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Vierzehntes Kapitel

Das Exemplar der ›Bucklandbury News‹, das den Bericht über Miltouns nächtliches Abenteuer enthielt, ging ihm erst im Augenblicke zu, als er die Rückreise antrat. Es war mit Blaustift angestrichen, und ein kurzer Brief lag bei:

 

›Mein lieber Eustace!

Die Beilage, wenn auch noch so ungerechtfertigt und unverschämt, erfordert Beachtung. Aber wir werden nichts tun, bis Du zurückkommst.

Stets Dein
William Shropton.‹

 

Vielleicht hätte dies eine andere Wirkung auf Miltoun ausgeübt, hätte er sich nicht fortwährend nur mit dem einen Gedanken beschäftigt, Audrey Noel zu fragen, ob sie seine Frau werden wolle; aber wahrscheinlich hätte er unter keinen Umständen etwas anderes getan als gelächelt und die Zeitung zerrissen. Derlei Dinge konnten ihn in der Tat so wenig persönlich verletzen oder aufregen, daß er unmöglich zu begreifen vermochte, wie sie andere verletzen oder aufregen konnten. Wenn jene, die es lasen, davon beunruhigt wurden, umso schlimmer für sie. Er fühlte eine wahre, wenn auch nicht zur Schau getragene Verachtung für Klatschsüchtige jeden Standes; und er ließ es sich nie einfallen, aus Respekt vor ihren Launen auch nur einen Zoll breit von seinem Wege abzuweichen. Auch kam es ihm nicht zum Bewußtsein, daß Mrs. Noel, umwoben von dem Zauber, mit dem er sie umkleidet hatte, möglicherweise unter der Gemeinheit niedriger Seelen leiden könnte. Shroptons Brief verursachte ihm wahrlich mehr Ärger als das andere Dokument. Es sah seinem Schwager ähnlich, die Dinge so aufzubauschen!

Während der raschen Reise durch das schlummernde Land war er kaum eingenickt; auch nach der Ankunft in seinem Zimmer in Monkland ging er nicht zu Bett. Er hatte das wunderbar erhebende Gefühl eines Menschen, der knapp vor dem Ziele steht. Sein Geist und seine Sinne brannten – denn diese Frau war so beschaffen, daß sie ihm keinen Augenblick Ruhe ließ, und er freute sich, daß sie ihn so ganz in Anspruch nahm.

Er trank etwas Tee, verließ das Haus und schlug dann einen Pfad nach dem Heidemoor ein. Es war noch nicht acht Uhr, als er die nächste Anhöhe erstiegen hatte. Und dort, zu seinen Füßen, um ihn, über ihm dehnte sich ein Land und ein Himmel, die sogar seine Begeisterung überboten. Es war wie eine Symphonie erhabener Musik; oder wie der sich offenbarende Adel einer unendlich großen Seele; Gott selbst thronte dort oben in seiner Allmacht. Heitere Ruhe lag weit über des Himmels unbegrenzte Bläue gebreitet; und gen Osten zogen drei riesige Wolken, Gedanken gleich, über die Geschicke in der Tiefe sinnend, langsam dem Meere zu, so daß breite Schatten die Täler erfüllten. Und das Land, das unter dem unbedeckten Himmel lag, leuchtete und zitterte in allen Farben, wie in göttlichem Lächeln erstrahlend. Der Wind von Norden, auf dem die kleinen Wolken wie weiße Vögel dahintrieben, hatte keine Stimme, er blies schrankenlos, vollkommen frei dahin. Vor Miltoun, der diesem Wind entgegenschritt, lag das Labyrinth der Ebenen, der verschwommenen Wiesen, der rosafarbenen Tinten, das Braun der Felder und die weißen und grauen Punkte und Striche der Häuschen und Kirchtürme, die sich in den blauen Dunst des von einer fernen Hügelkette begrenzten Horizonts verloren. Hinter ihm war nichts als die ruhelose, purpur-braune Fläche des Heidemoors. Auf dem öden Meer dieser steinernen Wildnis war nur ein einziges Schiff von Menschenhand am fernen Horizont zu sehen: der grimme Holk, das Dartmoor-Gefängnis. Kein Laut, kein Duft – Miltoun schien es, als hätte sein Geist seinen Körper verlassen und wäre eins geworden mit der Erhabenheit Gottes. Doch als er mit entblößtem Haupte dastand, zeigte jenes seltsame Lächeln, das in Augenblicken tiefer Empfindung um seine Lippen spielte, daß er sich dem Universum nicht unterworfen hatte, sondern daß es seinen Geist nur stärkte und daß dies die geheime wahre Quelle seiner Freude war. Er legte sich auf einen Steinhaufen. Die Sonnenstrahlen drangen hin, jedoch kein Wind, so daß die jungen Heidekrautschößlinge einen trockenen, wohligen Duft ausströmten. Duft und Wärme fanden ihren Weg durch den Schild seines Geistes und stahlen sich ihm ins Blut; üppige Bilder stiegen vor ihm auf, die Vision einer Umarmung ohne Ende. Aus einer Umarmung ging das Leben hervor, aus dem Leben entstand die Welt, diese Welt mit ihren zahllosen Gestalten und Naturen – jede so verschieden von der andern! Und aus ihr und ihm würden Gestalten hervorgehen, die ihren Platz in dem großen Organismus einnehmen würden. Dies schien wunderbar und doch ganz in Ordnung, denn es müßten würdige Gestalten sein, die jene Traditionen, die ihm so groß und notwendig schienen, weiterpflanzen würden. Und die Woge eines wahnsinnigen Begehrens, gegen das er so oft angekämpft, das er so oft mit größter Mühe zurückgedrängt hatte, brach über ihn herein. Er erhob sich und rannte bergab, über Steine und dicke Heidekrautbüschel springend.

Auch Audrey Noel war zeitlich aufgestanden, obwohl sie ziemlich spät zu Bett gegangen war. Sie kleidete sich müde, doch äußerst sorgsam an, denn sie war eine jener Frauen, die sich gegen das Schicksal wappnen, weil sie stolz sind und dem Gedanken abhold, daß durch ihre Leiden andere leiden sollten; auch deshalb, weil ihnen ihr Körper gewissermaßen heilig ist, da er ihnen anvertraut ward, um Freude zu spenden. Nachdem sie fertig war, betrachtete sie sich im Spiegel etwas mißtrauischer als gewöhnlich. Sie empfand, daß eine solche Frau wie sie in diesen Tagen nicht sehr gesucht war, und als feinfühlige Person war sie mit ihrer Erscheinung und ihren Gewohnheiten nie zufrieden. Trotz alledem benahm sie sich weiter auf solch unbefriedigende Weise, denn in ihrer unverbesserlichen Art liebte sie's, so entzückend auszusehen wie nur möglich; und auch wenn sie keinen Besuch erwartete, sah sie für ihr Empfinden doch nie entzückend genug aus. Sie gehörte – wie Lady Casterley so klug erraten hatte – zu jenen Frauen, die die Männer dadurch verwöhnen, daß sie zu gut zu ihnen sind; mit denen jene nichts anzufangen wissen, die verlangen, daß die Frauen sich durchsetzen sollen; die aber eben gewissen passiven, höchst unangenehmen Stoizismus besitzen. Obwohl sie nur selten oder gar nicht aus eigenem Antrieb handelte, tat sie, was sie zu tun veranlaßt wurde, mit einer Gründlichkeit, die aus eigener Initiative Handelnde beschämt hätte; ihr Temperament erlaubte ihr nicht, irgend etwas von irgend jemand zu erbitten, doch brauchte sie Liebe wie eine Pflanze Wasser; sie konnte sich gänzlich hingeben und dennoch seltsam charaktervoll bleiben; mit einem Wort: sie war hoffnungslos und wurde gewöhnlich von jenen geliebt, die das erkannten. Nichtsdestoweniger konnte man sie kaum eine ›entzückende Frau‹ heißen – ein Ausdruck, den sie haßte – denn sie hatte eine sonderbare, leicht zynische Ader. Sie ›sah‹ mit außerordentlicher Schärfe, als wäre sie in Italien geboren, und als wäre ihre Seele noch immer von jener trockenen, klaren Atmosphäre umgeben. Sie liebte Glut und Wärme und Farbe; einen ihrem Gefühl nach heidnischen Mystizismus; und sie hatte nur geringen Ehrgeiz – sie nahm die Dinge, wie sie sich ihr zeigten.

Nachdem sie an diesem Morgen, als sie nach Geranien duftete, alle die kleinen Toilettekünste gebraucht hatte, derer auch die besten Frauen nicht entraten können, ging sie in ihr kleines Eßzimmer hinunter, zündete den Spiritusbrenner an, nahm die Zeitung und blieb wartend stehen, um Tee zu bereiten. Das war die Tagesstunde, die sie am liebsten hatte. Wenn auch von ihrem Leben der Tau weggestreift worden war, so lag er doch dort draußen noch immer jeden Morgen auf dem Antlitz der Natur und auf dem Antlitz ihrer Blumen; so viel Freude stand ihr jetzt bevor, wenn sie nachsah, wie ein jedes jener kleinen Geschöpfe im Garten geschlafen hatte; wie viele Kinder seit der Morgendämmerung zur Welt gekommen waren; wem etwas fehlte und wer der Pflege bedürftig war. Auch hatte sie das Gefühl, das sich allmorgendlich bei denen erneuert, die ein einsames Leben führen: daß sie gar nicht einsam sind, bis der dahinstreichende Tag sie von der Tatsache überzeugt. Nicht, daß sie etwa müßig gewesen wäre, denn durch Courtiers Empfehlung hatte sie die Besprechung von Musikstücken für eine Frauenzeitung erhalten, wozu sie wie geschaffen war. Dies, ihre Blumen, ihr Musizieren und die Angelegenheiten gewisser Pächterfamilien füllten ihre ganze Zeit aus. Und sie forderte kein besseres Geschick, als jede Minute beschäftigt zu sein, da sie eine Leidenschaft für solche Arbeit hatte, die keine Initiative erfordert, wie dies Menschen von nicht selbsttätigem Geiste eigen ist.

Plötzlich ließ sie die Zeitung sinken, ging zur Blumenschale auf dem Frühstückstisch und entfernte zwei Stengel Lavendel; sie möglichst weit von sich haltend, schritt sie in den Garten hinaus und schleuderte sie über die Mauer.

Diese seltsame Opferung jener beiden armen, so frühzeitig aufgeblühten Zweige, die ihr Mädchen mit solch freundlichen Absichten gepflückt und auf den Tisch gestellt hatte, schien eine Handlungsweise, die man zu allerletzt von einer Frau erwartet hätte, die es haßte, die Gefühle anderer zu verletzen, und deren Augen beim Anblick von Blumen stets aufleuchteten. In Wahrheit aber griff sie der Geruch von Lavendel – jener Duft, der den Kleidern und Taschentüchern ihres Gatten anhaftete – noch immer so sehr an, daß sie ihn nicht ertragen konnte. Nichts anderes vermochte ihr so sehr den Mann vor Augen zu bringen, mit dem zu leben ihr nach und nach zur Höllenqual geworden war. Und durch jenen Duft entfesselt, brach die ganze Flut der Erinnerungen über sie herein. Die Erinnerung an drei Jahre, während welcher sie hartnäckig die Zähne zusammengebissen hatte über die Entdeckung, daß sie ihr Leben lang auf alles Glück verzichten müsse; die Erinnerung an das jähe Ende und ihr Davonschleichen, um ihre zerrütteten Nerven zu erholen. Wie sie während des ersten Jahres jener Freilassung, die keine Freiheit bedeutete, zweimal ihre Wohnstatt gewechselt hatte, um ihrer eigenen Geschichte zu entfliehen – nicht etwa, weil sie sich ihrer schämte, sondern weil sie sie an ihr Elend gemahnte. Wie sie dann nach Monkland Court gekommen war, wo sie durch das ruhige Leben allmählich ihre Spannkraft zurückgewann. Und dann an ihre Begegnung mit Miltoun; die unerwartete Freude über diese Kameradschaft; das ungestörte Genießen jener ersten vier Monate. Und sie gedachte all ihres geheimen Frohlockens, des stillen Verschmelzens eines andern Lebens mit dem ihren, ehe sie Liebe eingestanden oder auch nur vermutet hätte. Und gerade vor drei Wochen, als er ihr beim Aufbinden der Rosen behilflich gewesen war, hatte er sie berührt, und da hatte sie es gewußt. Doch selbst damals hatte sie noch nicht daran zu glauben gewagt, erst in der Nacht von Courtiers Unfall. Mehr für ihn besorgt als für sich selbst, fragte sie sich jetzt wohl tausendmal, ob es ihre Schuld gewesen sei. Sie hatte es zugelassen, daß er sie lieb gewann, sie, eine Frau, die nicht in Betracht kam, eine Tote! Welch unverzeihliches Vergehen! Doch zweifellos kam es darauf an, was sie zu geben bereit war! Und sie war ernstlich bereit, alles zu geben und nichts zu fordern. Er kannte ihre Lage, das hatte er ihr ja gesagt. In ihrer Liebe zu ihm schwelgte sie, würde sie auch weiterschwelgen, würde ihretwegen ohne Reue leiden. Miltoun hatte Recht mit seiner Überzeugung, daß der Zeitungsklatsch sie gar nicht zu kränken vermochte, obwohl die Gründe, weshalb alles an ihr abprallte, nicht die von ihm vermuteten waren. Sie war nicht, wie er, vor Kränkungen gefeit, weil derartige Andeutungen über die Privatangelegenheiten anderer häßlich, gemein und keiner Beachtung würdig waren; es war ihr bisher noch nicht in den Sinn gekommen, die Sache in einem solch erhabenen und allgemeinen Sinne zu betrachten; sie fühlte sich einfach nur deshalb nicht gekränkt, weil sie bereits so sehr Miltouns geistiges Eigentum war, daß sie sich fast freute, wenn man sie ihm gänzlich zusprach. Doch um Miltouns willen war sie in tiefster Seele beunruhigt. Sie hatte seinen Schild in den Augen der Menschen befleckt; und möglicherweise (denn sie war seltsam praktisch und sah die Dinge im richtigen Verhältnis) seine Karriere gehemmt, wer weiß, für wie viele Jahre!

Sie setzte sich hin, um den Frühstückstee zu trinken. Da Weinen nicht ihre Gewohnheit war, litt sie schweigend. Sie fühlte, daß Miltoun zu ihr kommen würde. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, wenn er wirklich käme. Er konnte sie nicht so lieb haben, wie sie ihn! Er war ein Mann; die Männer vergessen gar bald! Doch er war nicht wie die meisten andern Männer. Man konnte seine Augen nicht ansehen ohne das Empfinden, daß er entsetzlich leiden könne! Bei all dem lag ihr nicht das geringste an ihrem eigenen Rufe. Das Leben und ihre klare Auffassung der Dinge hatten ihr die Überzeugung eingepflanzt, daß der Wert ihres Rufes für die Frau nur eine Erfindung sei, die die Männer einzig und allein zu ihrem eigenen Vorteil ersonnen haben; ein traditioneller, unvermeidlicher Fetisch, den die Männer hinterlistig in Romanen, Theaterstücken und im Gerichtshof zur Anbetung aufgerichtet haben. Ihr Instinkt sagte ihr, daß die Männer sich im Besitze ihrer Frauen nicht sicher fühlen könnten, so lange sie nicht glauben durften, daß den Frauen ungeheuerlich viel an ihrem sexuellen Rufe liege. Was sie glauben wollten, das glaubten sie auch wirklich! Sie aber wußte, daß es anders war. Die hochherzigen Frauen, die sie kennen gelernt oder von denen sie gelesen hatte, hatten bei ihr stets den Eindruck hinterlassen, daß ihr Ruf für sie eine rein geistige Sache war, die nur wenig mit dem Geschlecht zu tun hatte. Ihr eigenes Gefühl sagte ihr, daß der gute Ruf für eine einfache Frau bedeute, in den Augen derer, die sie am meisten liebte, rein dazustehen. Denn bei weltlichen Frauen – und neben den bloßen Modedamen gab es deren so viele Arten – hatte sie stets bemerkt, daß für sie der Wert des Rufes nicht innerlicher, sondern geschäftlicher Natur war, nicht die Krone der Würde, sondern nur ein verkäuflicher Besitz. Es berührte sie nicht im entferntesten, was die Leute über ihre Freundschaft mit Miltoun sagen mochten; noch empfand sie irgendwie, daß ihre unlösbare Ehe ihr verbiete, ihn zu lieben. Im geheimen hatte sie sich frei gefühlt, sobald sie entdeckt hatte, daß sie ihren Gatten nie wahrhaft geliebt; sie hatte nur pflichtgetreu bis zur Trennung ausgeharrt, aus bloßer Passivität und weil es ihrer Natur zuwiderging, jemandem Schmerz zu bereiten. Der Mann, der noch immer ihr Gatte war, war jetzt so tot für sie, als hätte er nie gelebt. Zwar konnte sie nicht wieder heiraten, aber sie konnte lieben und tat es auch. Wenn diese Liebe verhungern und dahinsterben sollte, so würde es nicht wegen irgend welcher moralischer Bedenken sein.

Gleichgültig öffnete sie die Zeitung und fast die ersten Worte, auf die ihr Blick fiel, waren – unter der Aufschrift: ›Wahlneuigkeiten‹ – die folgenden:

›In der Angelegenheit des Überfalls auf Mr. Courtier ersucht man uns festzustellen, daß die Dame, in deren Begleitung Lord Miltoun sich befand, als er dem genannten Herrn zu Hilfe eilte, Mrs. Lees Noel, die Gattin Seiner Hochwürden Stephen Lees Noel, des Pfarrers von Clathampton in Warwickshire, war.‹

Dieser recht zweifelhafte, armselige Versuch einer Weißwaschung rief nur ein etwas trauriges Lächeln auf ihren Lippen hervor. Sie ließ den Tee stehen und trat ins Freie hinaus. Miltoun kam gerade zum Pförtchen herein. Ihr Herz tat einen Sprung. Doch ging sie ihm ruhig entgegen und begrüßte ihn mit niedergeschlagenen Augen, als ob nichts Ungewöhnliches vorgefallen wäre.


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