Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel

Als Miltoun endlich kam, war es neun Uhr vorbei.

Schweigend, doch am ganzen Körper zitternd, klammerte sie sich im Vorraum an ihn; und diese leidenschaftliche Erregung, die keine Worte finden konnte, ergriff ihn tief. Wie erschreckend zart und feinnervig sie war! Sie schien ganz wehrlos zu sein. Er jedoch, wenn auch tief bewegt durch ihre Erregung, war nicht minder außer sich. In diesem Augenblick verkörperte sie für ihn das Leben, mit dem er sich jetzt abfinden mußte: ein Leben voll unendlicher Zärtlichkeit, Rücksichtnahme und Passivität.

Lange Zeit vermochte er es nicht über sich zu bringen, von seinem Entschluß zu sprechen. Jeder Blick aus ihren Augen, jede Bewegung ihres Körpers schien ihn zu bitten, nichts zu sagen. In Miltouns Charakter lag eine gewisse Härte, die ihn nie von der Richtung abweichen ließ, zu der er sich einmal entschlossen hatte.

Als er mit seiner Erklärung zu Ende war, sagte sie nur:

»Warum können wir nicht im geheimen zusammenleben?«

Und er empfand mit einer Art von Entsetzen, daß er den Kampf wieder von vorne beginnen müsse. Er stand auf und öffnete das Fenster. Über der Themse wölbte sich ein dunkler Himmel; ein Wind hatte sich erhoben. Das unaufhörliche Gemurmel des Wassers und die Weite der Nacht mit den verstreuten Sternen schienen auf ihn einzudringen. Er trat zurück, und sich auf das Fensterbrett lehnend, sah er auf sie hinab. Wie blumenhaft zart sie war! Die Erinnerung an eine welke Blume kam ihm in den Sinn, die sie einmal im Frühjahr in die Flammen geschleudert hatte mit den Worten: »Ich kann keine welken Blumen ertragen, ich muß sie immer verbrennen.« Er konnte wieder jene wachsfarbenen Blumenblätter sehen, wie sie sich der feurigen Umklammerung der kleinen, roten, lauernden Funken ergaben, und wie der Stengel erbebte, erglühte und sich hin und her wand, bis er schwarz wurde, ganz so wie ein lebendes Wesen. Und verwirrt begann er:

»Ich kann nicht in Lüge leben. Welches Anrecht auf die Führerschaft habe ich, wenn ich selbst nicht folgen kann? Ich bin nicht wie unser Freund Courtier, der an die Freiheit glaubt. Ich habe nie daran geglaubt und werde auch nie daran glauben. Freiheit? Was ist Freiheit? Nur die, die sich der Autorität fügen, haben das Recht, Autorität auszuüben. Ein Mensch, der Gesetze erzwingt, selbst aber nicht die Kraft hat, sie zu befolgen, ist ein Schuft. Ich will nicht einer von jenen sein, von denen man sagen kann: ›Andere kann er beherrschen, sich selbst aber – –!‹«

»Es wird doch niemand etwas davon wissen.«

Miltoun wandte sich ab.

»Ich werde es wissen,« sagte er; er sah jedoch deutlich, daß sie ihn nicht verstand. Ihr Antlitz zeigte einen sonderbaren Ausdruck brütender Verschlossenheit, als hätte er sie erschreckt. Und der Gedanke, daß sie es nicht begreifen konnte, erregte seinen Zorn.

Er sagte halsstarrig:

»Nein, ich kann nicht in öffentlicher Stellung bleiben.«

»Aber was hat das mit dem politischen Leben zu schaffen? Das ist doch etwas so Unbedeutendes!«

»Wenn es für mich etwas Unbedeutendes gewesen wäre, hätte ich dich dann in Monkland verlassen und jene fünf Wochen vor meiner Krankheit wie in der Hölle zugebracht? Etwas Unbedeutendes!«

Mit plötzlicher Leidenschaft rief sie:

»Die äußeren Verhältnisse sind auch etwas Unbedeutendes; das Wesentliche ist die Liebe.«

Miltoun starrte sie an und zum erstenmal wurde es ihm klar, daß auch sie ihre Philosophie habe, so tief und unbeugsam wie seine eigene. Doch rücksichtslos entgegnete er:

»Nun, dieses Wesentliche hat mich ja besiegt.«

Und dann sah er, daß sie ihn anstarrte, als hätte sie in den Tiefen seiner Seele eine gräßliche Entdeckung gemacht. Ihr Blick war so traurig, so unheimlich intensiv, daß er sich abwandte.

»Vielleicht ist es wirklich nur etwas Unbedeutendes,« murmelte er, »ich weiß es nicht. Ich sehe keinen klaren Weg mehr vor mir. Ich habe den festen Grund unter den Füßen verloren; ich muß ihn wieder finden, sonst kann ich nicht handeln.«

Sie aber wiederholte, als hätte sie ihn nicht gehört oder den Sinn seiner Worte nicht begriffen:

»O, lassen wir doch alles, wie es ist; ich werde nie verlangen, was du mir nicht geben kannst.«

Und diese Halsstarrigkeit, da er doch gerade das tat, was ihn ihr so ganz zu eigen machen würde, schien ihm unvernünftig.

»Ich bin nun einmal zu diesem Entschluß gekommen,« sagte er. »Sprechen wir nicht mehr darüber!«

Und abermals murmelte sie gequält:

»Nein, nein! Lassen wir es doch so, wie es ist!«

Miltoun fühlte, daß er es nicht länger ertragen konnte. Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Genug davon!« sagte er.

Dann hob er sie, von Gewissensbissen gepackt, plötzlich zu sich empor und drückte sie an sich.

Sie aber blieb in seinen Armen unbeweglich, mit geschlossenen Augen, und erwiderte seine Küsse nicht.


 << zurück weiter >>