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Achtes Kapitel

Für eine Frau wie Audrey Noel, die dazu geboren war, das Gegenstück und die Ergänzung eines andern zu sein, dessen Beschäftigung und Ziele innerlich von irgend einem ihrer eigenen und unabänderlichen Lebenszwecke dauernd getrennt waren, war diese freiwillige Entwurzelung eine ernste Angelegenheit.

Ohne ihre Blumen, des freundlichen Rauschens ihrer Linde, der Fürsorge für die Dorfbewohner beraubt, die geschäftige Eintönigkeit kleiner häuslicher Dinge entbehrend, die das Um und Auf einsamer Frauen sind, fühlte sie sich ganz verloren. Nicht einmal ihre Musikkritiken schienen ihr Trost zu gewähren. Sie hatte nie zuvor in London gelebt, so daß sie nicht zu alten Schlupfwinkeln und Gewohnheiten Zuflucht nehmen konnte, sondern sie sich erst schaffen mußte – und dazu bedurfte es eines Herzens, das sich wenigstens bemühen konnte, neue Dinge heranzuziehen, was jedoch ihr Herz jetzt nicht imstande war. Nachdem sie gegen den Eduardischen Stil ihrer Wohnung angekämpft und ihre einfachen Mahlzeiten angeordnet hatte, fühlte sie sich so verlassen wie nur je ein aus dem Gefängnis entlassener Sträfling. Nicht einmal den einen Trost hatte sie: ihre Gefühle verbergen zu müssen, um andere nicht zu beunruhigen. So stand sie da mit ihrer Sehnsucht und ihrem Kummer, und niemand und nichts hätte vermocht, sie aus sich selbst herauszureißen. Da sie aber aus eigenem Willen diese Lage gewählt hatte, versuchte sie damit fertig zu werden, so gut es ging, und fand sie jedenfalls erträglicher als den Aufenthalt in Monkland, wo sie den schmerzlichen und unverzeihlichen Irrtum begangen hatte, sich zu verlieben.

Genau so wie der erste schmerzliche und unverzeihliche Irrtum ihrer Ehe war auch diese Liebe aus der großen Anlage hervorgegangen, andern Freude zu machen und Glück um sich zu verbreiten, und aus einer zu großen Neigung, sich einem andern aufzuopfern. Doch die Kenntnis dessen, daß nur der Wunsch, Liebe zu spenden und zu empfangen, sie zweimal als eine Tote zurückgelassen hatte, war ein jämmerlicher Trost. Welcher Art auch immer die unreifen Empfindungen gewesen sein mochten, mit denen sie als Zwanzigjährige ihrem Gatten gegenübergetreten war, in ihrem Gefühl für Miltoun brannte nicht nur die Flamme der Hingabe, sondern auch die der Entsagung. Sie wollte ihr Bestes für ihn tun und hatte nicht einmal den Trost, daß sie sich zu seinem Nutz und Frommen aufgeopfert hatte. Alles war ja ihren Händen entwunden worden! Doch in dem für sie charakteristischen Fatalismus fühlte sie sich nicht empört. Wenn es ihr bestimmt war, fünfzig, vielleicht sechzig Jahre hindurch in freudloser Unfruchtbarkeit den ersten Fehler ihrer Mädchenjahre zu bereuen, so würde ihr noch immer ein Gefühl der Empörung fernliegen. Wenn sie rebellierte, so würde es nicht im Geiste sein, sondern in Handlungen. Allgemeine Grundsätze galten ihr nichts; sie verlor keine Kraft mit dem Grübeln über die Gerechtigkeit oder die Ungerechtigkeit ihrer Lage, sondern versuchte nur, mit den Tatsachen fertig zu werden.

Den ganzen Tag nach Courtiers Besuch verbrachte sie in der Nationalgalerie, deren Dach das einzige in London zu sein schien, das ihr Schutz bot. Sie hatte ein Gemälde eines italienischen Meisters entdeckt, das sie an Miltoun erinnerte; und sie saß lang davor, bis sie endlich die glotzenden Blicke eines Aufsehers auf sich zog. Die unbewegliche Gestalt dieser Dame mit dem ovalen Gesicht und der ernsten Schönheit erregte seine Neugier und rief auch gewisse moralische Bedenken in ihm wach. Gewiß wartete sie auf ihren Liebhaber. So weit seine Erfahrung reichte, hatte noch keine Frau je so lang vor einem Gemälde ohne höheren Zweck gesessen; und er ließ die Augen nicht von ihr, um zu sehen, was das für ein Zweck sein würde. Daher versetzte es ihm fast einen Schlag, als er bei seiner neuerlichen Runde fand, daß die beiden ihm ausgewichen und zusammen fortgegangen waren, ohne von ihm gesehen zu werden. Er setzte sich – denn er war den ganzen Tag auf den Füßen gewesen und sie schmerzten ihn – an die Stelle, wo sie gesessen hatte, und wider Willen sah er ebenfalls nach dem Bilde hin. Es war in einem Stil gemalt, der ihm nicht gefiel; auch verursachte ihm das Gesicht des Sujets das seltsame Gefühl, daß der betreffende Herr innerlich verbrannte. Er hatte jedoch nicht lange dort gesessen, als er bemerkte, daß die Dame bei dem Gemälde stand, und daß die Lippen des Herrn auf dem Bilde sich bewegten. Das schien ihm gegen die Vorschriften zu sein, weshalb er sich sogleich erhob und hinging; da fand er, daß seine Augen geschlossen waren, und er öffnete sie hastig. Niemand stand dort.

Aus der Nationalgalerie war Audrey in eine bescheidene Teestube und dann nach Hause gegangen. Vor dem Hause stand eine Autodroschke, und das Mädchen kam ihr mit der Nachricht entgegen, daß ›Lady Caradoc‹ im Wohnzimmer warte.

Tatsächlich stand Barbara in der Mitte des Zimmers mit einem Ausdruck im Gesicht, wie ihn ihr Vater manchmal auf dem Rennplatz hatte, oder auf der Jagd, oder bei stürmischen Kabinettssitzungen, mit einem Ausdruck, der zugleich klug und entschlossen war. Sie begann sofort:

»Ich habe Ihre Adresse von Mr. Courtier erfahren. Mein Bruder ist krank. Ich fürchte, es ist Gehirnfieber, am besten wäre es, wenn Sie zu ihm in den Temple gingen; es ist keine Zeit zu verlieren.«

Audrey schien es, als ob das Zimmer sich im Kreis um sie drehe; doch alle ihre Sinne waren übernatürlich scharf, so daß sie deutlich den Geruch des Themseschlamms zur Zeit der Ebbe spürte. Sie sagte schaudernd:

»O, ich gehe; ja, ich gehe sofort.«

»Er ist ganz allein. Er hat nicht nach Ihnen verlangt; aber ich glaube, daß es die einzige Rettung für ihn ist. Er hat mich für Sie gehalten. Sie sagten mir einmal, daß Sie eine gute Krankenpflegerin wären.«

»Ja.«

Das Zimmer hatte aufgehört sich zu drehen, doch Audrey hatte die übernatürliche Schärfe ihrer Sinne verloren und war verwirrt. Sie hörte Barbara sagen: »Ich kann Sie in der Droschke bis zum Haus bringen,« murmelte: »Ich will mich fertig machen,« und ging ins Schlafzimmer. Einen Augenblick lang war sie so bestürzt, daß sie sich nicht rühren konnte. Dann verlor sich jeder andere Gedanke in ein seltsames, sanftes, fast schmerzhaftes Entzücken, als würde ein ganz neues Gefühl in ihr geboren. Und rasch, aber ohne Eile und Verwirrung, fing sie zu packen an. Sie packte in ihre Handtasche ihre Toilettesachen, wollene Tücher, Watte, Kölnerwasser, eine Wärmeflasche, einen Schnellsieder, Schals, Thermometer und alles sonstige, was man für einen Kranken brauchen konnte. Sie zog ein einfaches Kleid an, ergriff die Tasche und kehrte zu Barbara zurück. Sie gingen zur Droschke hinunter. Im Augenblick, da der Wagen sie dieser gleichzeitig so willkommenen und so entsetzlichen Prüfung entgegentrug, übermannte sie wieder die Angst, so daß sie sich ganz blaß und schweigend in die Ecke drückte. Sie vernahm, wie Barbara dem Chauffeur zurief: »Fahren Sie durch den ›Strand‹ und halten Sie beim Geflügelhändler an, damit wir Eis einkaufen können!« Und als man den Eisbeutel in den Wagen reichte, hörte Audrey sie sagen: »Ich werde Ihnen alles Nötige bringen – wenn er wirklich krank wird.«

Als dann der Wagen anhielt und sie den Eingang sah, gewann sie ihren ganzen Mut wieder.

Sie fühlte des Mädchens warme Hand in der ihren, ergriff Handtasche und Eisbeutel, stieg aus und eilte die Stufen empor.


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