagen gehemmt. Lord Valleys sah nach rechts und links. In der Themse spiegelten sich die tausend Lichter der an ihren Ufern dichtgedrängten Gebäude wieder, die Lampen der Kais, die Laternen vertäuter Boote. Der gewundene, blasse Leib dieses gewaltigen Wesens, der unausgesetzt der See entgegenglitt, rief in seiner Seele keine symbolische Vorstellung wach. Vor Jahren, im Handelsministerium, hatte die Themse ihm zu schaffen gemacht, und er kannte sie, wie sie in Wirklichkeit war, nämlich furchtbar schmutzig und abscheulich mager gerade dort, wo er sie sich voller wünschte. Jawohl, als er seine Zigarre anzündete, beschlich ihn ein seltsames Gefühl – als befände er sich in Gegenwart einer Frau, die er liebte.

›Gebe Gott,‹ dachte er, ›daß diese Kriegspanik zu nichts führt!‹ Der Wagen glitt in die lange, vom Verkehr durchflutete Straße, dem Herzen des modernen London zu. Die Plakate der Abendblätter draußen vor den Zeitungsläden lauteten jedoch kaum sehr tröstlich.

›Der Knoten schürzt sich.‹
›Neue Enthüllungen.‹
›Ernste bedrohliche Situation.‹

Und vor jedem Plakat konnte man einen kleinen Wirbel in dem Strom der Vorübergehenden bemerken, von Leuten hervorgerufen, die nach den Neuigkeiten sahen und sich dann wieder loslösten, um weiterzudrängen. Der Earl of Valleys ertappte sich bei dem neugierigen Gedanken, was sie wohl davon hielten. Was spielte sich eigentlich hinter jenen bleichen, ausdruckslosen Physiognomien ab, die den Plakaten zugewendet waren?

Machten sie sich überhaupt Gedanken, diese Männer und Frauen auf der Straße? Welche Haltung nahmen sie dieser ungewiß drohenden Katastrophe gegenüber ein? Ein Gesicht wie das andere, unbeweglich und apathisch, drückte nicht das geringste aus, keinen Wunsch zur Tat, am allerwenigsten Enthusiasmus, kaum irgend eine Befürchtung. Die armen Teufel! Es lag ebensowenig in ihrer Macht, etwas zu tun, wie Ameisen einen vorübergehenden Knaben hindern können, ihren Bau zu zerstören! Zweifellos war es ganz richtig, daß das Volk, wenn ein Krieg bevorstand, nie viel zu sagen hatte. Und die Worte einer radikalen Wochenschrift, zu deren Lektüre er sich als unparteiischer Mann stets zwang, kamen ihm in den Sinn: ›Ohne jede Kenntnis der Tatsachen von den Worten »Vaterland« und »Patriotismus« hypnotisiert; in der Gewalt des Pöbelinstinkts und des angeborenen Vorurteils gegen den Fremden; hilflos infolge seiner Geduld, seines Stoizismus, seines Glaubens und Vertrauens zu denjenigen über ihm; hilflos infolge seines Snobbismus, seines Mißtrauens gegen seine Mitbürger, seiner Sorglosigkeit in bezug auf den nächsten Tag und seines Mangels an gemeinnützigem Geist – wie so ganz ohnmächtig und bemitleidenswert ist der gemeine Mann angesichts des Krieges!‹ Das Blatt, obwohl tüchtig, war ihm stets unerträglich großtuerisch vorgekommen!

Es war zweifelhaft, ob er diesmal das Ascot-Rennen würde besuchen können. Und einen Augenblick weilten seine Gedanken bei seiner vielversprechenden, zweijährigen Casetta; dann stürzten sie fast ungestüm, wie beschämt, zur Admiralität zurück, und der Zweifel beschlich ihn, ob man dort auch auf alle Möglichkeiten vollkommen gefaßt war. Er selbst bekleidete einen leichtern Posten bei der Regierung, eines jener fast nominellen Ämter, durch die sich das Kabinett gewisse erprobte Männer sichern will, für die im Augenblick keine wichtigere Stelle zu finden ist. Von der Admiralität schweiften seine Gedanken plötzlich wieder zu seiner Schwiegermutter. Bewundernswerte alte Frau! Die hätte einen Staatsmann abgegeben! Aber zu reaktionär! Hätte verteufelt wenig Umstände mit Mrs. Lees Noel gemacht! Und mit der Befriedigung eines Kenners erinnerte er sich an Gesicht und Gestalt jener Dame, als er am Morgen an ihrem Häuschen vorbeigefahren war. Ob mysteriös oder nicht, interessant war die Frau auf jeden Fall! Sehr anmutiger Kopf mit dem dunkeln Haar, das von der Mitte über beide Schläfen zurückgestrichen war – ganz entzückende Figur, nichts Überflüssiges daran! Hatte einen eigenen Reiz! Gewiß, so eine Vergangenheit – aber das war nicht seine Sache! Er fühlte immer Sympathie mit so einer Frau!

Ein vom Marsch zurückkehrendes Regiment Territorialsoldaten hielt den Wagen auf. Er beugte sich vor und betrachtete sie mit dem gleichen, abwägenden, kritischen Kennerblick, den er einer Meute von Jagdhunden gezollt hätte. Aller Nebel über seinen grübelnden Gedanken hatte sich gehoben. Ein tüchtiger Schlag – würde sich vortrefflich bewähren! Ihre vom Tagesmarsch erhitzten Gesichter schienen ausdruckslos oder trugen ein halb-aggressives, halbfröhliches Selbstbewußtsein zur Schau; sie quälten sich offenbar mit keinen abstrakten Zweifeln oder irgend welchen Visionen der Kriegsgreuel ab.

Jemand brachte einen Hochruf auf die Soldaten aus. Lord Valleys gewahrte um sich ein auf- und abwogendes kleines Meer von Hüten und hörte, wie ein ziemlich schrilles und unsicheres Rufen zu einem heisern, grellen Lärm anschwoll und plötzlich abbrach. ›Zeigen recht viel Eifer!‹ dachte er. ›Ein kleiner Anstoß genügt! Das Land ist voll Kampfbegier.‹ Und wieder durchzuckte ihn ein angenehmes Beben.

Nachdem dann der letzte Soldat vorbei war, bahnte sich sein Wagen langsam den Weg durch die wimmelnde Menge, die hinter dem Regiment vorwärtsdrängte: Männer aller Altersstufen, Jünglinge, ein paar Frauen, junge Mädchen, die mit nachlässigem Blick ihre Augen auf ihn richteten, als wäre ihr Leben doch zu grundverschieden, um an diesem vorbeifahrenden Mann der Muße Interesse zu nehmen.


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