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Dreizehntes Kapitel

Dank Lady Valleys, einer Beschützerin der Vögel, wurde auf dem Gebiet von Monkland Court nie eine Eule geschossen, und diese sanft huschenden Geister der Dämmerung riefen und jagten zu Nutz und Frommen Aller mit Ausnahme der wühlenden Erdmäuse. An jedem Pachthof, Häuschen und Felde kamen sie unsichtbar vorbei, die dunkle Luft durchschneidend. Ihre Entdeckungsreisen erstreckten sich bis zu dem wilden Steinmann auf dem Heidemoor, dessen Ursprung sie in ihrer Weisheit vielleicht kannten. Um Audrey Noels Häuschen flogen sie so dicht wie Heuschrecken, denn gerade dort hatten sie zwei Behausungen in einer langen, alten, von Stechpalmen bewachsenen Mauer und schienen die Herrin jener strohgedeckten Wohnstatt förmlich zu bewachen – so unermüdlich umstrichen sie flatternd das Haus, so zärtlich langgezogen erklangen ihre sanften Wächterrufe. Nun, da das Wetter wirklich warm war, so daß die Mäuse freudig ihr Dasein genossen, fanden die Eulen diese saftigen Geschöpfe außergewöhnlich wohlschmeckend, und jedes Paar zog damit eine Familie von außergewöhnlich hübschen, kleinen Eulen auf, die ganz feierlich dreinsahen, dicke Köpfe, helle große Augen und Flügel hatten, womit sie vorläufig nur zu Boden fliegen konnten. Kaum eine Stunde von Mittag an bis zu den süßen Stunden des frühen Morgens, da niemand sie hörte, ließen sie verstreichen, ohne die sehr große, ruhige, flügellose Eule zu begrüßen, die sie erspähen konnten, wie sie bei Tag in ihren Mäuserevieren umherspazierte und morgens und abends in einem großen, viereckigen Loch hoch oben in der Vorderwand ihre teils weißen, teils blauen, teils grauen Federn putzte. Und sie konnten unmöglich begreifen, warum jener Damenvogel weder flinke, gewandte Anmut noch die Gewohnheit des sanften, langgezogenen Rufens besaß.

Am Abend des Tages, an dem sie jenen frühzeitigen Morgenbesuch empfangen hatte, flatterte Audrey Noel bei Beginn der Dämmerung, in einen langen, dünnen Mantel gehüllt und einen schwarzen Spitzenschal über dem dunkeln Haar, selbst auf die Heckenwege hinaus, als wollte sie sich den ernsten, beschwingten Trägern der unsichtbaren Nacht zugesellen. Jene fernen, unterbrochenen Laute, die auf dem Lande erst lang nach Sonnenuntergang verstummen, hatten gerade erst aufgehört, die Luft zu erfüllen, in der der späte Maiduft hing, wie ein Duft in den Gewändern einer Frau. Nur das Bellen eines Hundes, das Gebrumm umherschwirrender Käfer, das Singen des Baches und der Eulen ließ sich vernehmen, gleichsam wie der Herzschlag dieser duftenden Nacht. Auch schien kein Licht, das Antlitz der Nacht zu enthüllen; es war versteckt, undurchdringlich, so daß es, wenn eine Lampe aus einem Häuschen einen Schimmer auf den Abhang gegenüber warf, den Anschein hatte, als hätte ein wandernder Maler ein Bildnis von Blättern und Steinen in die schwarze Luft gezeichnet, es in Purpur gerahmt und dort hängen lassen. Dennoch war die Nacht, hätte man sie nur richtig erfaßt, so voller Leidenschaft wie diese umherwandernde Frau, die gegen die Böschung zurückbebte, sobald jemand vorbeikam, stehen blieb, um ihr glühendes Antlitz an dem Tau des Farns zu kühlen, und hastig dahinschritt, um ihr heißes Herz zu beruhigen. Hätte die geheimnisvolle Nacht ein Symbol gesucht, um ihr verborgenes Sehnen, das unsichtbare Schlagen ihrer dunkeln Schwingen und all die geheime, leidenschaftliche Auflehnung gegen ihre eigene Anonymität auszudrücken, sie hätte kein besseres finden können als diese irrende Gestalt.

In Monkland Court verlief der Morgen, ausgenommen für Klein-Ann, ganz still und schweigsam, da jeder fühlte, daß etwas geschehen müsse, und keiner wußte, was. Beim Lunch war die einzige Anspielung auf die Lage Harbingers Frage gewesen:

»Wann kommt Miltoun zurück?«

Er hatte gedrahtet, so schien es, daß er noch am selben Abend im Auto herauskommen würde.

»Je eher, desto besser,« murmelte Sir William, »wir haben noch immer vierzehn Tage Zeit.«

Alle jedoch hatten aus seinem Ton herausgefühlt, wie ernst die Lage nach der Ansicht dieses erfahrenen, politischen Kämpfers war.

Das Verstummen der Kriegspanik und die Gerüchte über Mrs. Noel gaben tatsächlich Grund zur Besorgnis.

Die Nachmittagspost brachte einen Eilbrief von Lord Valleys.

Beim Öffnen des Briefes verzog Lady Valleys das Gesicht, und ihre Züge verfinsterten sich noch mehr während der Lektüre. Ihr hübsches, blühendes Gesicht zeigte einen Ausdruck von Traurigkeit, wie man ihn selten an ihr bemerkte. Es lag mehr als nur Würde in der Art, wie sie die unangenehme Nachricht hinnahm.

»Eustace hat mir seine Absicht erklärt, diese Mrs. Noel zu heiraten,« lautete der Brief ihres Gatten. »Unglücklicherweise kenne ich keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern. Wenn du ein erlaubtes Mittel, ihn umzustimmen, entdecken kannst, wäre es gut, es zu gebrauchen. Es ist eine verteufelte Geschichte, meine Liebe.«

Es war eine verteufelte Geschichte! Denn wenn Miltoun sich schon entschlossen hatte, sie zu heiraten, ohne dieses boshafte Gerücht zu kennen, was würde er erst jetzt nicht alles tun? Und die Dame der Gesellschaft in Lady Valleys lehnte sich dagegen auf. Diese Heirat durfte nicht zustandekommen! Sie widersprach fast allen Instinkten einer Frau, die nicht nur dem Charakter nach praktisch war, sondern auch durch Erziehung und Gewohnheit. Ihre warme, vollblütige Natur sympathisierte im geheimen mit Liebe und Freude, und wäre sie nicht so praktisch gewesen, so hätte ihr diese Anlage in den wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens, das sich so ganz unter den Augen der Öffentlichkeit abspielte, gefährlich werden können. Das Bewußtsein dieser Gefahr in ihrer eigenen Natur ließ sie das Risiko einer unpassenden Verbindung, vor allem der Ehe eines Mannes, der in der Öffentlichkeit stand, besonders lebhaft empfinden. Gleichzeitig regte sich das Mutterherz in ihr. Sie hatte Eustace nie so zärtlich geliebt wie Bertie, er war aber doch ihr Erstgeborener; und angesichts der Nachricht, die bedeutete, daß er ihr verloren war – denn hier handelte es sich wirklich um ›die Ehe zweier Seelen‹ (oder wie sonst das Zitat hieß) – empfand sie eine seltsame Eifersucht gegen eine Frau, die ihres Sohnes Liebe gewonnen hatte, was ihr selbst nie gelungen war. Der Schmerz dieser Eifersucht verlieh ihrem Antlitz einen fast durchgeistigten Ausdruck und ging dann in Ungeduld über. Warum sollte er sie heiraten? Es ließe sich doch auch anders einrichten. Die Leute sprachen bereits davon als von einem unerlaubten Verhältnis; recht so – warum sollten ihre Erfindungen nicht Wirklichkeit werden? Wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, so war das schließlich nicht der einzige Wahlkreis in England; auch die Parlamentsauflösung konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Lieber alles andere als eine Ehe, die ihn sein ganzes Leben lang hemmen würde! Aber würde sie denn ein so großes Hemmnis sein? Am Ende konnte Schönheit viel ersetzen. Wenn ihre Geschichte nur nicht so auffällig wäre! Aber was war denn ihre Geschichte? Dieses Nichtwissen war einfach lächerlich! Das war das Schlimmste bei Leuten, die nicht zur Gesellschaft gehörten, es war so schwierig, etwas über sie in Erfahrung zu bringen! Und der fast brutale Unwille stieg in ihr auf, der sehr rasch in jenen gährt, die von Jugend auf in dem Glauben erzogen wurden, daß sie, und nur sie allein, die ganze Welt bedeuten. In dieser Stimmung gab Lady Valleys den Brief an ihre Töchter weiter. Sie lasen ihn und überreichten ihn Bertie, der ihn schweigend seiner Mutter wieder einhändigte. Am Abend jedoch sagte Barbara zu Courtier im Billardzimmer, nachdem es ihr gelungen war, ihn von den übrigen zu isolieren:

»Würden Sie mir eine Frage beantworten, Mr. Courtier?

»Wenn ich darf und kann.«

Ihr tiefausgeschnittenes Kleid war eibengrün und von kleinen, feuerroten Fäden durchwirkt, die zu ihrem Haare paßten, so daß sie in eine fast blendende Pracht von Dunkel, Weiß und Gold gehüllt war; und sie stand ganz ruhig gegen das hellere Grün des Billardtisches zurückgelehnt, dessen Kante sie so fest packte, daß ihre glatten, starken Handrücken bebten.

»Wie wir gerade hören, will Miltoun Mrs. Noel einen Heiratsantrag machen. Man hat doch nie ohne guten Grund Geheimnisse, nicht wahr? Ich möchte gern von Ihnen erfahren – wer sie ist.«

»Ich fürchte, ich verstehe die Situation nicht ganz,« murmelte Courtier. »Sie sagten – einen Heiratsantrag?«

Als sie, wie um Wahrheit bittend, die Hand ausstreckte, fügte er hinzu: »Wie kann Ihr Bruder sie heiraten – sie ist ja verheiratet!«

»O!«

»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie nicht einmal das wußten.«

»Wir glaubten, es handle sich um eine Scheidung.«

Der Ausdruck, von dem bereits gesprochen wurde – jener sonderbare, weißglühende, sardonische, lustige Blick – erschien gleich wieder auf Courtiers Antlitz. »Im eigenen Netz gefangen! Die gewöhnliche Sache. Eine hübsche Frau braucht nur allein zu leben – und die Zungen der Leute besorgen das übrige.«

»So schlimm war's nicht,« bemerkte Barbara trocken, »man sagte, daß sie sich hätte scheiden lassen.«

Wie sich Courtier so bei seiner charakteristischen Eigenschaft, übers Ziel zu schießen, ertappt fand, biß er sich auf die Lippen.

»Am besten, Sie hören ihre Geschichte gleich. Ihr Vater war ein Landpfarrer und ein Freund meines Vaters, so daß ich sie schon als Kind gekannt habe. Stephen Lees Noel war ihres Vaters Hilfsprediger. Es war eine überstürzte Heirat – sie war kaum zwanzig und hatte bis dahin kaum einen Mann kennen gelernt. Ihr Vater war krank und wollte sie versorgt wissen, ehe er stürbe. Sie fand denn auch fast sogleich wie so viele andere heraus, daß sie einen Kardinalfehler begangen hatte.«

Barbara kam etwas näher. »Was für ein Mann war er?«

»Nicht schlecht in seiner Art, aber einer von jenen beschränkten, pedantischen Dickköpfen, die die unleidlichsten Ehegatten sind – durch und durch egoistisch. Ein Pfarrer dieser Sorte bleibt unverbesserlich. Die geringste Sache, die er zu sagen oder zu tun hat, trägt zur Entwicklung seiner schlimmsten Eigenschaften bei. Die Frau eines solchen Mannes ist nicht mehr als seine Sklavin. Schließlich begann sie sichtlich darunter zu leiden, obgleich sie zu den Menschen gehört, die bis zum äußersten aushalten. Er brauchte vier Jahre, bis es ihm klar wurde. Dann entstand die Frage, was sie tun sollten. Er ist strenggläubig und teilt ganz die Ansicht der Staatskirche über die Ehe; zum Glück jedoch war sein Stolz verletzt. Wie dem auch sei, sie haben sich vor zwei Jahren getrennt; und so ist sie nun allein, gestrandet. Man sagt, es wäre ihre Schuld gewesen. Sie hätte sich selbst kennen sollen – mit zwanzig Jahren! Sie hätte aushalten und es irgendwie verbergen sollen. Zum Teufel mit ihren dickhäutigen, barmherzigen Seelen, was wissen die davon, wie eine feinempfindende Frau darunter leidet? Verzeihen Sie, Lady Barbara – ich gerate darüber in Hitze.« Er schwieg; als er dann ihre Augen auf sich gerichtet sah, fuhr er fort: »Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt, ihr Vater bald nach ihrer Hochzeit. Zum Glück hat sie selbst genug Vermögen, um zurückgezogen leben zu können. Was ihn anbelangt, so hat er seine Pfarre gewechselt und hat jetzt eine irgendwo in den Midland-Provinzen. Der arme Teufel tut einem natürlich auch leid! Sie sehen einander nie; und so viel mir bekannt ist, korrespondieren sie auch nicht. Das, Lady Barbara, ist die einfache Geschichte.«

Barbara sagte: »Danke!« und wandte sich ab; und er hörte sie murmeln: »Wie schändlich!«

Aber er konnte nicht sagen, ob es Mrs. Noels Geschick oder das ihres Gatten oder der Gedanke an Miltoun war, was sie zu diesen Worten veranlaßt hatte.

Ihre Selbstbeherrschung, die fast Härte schien, die Art, wie sie jeden Gefühlsausbruch unterdrückte, war ihm ein Rätsel. Doch welch eine prächtige Frau würde sie abgeben, wenn nicht der Fluch des ausdörrenden Lebens des Adels sie zum Typus ihrer Klasse zusammenschrumpfen ließe! Wenn nur der Enthusiasmus in ihre Seele eindringen und sie befruchten dürfte! Sie gemahnte ihn an eine gelbbraune Lilie. Er hatte eine Vision von ihr, wie sie als jene Blume, frei von Wurzeln und der Erde des kultivierten Bodens, in der Freiheit der unparteiischen Atmosphäre schwebte. Welch ein leidenschaftliches und edles Wesen aus ihr werden könnte! Welchen Glanz und Duft sie ausströmen würde! Gleich einer Fleur-de-Lys, eine jener edlen Blumen, die im Lichte schweben!

Aus seinem weitvorspringenden Erkerfenster sich lehnend, betrachtete er die geheimnisvolle Nacht. Er konnte den Ruf der Eulen vernehmen und ein Herz dort draußen in der Dunkelheit schlagen fühlen, aber auf all seine Fragen kam keine Antwort. Würde sie – diese große, gelbbraune Lilie – jemals ihre Umgebung vergessen, nicht nur in der Lebensweise, sondern in der tiefsten Seele, so daß sie ganz Weib sein würde, atmend, leidend, liebend und genießend mit der Dichterseele alles Menschentums? Würde sie je imstande sein, auszuziehen mit der kleinen Schar edler Herzen und ohne persönlichen Vorteil? Courtier war seit zwanzig Jahren in keiner Kirche mehr gewesen, denn er fühlte schon seit langem, daß er die Moscheen seines Landes nicht betreten dürfe, ohne vorher die Schuhe der Freiheit abzulegen, aber er las die Bibel, die er für eine erhabene Dichtung hielt. Und die alten Worte wollten ihm nicht aus dem Sinn: ›Wahrlich, ich sage euch, es wird eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen, eher denn ein Reicher in den Himmel kommt.‹ Und wie er jetzt so in die Nacht hinaussah, deren Dunkelheit die Antwort auf alle Geheimnisse zu bergen schien, versuchte er, das Rätsel der Zukunft dieses Mädchens zu lösen; mit dem jenes größere Rätsel so innig verwoben schien, wie weit sich der Geist in diesem Leben von den Einflüssen der Umgebung freihalten könne.

Die Nacht wisperte plötzlich und tief unten, wie aus der See aufsteigend, erschien die Mondfee, die ihr bleiches Lichtgewand fallen ließ, bis sie sich in leuchtender Nacktheit vom Himmelsvorhang abhob. Nicht länger war die Nacht undurchdringlich. Dort im dämmerigen Garten trat die Statue der Diana immer klarer hervor und hinter ihr – als wäre es ihr Tempel – erhob sich schlank die Spitze der Zypresse.


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