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Einundzwanzigstes Kapitel

Als Miltoun Valleys House verließ, ging er in der Richtung auf Westminster zu. Während der fünf Tage, die er wieder in London war, hatte er das Parlament noch nicht betreten. Nach der Abgeschlossenheit seiner Krankenstube fühlte er noch immer eine fast schmerzliche Sehnsucht nach dem Leben und der Unruhe der Stadt. Alles, was er sah und hörte, machte einen ungeheuer lebendigen Eindruck auf ihn. Die Löwen auf dem Trafalgar-Square, die großen Gebäude von Whitehall erfüllten ihn mit einer Art Begeisterung. Er war wie ein Mensch, der nach langer Seereise zum erstenmal wieder Land sieht, und der sich nun, kaum atmend, angestrengt bemüht, die verloren geglaubten Formen und Umrisse, einen nach dem andern, wiederzufinden. Er ging auf die Westminsterbrücke, stellte sich in der Mitte in eine Einbuchtung des Geländers und blickte zurück.

Man hat behauptet, daß die Liebe zu jenen Türmen einem im Blute läge. Man hat auch gesagt, daß der, der einmal in ihrem Machtbereich gesessen, niemals wieder ganz derselbe werden könnte. Miltoun wußte, daß dies Wahrheit war – unabänderliche Wahrheit, für ihn selber. In Wirklichkeit hatte er nur drei Wochen dort gesessen, aber seiner Seele erschienen sie wie Hunderte von Jahren. Und jetzt sollte er dort nicht mehr sitzen. Ein fanatisches Verlangen, sich von diesen Ketten zu befreien, stieg in ihm auf. Ein Gefangener jenes geheimsten aller seiner Instinkte zu sein, des Autoritätsglaubens! Unfähig zu sein, Autorität auszuüben, weil Ausübung der Autorität deren Mißachtung bedeutete. O Gott! Es war schwer! Er wandte sich weg von den Türmen und suchte Ablenkung in den Gesichtern der Vorübergehenden.

Jeder von ihnen, das wußte er, kämpfte um seine Selbstachtung! Oder ahnten sie am Ende gar nichts von Kampf und Selbstachtung und ließen die Dinge einfach treiben? So sahen die meisten von ihnen aus. Und all seine angeborene Verachtung des Mittelmäßigen oder Gewöhnlichen stieg in ihm auf, als er sie beobachtete. Ja, so sahen sie aus! Und – welch eine Ironie! – der Anblick jener Menschen, der ihn in seiner Kompromißabsicht hätte bestärken sollen, wirkte statt dessen auf die Seite seines Wesens, die jedes Kompromiß verwarf. Sie sahen zahm aus, erschöpft, ohne Stolz und ohne Willen, als wüßten sie, daß das Leben zu schwer für sie sei, und hätten sich mit dieser schmachvollen Tatsache abgefunden. Es war so offenbar, daß man ihnen sagen mußte, was sie zu tun hatten, welchen Weg sie einschlagen sollten; sie würden Befehle hinnehmen, so wie sie ihre Arbeit und ihre Vergnügungen empfingen. Und der Gedanke, daß er ihnen keine Befehle mehr erteilen durfte, brannte wie eine Wunde. Die Leute hingegen warfen ab und zu einen Blick auf seine hohe Gestalt, die am Geländer lehnte; in dem einen oder andern mochten sein schmales, blasses Antlitz und seine hungrigen Augen vielleicht ein Gefühl des Interesses oder Unbehagens erwecken, aber für die meisten war er gewiß nur einer unter vielen in dem Gewimmel. Sie hatten weder die Zeit noch den Wunsch, jene dunkle Gestalt zu begreifen, die wie eine Bildsäule dastand, jenen Mann, der in seinem Machtbewußtsein gegen die Fesseln des eigenen Glaubens an die Macht ankämpfte; sie besaßen keinen Sinn für die Tragödie, für die in die Enge getriebene Seele des Menschen.

Es wurde fünf Uhr, ehe Miltoun die Brücke verließ, und wie ein Verbannter an den Toren von Kirche und Staat vorbei seine Weg zu dem Klub seines Onkels nahm. Er telegraphierte unterwegs an Audrey, um welche Zeit er morgen nachmittag bei ihr sein würde; beim Verlassen der Post bemerkte er im Schaufenster des anstoßenden Ladens einige Reproduktionen alt-italienischer Meister, unter ihnen Botticellis: ›Geburt der Venus‹! Er hatte dieses Werk niemals vorher gesehen, und da er sich nun erinnerte, daß es ihr Lieblingsbild sei, blieb er stehen, um es anzuschauen. Obwohl er, wie es einem Mann seines Standes ziemte, im allgemeinen auf diesem Gebiete gut beschlagen war, besaß er doch nicht die Gabe, vor der allgemein gültigen Idee eines Kunstwerkes die ganz individuelle Idee seiner Seele zurücktreten zu lassen; und so betrachtete er denn diese berühmte Darstellung der heidnischen Göttin kühl, sogar ein wenig irritiert. Die Zeichnung des Körpers erschien ihm roh, das ganze Bild ein wenig oberflächlich und unausgereift; die Gestalt der Flora gefiel ihm nicht. Die strahlende Heiterkeit und Zartheit, von der Audrey gesprochen hatte, ließ ihn kalt. Dann ertappte er sich dabei, wie er das Gesicht ansah und langsam, aber mit sicherer Gewißheit ward ihm klar, daß er in Audreys eigenes Gesicht blickte. Das Haar war zwar golden und anders, die Augen grau und anders, der Mund ein wenig voller; dennoch, es war ihr Gesicht; dieselbe ovale Form, dieselben auseinanderstehenden, gewölbten Brauen, derselbe merkwürdig zarte, nicht faßbare Geist. Und wie beleidigt wandte er sich ab und ging weiter. In dem Schaufenster jenes kleinen Ladens stand das Bild der Frau, für die er sein Leben verkauft hatte – die Inkarnation der duldenden und umschlingenden Liebe, jenes sanfte Wesen, das sich ihm so ganz zu eigen gegeben hatte, dem Liebe und Blumen, Bäume, Vögel und Musik, der Himmel und die rasch fließenden Bäche allein genügten und das, wie die Göttin auf dem Bild, sich über sein eigenes Dasein zu wundern schien. Einen Augenblick lang überkam ihn ein Schimmer von Verständnis, seltsam genug bei einem Menschen, der so wenig in den Herzen andrer lesen konnte. Hätte sie je in diese Welt geboren werden sollen? Aber diese Erleuchtung wich bald wieder dem krank machenden Bewußtsein seiner eigenen Lage, das ihn jetzt nie verließ. Was immer er auch tun würde, diese Krankheit mußte er loswerden! Doch was konnte er in dem Leben, das nun vor ihm lag, beginnen? Bücher schreiben? Was für Bücher könnte er denn schreiben? Nur solche, die seine Ansichten vom Bürgertum, seine politischen und sozialen Grundsätze aussprachen. Ebenso gut könnte er auch unter jenen Türmen sitzen und Reden halten! Er würde niemals zu den glücklichen Künstlern gehören, zu jenen sanften, unentschlossenen Geistern, für die es nirgends Schranken gab, die zufrieden waren, wenn sie verstehen, wiedergeben und schaffen konnten. Was sollte er auf dieser Galeere tun? Der Gedanke war unerträglich. Die Laufbahn des Juristen – ja, das ginge; aber wozu? Um Richter zu werden. Ebenso gut konnte er weiter unter jenen Türmen sitzen! Für die Diplomatie war es zu spät; zu spät auch für die Armee; zudem konnte er dem militärischen Ruhm auch nicht den leisesten Geschmack abgewinnen. Sich auf dem Land begraben wie Onkel Dennis und eines der Güter seines Vaters leiten? Das wäre sein Tod. Zu den Armen gehen? Einen Augenblick lang glaubte er, einen neuen Beruf gefunden zu haben. Aber mit welchen Absichten? Um deren Leben in Ordnung zu bringen, wenn er sein eigenes nicht in Ordnung bringen konnte? Oder sollten sie durch ihn nur Geld verdienen, da er doch glaubte, daß Wohltätigkeit die Nation bis ins innerste Mark zerfräße? Am Eingang eines jeden Weges stand ein Engel oder Teufel mit gezogenem Schwert. Und dann kam ihm ein anderer Gedanke. Da Kirche und Staat ihn ausgestoßen hatten, konnte er nicht mutig den gefallenen Engel spielen – Luzifer sein, und vernichten? Und instinktiv sah er sich sofort in den Saal unter jenen Türmen zurückkehren und auf die andere Seite des Saales gehen, sich den Revolutionären, den Radikalen, den Freidenkern anschließen und seine gegenwärtige Partei, die Partei der Autorität und festen Einrichtungen, geißeln. Die Idee kam ihm außerordentlich komisch vor, und er mußte mitten auf der Straße laut auflachen.

Der Klub, dem Lord Dennis angehörte, lag im St. James-Viertel, von den Strömungen der Mode unberührt, in einem ruhigen Seitenwasser am Taue schaukelnd, und Miltoun fand seinen Onkel in der Bibliothek. Er trank Tee und las einen Band von Burtons Reisebeschreibungen.

»Es kommt niemand her,« sagte er, »wir können also trotz des Verbotes an der Tür miteinander sprechen. Kellner, bitte bringen Sie noch Tee!«

Ungeduldig, und doch mit einer Art von Mitleid, beobachtete Miltoun Lord Dennis' höfliche Bewegungen, in denen sich das Alter kundtat, der rührende Versuch, jeder kleinen Sache Wichtigkeit zu verleihen, wenn auch nur für sich selbst. Nichts, was sein Großonkel sagen könnte, vermochte ihn so zu warnen, wie die pittoreske Gestalt des Alten selber! Nur mehr Zuschauer zu sein, alles an sich vorbeiziehen zu lassen, das Schwert in der Scheide rosten zu lassen, wie dieser arme Kerl es getan hatte! Es war Miltoun außerordentlich peinlich zu erklären, warum er gekommen war; aber da er einmal sein Wort gegeben hatte, wappnete er sich mit geheimem Zorn und begann:

»Ich habe meiner Mutter versprochen, eine Frage an dich zu richten, Onkel Dennis. Du weißt von meiner Neigung, glaube ich?«

Lord Dennis nickte.

»Ich habe mein Schicksal mit dem Schicksal jener Dame verbunden. Es wird zu keinem Skandal kommen, doch betrachte ich es als meine Pflicht, mein Mandat zurückzulegen und mich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. Ist das nach deiner Ansicht richtig oder unrichtig?«

Lord Dennis blickte seinen Neffen schweigend an. Ein leises Rot stieg in seine braunen Wangen. Es sah aus, als ginge er in Gedanken seine Vergangenheit durch.

»Unrichtig, glaube ich,« sagte er schließlich.

»Warum, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe nicht das Vergnügen, die Dame zu kennen und tappe deshalb ein wenig im Dunkeln; aber ich habe das Empfinden, daß deine Entscheidung ihr gegenüber nicht fair ist.«

»Das verstehe ich nicht,« sagte Miltoun.

Lord Dennis antwortete fest:

»Du hast mich ganz offen gefragt, weil du eine offene Antwort erwartest, nicht wahr?«

Miltoun nickte.

»Dann tadele mich nicht, mein Lieber, wenn das, was ich sage, dir nicht angenehm ist.«

»Gewiß nicht.«

»Gut! Du sagst, du willst dich aus Gewissensgründen von deiner Stellung in der Öffentlichkeit zurückziehen. Ich würde nichts dagegen einwenden, wenn das das Ende wäre.«

Er hielt inne und schwieg wohl eine Minute still, da er augenscheinlich nach Worten suchte, um eine schwierige Gedankenreihe auszudrücken.

»Aber es wird nicht das Ende sein, Eustace; der Mann der Öffentlichkeit ist stärker in dir als alles andere. Du verlangst mehr nach Führerschaft als nach Liebe. Dein Opfer wird deine Neigung ertöten; und das, was du jetzt für deinen Verlust und dein Leid hältst, wird am Ende diese Dame zu verantworten haben.«

Miltoun lächelte.

Lord Dennis fuhr sehr trocken und mit einer Spur von Bosheit fort:

»Du glaubst mir nicht; aber ich sehe deutlich, daß der unbewußte Prozeß bereits begonnen hat. Du hast etwas vom Jesuiten in dir, Eustace. Was dir nicht paßt, das siehst du nicht.«

»Du rätst mir also, ein Kompromiß zu schließen?«

»Im Gegenteil, ich versuche dir klarzumachen, daß du den Kompromißweg einschlägst, wenn du dein gutes Gewissen und deine Liebe behalten willst. Du willst beides haben.«

»Das ist wirklich interessant!«

»Und das Ende vom Lied wird sein, daß du gar nichts hast,« sagte Lord Dennis scharf.

Miltoun erhob sich. »Mit andern Worten: Du empfiehlst mir genau wie die andern, diese Frau zu verlassen, die mich liebt und die ich liebe. Und dennoch, Onkel, sagt man, daß in deinem eigenen Falle –«

Aber auch Lord Dennis hatte sich erhoben und schien alle Bewegungen und Eigenheiten des Alters plötzlich vergessen zu haben.

»Von meinem eigenen Fall,« sagte er schroff, »wollen wir nicht sprechen. Ich rate dir nicht, irgend jemanden zu verlassen; du hast mich vollkommen mißverstanden. Ich rate dir, dich selber kennen zu lernen. Und ich sage dir einfach meine Ansicht über dich – du bist zum Staatsmann geboren, nicht zum Liebhaber! Es ist etwas Vertrocknetes in dir, Eustace; ich weiß nicht, ob nicht in unserm ganzen Geschlecht etwas Vertrocknetes ist. Wir haben zu lange mit Formeln und Zeremonien zu tun gehabt. Wir taugen nicht dazu, das Leben von der lyrischen Seite anzuschauen.«

»Ja, leider,« sagte Miltoun, »aber ich kann, deiner Theorie zuliebe, nicht eine Gemeinheit begehen.«

Lord Dennis begann auf- und abzugehen. Seine Lippen waren fest zusammengepreßt.

»Ein Mann, der anderen Ratschläge erteilt,« sagte er schließlich, »ist immer in Gefahr, sich lächerlich zu machen. Und obendrein hast du mich noch mißverstanden. Ich bin nicht so eingebildet, versuchen zu wollen, die verborgensten Beweggründe deines Innern zu erforschen. Ich habe dir nur gesagt, daß es meiner Meinung nach ehrlicher gegen dich selber und anständiger gegen jene Dame gehandelt wäre, dein Gewissen zu beruhigen und beides zu behalten: deine Liebe und die Stellung in der Öffentlichkeit, als dir weiszumachen, daß du das in dir unterdrücken kannst, was nach meiner Meinung deine stärkste Veranlagung ist. Du erinnerst dich an den Ausspruch – von Demokrit glaube ich –: &#7974;&#952;&#959;&#962; &#7936;&#957;&#952;&#961;&#8061;&#960;&#8179; &#948;&#945;&#943;&#956;&#969;&#957; (›Der Charakter und die Natur eines jeden Menschen ist sein Schicksal oder Gott.‹) Ich empfehle ihn dir.«

Eine volle Minute stand Miltoun da, ohne zu erwidern, dann sagte er:

»Es tut mir leid, daß ich dich behelligt habe, Onkel Dennis. Kompromisse sind nichts für mich. Leb wohl!«

Und ohne ihm die Hand zu reichen, ging er hinaus.


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