Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

Miltoun, dessen Konstitution so stählern wie die Lady Casterleys war, genas sehr rasch. Und da er bereits mit Appetit aß, gestattete man ihm, am siebenten Tage unter Aufsicht Barbaras nach ›Sea House‹ zu reisen.

Die beiden verbrachten die Zeit in einem kleinen Sommerhäuschen am Meer; sie lagen viel am Strand im Schutz der Dämme; und als Miltoun kräftiger wurde, machten sie Autotouren und spazierten auf den Hügelabhängen an der See umher.

Barbara, die ihn gut im Auge behielt, schien es, daß er in ziemlicher Ruhe die Natur genoß, um dadurch sein Gleichgewicht nach den Kämpfen und dem Zusammenbruch der letzten Wochen wiederherzustellen. Dennoch vermochte sie nie ganz das sonderbare Gefühl loszuwerden, daß er in Wirklichkeit gar nicht da sei; wenn man ihn ansah, mußte man an ein unbewohntes Haus denken, das auf jemand wartete, der einziehen sollte.

Während der ganzen vierzehn Tage spielte er nicht ein einziges Mal auf Mrs. Noel an, erst am allerletzten Morgen, als sie das Meer betrachteten, sagte er mit seinem sonderbaren Lächeln:

»Das Meer läßt einen fast an ihre Idee glauben, daß die alten Götter nicht tot sind. Kannst du sie manchmal sehen, Babs, oder bist du wie ich zu abgestumpft dazu?«

In der Tat entquoll dem Anstürmen der Wogen, diesen geschmeidigen Nymphen mit dem aschfarbenen, strömenden Haar, die sich dem Land in die Arme stürzten, das alte heidnische Entzücken, eine unerschöpfliche Freude, eine leidenschaftliche und doch sanfte Ergebung in das ewige Schicksal, ein wundervolles Sichfügen in des Lebens unaufhörliches Geheimnis.

Barbara aber, von jenem Klang in seiner Stimme und jenem raschen Untertauchen in den Wassern ungewöhnlicher Gedanken stets peinlich berührt, vermochte keine Antwort zu finden.

Miltoun fuhr fort:

»Sie sagt auch, wir könnten den Gesang Apolls hören. Sollen wir lauschen?«

Doch nichts war zu vernehmen als das Seufzen der See und des Windes in der Tamariske.

»Nein,« murmelte Miltoun schließlich, »nur sie allein kann es hören.«

Und Barbara gewahrte wieder jenen Ausdruck in seinem Antlitz, der weder traurig noch ungeduldig war, sondern wie der eines Geistesabwesenden und Wartenden.

Am nächsten Tag verließ sie ›Sea House‹, um sich ihrer Mutter anzuschließen, die, nachdem sie in Cowes und bei der Herzogin von Gloucester zu Besuch gewesen, wieder in London war; dort wartete sie das Ende der Parlamentstagung ab, ehe sie nach Schottland fuhr. Und am gleichen Nachmittag begab sich das Mädchen zu Mrs. Noel. Sie machte diesen Besuch nicht so sehr aus Mitleid als vielmehr aus Besorgnis und einer seltsamen Neugier heraus. Jetzt, da Miltoun wieder wohlauf war, fühlte sie sich ernstlich beunruhigt. Hatte sie einen Irrtum begangen, als sie Mrs. Noel aufgefordert hatte, ihn zu pflegen?

Als sie in den kleinen Salon trat, saß Audrey auf dem bequemen Fenstersitz, ein Buch auf den Knien; Barbara bemerkte aber, daß das Inhaltsverzeichnis aufgeschlagen war, und schloß daraus, daß Audrey nicht gar zu aufmerksam gelesen habe. Beim Anblick ihrer Besucherin zeigte sie keine Aufregung und auch keinerlei Verlangen, Nachrichten über Miltoun zu hören. Doch das Mädchen war noch keine fünf Minuten im Zimmer gewesen, als ihr der Gedanke kam: ›Ah! Sie hat denselben Ausdruck wie Eustace!‹ Auch sie war wie eine leere Wohnstatt, ohne Ungeduld, Unzufriedenheit oder Klage – sie wartete! Kaum hatte Barbara dies mit einem seltsamen Gefühl von Verwirrung begriffen, als Courtier gemeldet wurde. Ob das ein bloßer Zufall war oder fast selbstverständliche Berechnung beim Empfang ihres Briefes aus ›Sea House‹, in welchem sie ihm mitgeteilt hatte, daß Miltoun wieder genesen sei, daß sie wieder nach London fahre und Mrs. Noel besuchen wolle, um ihr zu danken, das war ebenso unklar wie ihre innersten Gefühle; und ihr Gesicht nahm jenen verschlossenen Ausdruck an, den Courtier, wie sie vielleicht wußte, nicht zu ertragen vermochte. Jedenfalls war sein Gesicht ganz rot, als er ihr die Hand reichte. Er sei gekommen, um sich zu verabschieden, sagte er zu Mrs. Noel, nächste Woche reise er bestimmt ab. Die Kämpfe hätten begonnen; die Revolutionäre wären von einer starken Übermacht bedrängt. Eigentlich hätte er schon längst dort sein sollen!

Barbara war ans Fenster getreten; plötzlich wandte sie sich um und sagte:

»Vor zwei Monaten haben Sie den Frieden gepredigt!«

Courtier verbeugte sich.

»Wir alle sind nicht vollkommen konsequent, Lady Barbara. Diese armen Teufel verfechten eine heilige Sache.«

Barbara hielt ihre Hand Mrs. Noel hin.

»Sie halten ihre Sache nur deshalb für heilig, weil die dort zufällig schwach sind. Leben sie wohl, Mrs. Noel! Die Welt gehört den Starken, nicht wahr?«

Diese Worte sollten ihn verletzen; und an dem Ton seiner Stimme erkannte sie, daß es ihr gelungen war.

»Bitte nicht, Lady Barbara! Ihre Mutter könnte so sprechen, aber Sie sollten so etwas nicht sagen!«

»Es ist aber meine Überzeugung. Leben Sie wohl!« Und sie verließ das Zimmer.

Sie hatte ihm doch gesagt, daß er nicht fortgehen solle, wenigstens jetzt noch nicht; und er tat es doch! Kaum aber befand sie sich nach diesem seltsamen Wortwechsel draußen, als sie sich auf die Lippen biß, um ein wehes, zorniges Gefühl zurückzudrängen. Sie waren beide unhöflich zu einander gewesen; auf solche Weise hatten sie Abschied genommen! Als sie dann ins Sonnenlicht hinaustrat, dachte sie: ›Na schön! Ihm liegt ja nichts daran, und mir noch weniger!‹

Da vernahm sie hinter sich eine Stimme: »Darf ich Ihnen einen Wagen besorgen?« und sofort hörte jenes Gefühl auf; sie sah sich jedoch nicht um, schüttelte nur lächelnd den Kopf und ließ ihn neben sich hergehen.

Obgleich sie Seite an Seite dahinschritten, redeten sie zuerst gar nicht. Barbara wurde von dem quälenden, boshaften Wunsch gepackt, die Empfindungen kennenzulernen, die sich eigentlich hinter seiner feierlichen Ehrerbietung bargen, ihn zu zwingen, seine wahren Gefühle für sie einzugestehen. Sie hielt die Augen züchtig zu Boden gesenkt, doch um ihre Lippen ließ sie den Schatten eines Lächelns schweben; auch wußte sie, daß ihre Wangen glühten, ohne daß sie es bedauert hätte. Sollte ihr gar keine, gar keine Genugtuung – sollte er ruhig fortgehen – ohne –. Und sie dachte: ›Er muß etwas sagen! Er soll zu mir sprechen, ohne seine abscheuliche Ironie!‹

Plötzlich sagte sie:

»Die beiden warten nur – es wird noch zu etwas kommen!«

»Wahrscheinlich,« gab er ernst zur Antwort.

Da blickte sie ihn an – sie fand Freude daran, ihn erbeben zu sehen, als hätte ihn ihr Blick durchbohrt; und sie sagte sanft:

»Und ich glaube, sie werden vollkommen im Recht sein.«

Um die Bedeutung dieser Worte kümmerte sie sich wenig, sie wußte, daß sie leichtsinnig waren; gleichzeitig jedoch wußte sie, daß die Empörung, die aus ihnen sprach, ihre Wirkung auf ihn nicht verfehlen würde. Sie konnte diese Wirkung in seinem Gesichte lesen; und nach einem kurzen Schweigen sagte sie:

»Glücklich sein ist die Hauptsache.« Und mit sanfter Stimme fügte sie boshaft-langsam hinzu: »Nicht wahr, Mr. Courtier?«

Doch alle Fröhlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen, das fast blaß geworden war. Er hob die Hand und ließ sie wieder sinken. Da tat es ihr leid. Es war gerade so, als hätte er sie bitten wollen, ihn zu schonen.

»Was das betrifft,« sagte er, »so muß man das Unangenehme ebenso ertragen können wie das Angenehme. Aber manchmal ist das Leben so schrecklich lustig!«

»Wie zum Beispiel jetzt?«

Er blickte sie fest und ernsthaft an und gab zurück:

»Wie jetzt.«

Ein Gefühl gründlichen Ärgers packte Barbara. Sie war ihm nicht gewachsen – er war donquichotisch – er war hassenswert! Und entschlossen, sich nicht das geringste merken zu lassen, zumindest so stark wie er zu sein, sagte sie ruhig:

»Jetzt möchte ich den Wagen haben!«

Als sie darin saß und er mit gezogenem Hute dastand, sah sie ihn auf eine Weise an, wie es nur Frauen können, so, daß er gar nicht merkte, daß sie ihn ansah.


 << zurück weiter >>