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Achtzehntes Kapitel

Von ihren Eltern zurückgelassen, um Harbinger weiter Gesellschaft zu leisten, hatte Barbara gesagt: »Nehmen wir den Kaffee dort drin,« und war in den Salon gegangen.

Den einen Abend ausgenommen, an dem sie zusammen über die Mauer am Meer hin die Vorübergehenden beobachtet hatten, war sie mit ihm nicht wieder allein gewesen, seitdem er sie bei der Hecke an der Box geküßt hatte. Und nun, nachdem der erste peinliche Augenblick vorüber war, sah sie ihn ruhig an, obgleich in ihrer Brust ein Flattern war, als stieße ein gefangener Vogel ganz schwach gegen seinen bequemen, aber sichern Käfig an. Ihr letzter Wortwechsel mit Courtier hatte in ihrem Herzen ein Weh zurückgelassen. War ihr übrigens nicht schon alles bekannt, was Harbinger ihr zu geben vermochte?

Gleich einer Nymphe auf der Flucht vor einem Faun, der die Wälder beherrschte, blickte sie beständig zurück. In diesem schönen Walde gab es nichts, mit dem sie nicht schon vertraut gewesen wäre, kein Dickicht, das sie nicht durchsucht, keinen Fluß, den sie nicht übersetzt hätte, keinen Kuß, den sie nicht hätte erwidern können. Sein Reich, worin sie rechtmäßige Herrscherin sein würde, war für sie schon entdeckt. Sie hatte von ihm nichts als Macht und solides Vergnügen zu erhoffen. Ihre Augen sagten: ›Wie soll ich wissen, ob ich nicht mehr brauchen werde als nur dich; ob ich mich nicht in deinen Armen erstickt und von allem, was du mir bringen wirst, übersättigt fühlen werde? Kenne ich das nicht alles schon genau?‹

Sie las in seinem niedergeschlagenen, finsteren Gesicht, wie grausam sie ihm erschien, und er tat ihr leid. Sie wollte freundlich zu ihm sein und sagte fast schüchtern:

»Sind Sie böse auf mich, Claud?«

Harbinger sah auf.

»Warum sind Sie so grausam?«

»Ich bin nicht grausam.«

»Sie sind es. Wo ist ihr Herz?«

»Hier!« sagte Barbara, indem sie ihre Brust berührte.

»Ah!« murmelte Harbinger, »ich scherze nicht.«

Sie sagte leise:

»Steht es wirklich so schlimm, mein Lieber?«

Doch die Sanftheit ihrer Stimme schien die schwelenden Flammen in ihm anzufachen.

»Hinter all dem steckt etwas!« stammelte er, »Sie haben kein Recht, mich zum Narren zu halten!«

»Und was ist dieses Etwas, bitte?«

»Das müssen Sie erklären. Ich bin ja nicht blind. Wie verhält es sich mit diesem Kerl, dem Courtier?«

In diesem Augenblick offenbarte sich Barbara etwas noch Ungekanntes: der eigentliche Mann. Nein, das Zusammenleben mit ihm würde doch nicht so ganz der Abenteuer ermangeln!

Sein Antlitz verfinsterte, seine Augen erweiterten sich, seine ganze Gestalt schien größer. Sie bemerkte plötzlich die Haare, die seine zu Fäusten geballten Hände bedeckten. Alle seine Höflichkeit hatte ihn verlassen. Er trat ganz dicht an sie heran.

Wie lang jener Blick zwischen ihnen währte und was alles darin lag, das war ihr nicht ganz klar; ein Gedanke nach dem andern, eine Gefühlswoge nach der andern durchbrauste sie. Empörung und Sich-angezogen-fühlen, Verachtung und Bewunderung, seltsame Empfindungen von Widerwillen und Vergnügen – alles mengte sich, wie an einem Maientag der Hagel fällt und dann die Sonne plötzlich hervorbricht und das Gras aufdampft.

Da sagte er heiser:

»Ach Babs, du machst mich ganz verrückt!«

Sie schloß die Lippen fest, als wollte sie wieder die Herrschaft über sie gewinnen, und entgegnete: »Ja, ich glaube, ich habe genug;« dann ging sie in das Bibliothekszimmer des Vaters.

Der Anblick von Lord und Lady Valleys, die Miltoun so unverwandt anstarrten, gab ihr ihre Fassung wieder.

Es kam ihr ein wenig komisch vor, ohne daß sie wußte, daß die kleine Szene das Ergebnis eben dieses Wortes war. Der Gegensatz zwischen Miltoun und seinen Eltern in diesem Augenblick wirkte geradezu lächerlich.

Lady Valleys ergriff zuerst das Wort:

»Lieber komisch als romantisch. Barbara darf es vermutlich wissen, da sie doch so viel zu dieser Sache beigetragen hat. Dein Bruder ist im Begriff, auf sein Mandat zu verzichten, meine Liebe; infolge eingetretener Umstände erlaubt ihm sein Gewissen nicht, seinen Sitz im Parlament zu behalten.«

»Ach!« rief Barbara, »gewiß aber – –«

»Die Sache ist bereits erörtert worden, Babs,« erklärte Lord Valleys kurz, »wenn du keine bessern Gründe vorbringen kannst als gesunden Menschenverstand, Sinn für das allgemeine Wohl und Rücksichtnahme auf die Familie, lohnt es kaum der Mühe, die Diskussion neuerlich zu eröffnen.«

Barbara sah zu Miltoun auf, dessen Gesicht mit Ausnahme der Augen einer Maske glich.

»Ach Eusty!« rief sie, »du wirst doch nicht dein Leben so ruinieren! Denk nur daran, was ich fühlen müßte!«

Miltoun erwiderte unbeweglich:

»Du hast getan, was du für richtig hieltest; ich tue dasselbe.«

»Verlangt sie es von dir?«

»Nein.«

»Ich glaube,« warf Lord Valleys ein, »daß, von deinem Bruder selbst abgesehen, in der ganzen Welt kein einziges Geschöpf existiert, das eine solche ›Vollendung‹ zu erreichen wünscht. Das kommt jedoch für ihn nicht in Betracht.«

»O!« seufzte Barbara, »denk doch an Großmutter!«

»Ich denke lieber nicht an sie,« murmelte Lady Valleys.

»Sie setzt so große Hoffnungen in dich, Eusty. Sie hat immer so fest an dich geglaubt.«

Miltoun seufzte. Und dadurch ermutigt, trat Barbara näher auf ihn zu.

Es war ganz klar, daß in Miltoun hinter seiner Unbeweglichkeit ein verzweifelter Kampf vor sich ging. Endlich sagte er:

»Wenn ich derjenigen nicht nachgegeben habe, die mir natürlich mehr bedeutet als sonst irgend jemand, obwohl sie mich darum bat und anflehte, so geschah es nur deshalb, weil ich auf eine Weise fühle, die ihr alle nicht begreifen könnt. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich vorhin das Wort ›komisch‹ gebrauchte, ich hätte ›tragisch‹ sagen sollen. Ich werde Onkel Dennis ins Vertrauen ziehen, wenn euch das ein Trost ist; eigentlich geht aber die Sache niemand etwas an als mich selbst.« Und ohne einen weitern Blick oder ein Wort schritt er hinaus.

Barbara lief auf die sich schließende Tür zu und sagte mit einer Bewegung, als wollte sie die Hände ringen: »Ach Gott! Ach Gott!« Sie kehrte sich gegen ein Büchergestell und weinte.

Lord und Lady Valleys waren wahrhaftig erschüttert, als sie sahen, daß Barbara noch viel tiefer ergriffen war als sie selber; sie wußten ja nicht, wie nervös sie gewesen war, ehe sie noch das Zimmer betreten hatte. Sie hatten Barbara nicht weinen gesehen, seit sie ein kleines Mädchen gewesen. Und angesichts ihrer Aufregung verrauchte jetzt aller Zorn, den sie ihr vielleicht deshalb gezeigt hätten, weil sie Miltoun Mrs. Noel in die Arme geworfen hatte. Lord Valleys war besonders bewegt, ging auf seine Tochter zu und blieb bei ihr in der dunkeln Ecke stehen; er sagte nichts, sondern streichelte nur leise ihre Hand. Lady Valleys, der selbst das Weinen schon recht nahe war, trat diskret ins Erkerfenster.

Barbara unterdrückte bald ihr Schluchzen.

»Sein Gesicht ist schrecklich!« sagte sie. »Aber warum? Warum nur? Es ist doch so überflüssig!«

Lord Valleys, der fortwährend seinen Schnurrbart zwirbelte, stieß ein Murmeln aus:

»Ganz richtig! Er selbst macht sich die Dinge so schwer!«

»Jawohl,« murmelte Lady Valleys aus dem Erker, »er war immer so widerspenstig. So war er auch schon als kleines Kind. Bertie war ganz anders.«

Die darauf folgende Stille wurde nur dadurch unterbrochen, daß sich Barbara leise und ärgerlich die Nase putzte.

»Ich werde Mutter besuchen,« sagte Lady Valleys plötzlich. »Das ganze Leben des Jungen kann ruiniert sein, wenn wir dem nicht Einhalt tun. Kommst du mit, mein Kind?«

Barbara aber lehnte ab.

Statt dessen ging sie auf ihr Zimmer. Diese Krise in Miltouns Leben hatte sie seltsam erschüttert. Es war, als hätte ihr das Schicksal plötzlich all das offenbart, wohin ein einziger Schritt vom gewöhnlichen Wege führen kann, als hätte das Schicksal sie mit sich selbst in Konflikt gebracht. In den blauen Himmel emporfliegen! Jetzt konnte sie sehen, wohin das führte! Wenn Miltoun auf seinem Entschluß bestand und seine Stellung im öffentlichen Leben aufgab, dann war er verloren! Und sie selbst? Die Anziehung, die Courtier durch sein ritterliches Benehmen auf sie ausübte, die von seiner angeborenen Galanterie ausging und die auf das Verlangen nach ewigen Gefahren hindeutete, schien sie nicht beinahe lächerlich? Und – fühlte sie sich eigentlich angezogen? Machte ihr nicht vielmehr das Gefühl, daß sie selbst ihn anzog, Vergnügen? Im Labyrinth dieser Gedanken tauchte plötzlich die Erinnerung an Harbingers Antlitz auf, wie es dem ihren so nahe gewesen war, an seine zu Fäusten geballten Hände, an die plötzliche Offenbarung seiner gefährlichen Männlichkeit. Es war alles wie ein böser Traum von erschreckenden, seltsamen Gefühlen, von Mißhelligkeiten, die sich nie schlichten ließen. Sie fand sich für einmal aus ihrer gewöhnlichen, sieghaften Philosophie gründlich herausgerissen. Dann wieder flogen ihre Gedanken zu Miltoun zurück. Was sie in den Gesichtern der beiden gelesen hatte, war also tatsächlich eingetroffen! Wie sie sich dann Agathas Entsetzen ausmalte, sobald sie es erfahren würde, konnte sie sich eines Lächelns nicht erwehren. Der arme Eustace! Warum nahm er die Dinge so schwer! Wenn er seinen Entschluß wirklich ausführte – und er änderte seine Entschlüsse nie – dann wäre es tragisch! Dann wäre es vollkommen aus mit ihm!

Vielleicht würde er jetzt Mrs. Noels überdrüssig werden. Aber sie war nicht die Frau, deren ein Mann überdrüssig werden könnte. Sogar Barbara empfand das trotz ihrer geringen Erfahrung. Mrs. Noel würde stets zu sehr darauf bedacht sein, sich nicht an ihn zu hängen, nichts von ihm zu erzwingen und ihn nicht fühlen zu lassen, daß er auch nur im geringsten an sie gebunden sei. Ach, warum konnten sie nicht einfach weiterleben, als wenn nichts vorgefallen wäre? Konnte ihn niemand dazu überreden? Wieder dachte sie an Courtier. Wenn er, der doch sie beide kannte und Mrs. Noel so lieb hatte, mit Miltoun über das Recht zum Glück, über das Recht zur Rebellion sprechen wollte? Eustace sollte rebellieren! Das war seine Pflicht. Sie setzte sich nieder und schrieb einen Brief; dann nahm sie ihren Hut und schlüpfte mit dem Brief die Treppe hinab.


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