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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Die Wahlschlacht war bereits in vollem Gange, als Courtier in Bucklandbury ankam; und teils aus dem nicht unnatürlichen Interesse am Ergebnis, teils in der halb unbewußten Hoffnung, Barbara noch einmal flüchtig zu Gesicht zu bekommen, gab er seine Reisetasche im Hotel ab, entschlossen, die Verkündigung des Wahlresultates abzuwarten. Als er so die Hauptstraße entlangschlenderte, fing er an, das Humoristische des Tages zu beobachten. Er, der die Welt durchflogen hatte, wurde schon lang nicht mehr von dem Glauben an das Heil der Politik getragen. Er hatte zu viele lebendigere Farben gesehen, um jetzt die faden und zweifelhaften Tinten von Blau und Gelb noch sonderlich schätzen zu können. Sie riefen ein ganz besonders philosophisches Gefühl in ihm hervor. Dennoch war es unmöglich, von ihnen loszukommen, denn die Welt selbst schien an jenem Tage blau und gelb, und auch die dritte Farbe: Rot, die beide Parteien angenommen hatten, konnte keine Gewähr dafür bieten, daß die eine Partei an der andern etwas Gutes zu finden vermochte; viel eher schien Rot den Wunsch beider zu symbolisieren, des Feindes Blut fließen zu sehen. Doch Courtier merkte bald aus den Blicken, die seinem unbeteiligten und vielleicht spöttischen Gesichte zugeschleudert wurden, daß beiden Seiten sogar noch weit verhaßter als der Gegner der philosophische Beobachter war. Jedermann empfand das Bedürfnis, einen Ziegelstein nach ihm zu schleudern, sobald er sich blicken ließ. Mit seiner verwünschten Unparteilichkeit, seiner Gewohnheit, in das Innere der Dinge zu schauen, um nachzuforschen, ob nicht etwas drinnen sei, empfand er, daß sie ihn als den wahren Gegner ansahen, den ewigen Feind all der kleinen, wohlgemästeten Tatsachen, die, mit Blau oder Gelb ausstaffiert, paradierten und einherstolzierten, einander beschimpften, sich gegenseitig blaue Augen und blutige Nasen schlugen. Diesen kleinen, ernsthaften, köstlichen Geschöpfen, die nur eine Vorderseite und auf der Rückseite gar nichts hatten, war das philosophische Auge mit seiner Gewohnheit, um die Ecke zu blicken, offenbar verhaßt. Die ganz gelben und ganz blauen Körper dieser prahlenden, kleinen Krieger, die Blechsäbel in den Händen und Blechtrompeten zwischen den Lippen hielten, kletterten an jedem Fenster und an jeder Mauer empor und blickten jeden Bürger an mit der Versicherung, daß sie, nur sie allein ihn im Parlament richtig vertreten würden. Auch hatten sie augenscheinlich keine große Mühe mit den meisten Wählern, die – da sie Ungewißheit widerwärtig fanden – den leidenschaftlichen Wunsch hegten, man möge ihnen versichern, das Land könne sogleich entweder durch kleine gelbe Tatsachen oder durch kleine blaue Tatsachen gerettet werden, je nachdem; die Wähler, die zweifellos ein Dutzend weitere gute Gründe hatten, entweder auf der einen oder auf der andern Seite zu stehen, als da waren: daß ihr Vater zur selben Partei gehört hatte; daß ihr Brot gelb oder blau bebuttert war; daß sie das letztenmal auf der andern Seite gestanden hätten; daß sie es überlegt und sich dazu entschlossen hätten; daß sie unschuldiges Blaublut oder naives, gelbes Bier in sich hätten; daß Seine Lordschaft der richtige Mann sei; oder daß ihnen die Worte ›Chilcox für Bucklandbury‹ am besten gefielen; und vor allem der einzige, wirklich lobenswerte Grund: daß, so weit sie es mit all ihrem Verstand und Gefühl erkennen konnten, die Wahrheit im Augenblick entweder blau oder gelb wäre.

Die enge Hauptstraße war von Wählern vollgedrängt. Große, dort aufgepflanzte Polizisten hatten nichts zu tun. Die Gewißheit aller, daß der Sieg ihnen beschieden wäre, schien jeden einzelnen in guter Laune zu halten. Es war bisher nicht nötig gewesen, jemandem den Schädel einzuschlagen, denn wenn man auch aufs schärfste nach den leisesten Anzeichen des philosophischen Auges Ausschau hielt, so war es doch, von Courtier abgesehen, nur in den Kinderwagen der Babys zu finden, dann bei einem alten Manne, der auf einem Zweirad schwankend durch die Straße fuhr und anhielt, um sich bei einem Polizisten zu erkundigen, was denn eigentlich in der Stadt los sei, und endlich bei zwei Burschen mit etwas grünlichen Gesichtern, die beide Handkarren voll von blauen und auch gelben Abzeichen daherschoben.

Aber obwohl Courtier die ›Tatsachen‹ mit solchem Argwohn betrachtete, kam ihm der Eifer, mit dem ein jeder bei der Sache war, wahrhaft großartig vor. Sie machten sich mit Begeisterung daran! Da sie sich monatelang darauf gefreut hatten, wollten sie auch monatelang in der Erinnerung daran schwelgen. Es war offenbar ein Gottesdienst, der wahre Hochgefühle auslöste; und dies schien einem, der selbst ein Mann der Tat war, natürlich, vielleicht mitleiderregend, doch keinesfalls zum Spott herausfordernd.

Es war bereits spät nachmittags, als eine lange Kette von Sandwichmen in die Hauptstraße gezogen kam, die allesamt auf Brust und Rücken Plakate trugen, die auf blaßblauem Grunde die folgenden, in großen, dunkelblauen Buchstaben prachtvoll arrangierten Worte zeigten:

›Neue Verwicklungen!
Gefahr noch nicht beseitigt!

Stimmt für Miltoun und die Regierung
und rettet das Vaterland!‹

Courtier blieb stehen und blickte sie mit außerordentlicher Entrüstung an. Dieses Plakat verletzte nicht nur seine geliebten Friedensüberzeugungen, sondern er erblickte darin etwas mehr, als das nichtphilosophische Auge gewahrt hätte. Es symbolisierte für ihn all das, was Sensationshascherei im Leben der Nation war – eine unsäglich traurige Inschrift auf dem Grabe des Edelmuts. Was aber konnte vom Parteistandpunkt gerechtfertigter erscheinen? War es nicht ganz ungeheuerlich wichtig, daß an diesem Tage jeder Nerv angespannt werde, um jedenfalls noch vor Einbruch der Nacht gelbe Nerven, wenn nicht in blaue, so doch zumindest in grüne zu verwandeln? War es nicht vollkommen richtig, daß das Vaterland nur dann gerettet werden konnte, wenn man für Blau stimmte? Konnten die Blauen denn anders handeln, als in ihrer Zeitung, die er in der Frühe gelesen hatte, die Worte ›Neue Verwicklungen‹ drucken zu lassen? Ebenso wenig wie die Gelben umhin konnten, in ihrem Journal die Worte ›Lord Miltouns nächtliches Abenteuer‹ drucken zu lassen. Ihr einziges Ziel war, bei stets ehrlicher Kampfesweise zu siegen. Die Gelben hatten nicht ehrlich gekämpft, sie hatten es nie getan, und eines ihrer unehrlichsten Manöver war die Art, wie sie stets die Blauen einer unehrlichen Kampfesweise bezichtigten – eine geradezu lächerliche Beschuldigung! Wahrheit? Das, was der Welt dazu verhalf, blau zu sein, war augenscheinlich wahr; das, was ihr nicht dazu verhalf, ebenso augenscheinlich unwahr. Da gab's keine mittlere Politik! Der Mann, der die Dinge weder blau noch gelb sah, war kein anständiger Bürger und ein Idiot dazu! Man sollte den Gelben ehrliche Überzeugung zugute halten? Die Gelben hielten den Blauen nie etwas zugute! Aber wenn auch Courtier all das wußte, so schien ihm dies Plakat doch ganz besonders verwerflich, und er konnte unmöglich der Versuchung widerstehen, einem der Sandwichbretter mit seinem Spazierstock einen Schlag zu versetzen. Der widerhallende Schlag erschreckte das Pony eines Fleischhauers, das neben dem Trottoir stand. Es bäumte sich, sprang davon und schleifte Courtier, der natürlich den Zügel ergriffen hatte, mit. Ein Hund schoß hinterdrein, Courtier strauchelte und fiel hin. Das Pony, das über ihn hinweglief, schlug ihm mit dem Huf eins übern Kopf. Für einen Augenblick verlor er das Bewußtsein; als er dann wieder zu sich kam, lehnte er jede Hilfe ab und ging in sein Hotel. Er fühlte sich ganz schwindelig; und nachdem er einen schmerzenden Riß verbunden hatte, legte er sich aufs Bett hin.

Miltoun, der von der notwendigen Schaustellung seiner Person, dem Haupttrumpf einer jeden Wahlschlacht, zurückkam, fand Zeit, ihn zu besuchen.

»Ihr letztes Plakat!« fing Courtier sogleich an.

»Ich lasse es zurückziehn.«

»Es hat seine Schuldigkeit getan – gratuliere! – Sie werden durchdringen!«

»Ich habe nichts davon gewußt.«

»Das habe ich Ihnen auch nicht zugetraut, Verehrtester.«

»Courtier, wenn zwischen einem Wanderer und der heiligen Stadt eine Wüste liegt, so gibt er seine Pilgerfahrt nicht deshalb auf, weil er sich unterwegs in schmutzigem Wasser waschen muß. Der Pöbel – wie ich ihn verabscheue!« Eine solch verhaltene Wut sprach aus diesen Worten, daß sie sogar den überraschten, der sein Leben lang gegen die Majorität angekämpft hatte.

»Ich hasse die blöde Gemeinheit des Pöbels, ich hasse den Klang seiner Stimme und den Ausdruck seines Gesichts – es ist alles so häßlich, so niedrig. Courtier, ich leide Höllenqualen bei dem Gedanken, daß ich mittels der Stimmen des Pöbels durchdringen werde. Es ist sündhaft, mich dieser Kreaturen zu bedienen, und dafür muß ich büßen.«

Auf diesen seltsamen Ausbruch erwiderte Courtier anfangs kein Wort.

»Sie haben zu viel gearbeitet,« sagte er zuletzt. »Sie haben ein wenig das Gleichgewicht verloren. Schließlich besteht der Pöbel aus Menschen wie Sie und ich.«

»Nein, Courtier, der Pöbel setzt sich nicht aus Leuten wie wir beide zusammen. Sonst wäre es eben kein Pöbel.«

»Es sieht so aus,« erwiderte Courtier ernsthaft, »als hätten Sie auf dieser Galeere nichts zu suchen. Ich habe mich immer davon ferngehalten.«

» Sie folgen Ihren Neigungen. Ich bin nicht so glücklich.«

Miltoun wandte sich bei diesen Worten der Tür zu. Courtiers mahnende Stimme klang ihm nach.

»Wenn das Ihre Überzeugung ist, so lassen Sie die Politik fallen! Vergeuden Sie nicht Ihr Leben mit der Verfolgung Ihres Zieles, was dieses Ziel auch sein mag; vergeuden Sie nicht das Leben!«

Miltoun jedoch gab keine Antwort.

Es war eine wundervoll stille Nacht, als der Kämpe der verlorenen Sache mit unter dem Hut verbundener Stirn wenige Minuten vor zwölf das Hotel verließ und sich auf den Weg zur Lateinschule begab, um das Wahlergebnis zu erfahren. Er ging einem Geräusch nach, das dem Schnauben eines Ungetüms glich, bis er von einer steilen, leeren Gasse aus eine wogende Menge gewahrte, die sich über den Marktplatz wie ein dunkler, von Laternenstrahlen durchwirkter Teppich ausbreitete. Ein hellerleuchtetes Zifferblattgesicht an dem kleinen spitzen Turm der Lateinschule blickte von seiner Höhe auf die Schar herab; und über den leidenschaftlichen Hoffnungen in jenen Tausenden von Herzen, die durch die Ungewißheit miteinander verknüpft waren, wölbte sich hoch der Himmel, und keine Wolke stand zwischen ihnen und der dunkelvioletten Atmosphäre. Courtier, der zum Platz hinabstieg, schienen die weißen, wogenden, nach einer Richtung gekehrten Gesichter wie die Köpfe riesiger, wilder, vom Wind bewegter Blumen in einem nächtlichen Felde. Die Nacht hatte die blauen und die gelben Tatsachen weggezaubert und jener Schar lebendige Erregung eingehaucht. Und gleichzeitig kam ihm die Schönheit und Bedeutung dieser Szene zum Bewußtsein: die Äußerung lebendiger Kräfte, deren fortwährendes, von der Macht des Gleichgewichtes beherrschtes Wirken die Seele der Welt bedeutet; Tausende von Herzen, denen die Wichtigkeit des eigenen Selbst in der gemeinsamen, überwältigenden Erregung unterging!

Ein alter Mann mit langem Graubart, der dicht neben ihm stand, murmelte:

»Eine spannende Sache – möcht' es nicht um alles in der Welt versäumen.«

»Prachtvoll, nicht wahr?« entgegnete Courtier.

»Jawohl,« sagte der Alte, »wirklich prachtvoll! Ich hab' so was seit dem großen achtundvierziger Jahr nicht wieder erlebt. Da sind sie – die Aristokraten!«

Courtier, der mit dem Blicke der Richtung jener magern Hand folgte, sah auf einem Balkon Lord und Lady Valleys nebeneinander stehen und ruhig auf die Schar herabblicken. Auch Barbara lehnte an einem Fenster und sprach zu jemandem hinter ihr. Der Alte fuhr zu murmeln fort und Courtier merkte, daß seine Augen ganz hell geworden waren und wie plötzlich eine heftige Feindseligkeit aus seinem Antlitz sprach; er fühlte sich zu diesem alten Menschen hingezogen, der so bis ins Innerste ergriffen war. Dann bemerkte er, wie Barbara zu ihm herabblickte, die Hand an der Schläfe, um ihm zu bedeuten, daß sie seinen verwundeten Kopf sah. Er hatte die Geistesgegenwart, nicht den Hut zu lüften.

Der Alte sprach wieder:

»Sie können sich wohl kaum an Achtundvierzig erinnern. Damals haben die Leute so was Besonderes gefühlt – damals hätten wir gern unser Leben drangesetzt. Ich bin vierundachtzig, aber da drin ist der Geist noch immer lebendig!« – und er schlug sich mit der zitternden Hand auf die Brust. »Gott gebe, daß der Radikale siegt!« Ein Geruch wie von Kartoffeln strömte von ihm aus.

Weit rückwärts, ganz am Saum der großen, dunkeln Menge fingen ein paar Stimmen zu singen an: »Auf dem schönen Swanee-Fluß.« Das Lied rauschte dahin, brach ab, fing wieder an und erstarb sodann.

Da brüllte ganz im Mittelpunkt des Platzes ein gewaltiger Bariton: »Der alten Freundschaft denken wir!«

Das Lied schwoll an, bis jede Stimme, vom Sopran bis zu dem bebenden Baß des alten Chartisten mitsang; die Leute, die einander an den Händen hielten, wogten auf und nieder. Courtier fand die weichen Finger einer jungen Frau in seiner rechten Hand, des alten Chartisten dürre, zitternde Pfote in seiner linken. Er selbst sang laut mit. Das ernste, eindrucksvolle Lied stieg gerade in die Luft empor, drang nach allen Seiten und verlor sich dann zwischen den Hügeln. Kaum jedoch war es verhallt, als derselbe Posaunenbariton brüllte: »Gott beschütze unsern gnädigen König!« Die Menge schien wie mit einem Schlag um zwei Fuß zu wachsen und unter dem Dach geschwenkter Hüte erdröhnten wilde Hochrufe.

›So was nennt sich Religion!‹ dachte Courtier.

Sogar auf den Balkonen sang man; im Lampenlicht konnte er Lord Valleys' Mund bemerken, der nicht weit genug geöffnet war, als schämte sich seine Stimme ein klein wenig, hervorzudringen, während Barbara, den Kopf gegen den Pfeiler zurückgeworfen, aus vollem Herzen einstimmte. Kein einziger Mund in der ganzen Menge blieb geschlossen. Es war, als stiege die Seele des englischen Volkes, von den Banden der Zurückhaltung befreit, auf den Schwingen jenes Lieds empor.

Doch plötzlich, wie ein angeschossener Vogel die Flügel faltet, verstummte das Lied und schien kopfüber zur Erde herabzustürzen. Unter dem Zifferblattgesicht kam eine magere, dunkle Gestalt zum Vorschein. Mehrere Gestalten folgten ihr. Courtier konnte Miltoun sehen. Eine Stimme weit weg rief: »Chilcox heraus!« Ein allgemeines »Ruhe!« erscholl; dann trat ein solches Schweigen ein, daß man das Geräusch einer Lokomotive, die anderthalb Kilometer entfernt rangiert wurde, deutlich vernahm.

Die dunkle Gestalt trat vor, und ein kleines Stück Papier hob sich weiß vom Schwarz ihres Gehrocks ab.

»Meine Damen und Herren! Das Ergebnis der Wahl: Miltoun – viertausendachthundertundachtundneunzig Stimmen. Chilcox – viertausendachthundertundzwei.«

Das Schweigen schien zu Boden zu fallen und in tausend Stücke zu zerbrechen. Durch den Höllenlärm von Hoch- und Schmährufen bahnte sich Courtier mit aller Kraft einen Weg zum Balkon. Er konnte Lord Valleys sehen, der sich mit befriedigtem Lächeln vorbeugte, Lady Valleys, die sich mit der Hand über die Augen fuhr, und Barbara, deren Hand in der Harbingers lag, wobei sie ihm gerade ins Gesicht sah. Er blieb stehen. Der alte Chartist stand noch immer neben ihm, und Tränen strömten ihm über die Wangen in den Bart hinunter. Courtier sah Miltoun vortreten, der totenblaß, ohne ein Lächeln, dastand.


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