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Fünftes Kapitel

Eustace Caradoc, Viscount Miltoun, hatte ein recht einsames Leben gelebt, seit er zuerst die Eigentümlichkeiten des Daseins zu begreifen angefangen hatte. Mit Ausnahme von Clifton, des ›Majordomus‹ seiner Großmutter, hatte er als kleines Kind keine einzige intime Freundschaft geschlossen. Seine Wärterinnen, Gouvernanten und Lehrer erklärten, daß sie ihn nicht verstünden, da er ihrer Ansicht nach die Dinge überflüssig ernst nahm; auch fürchteten sie ihn ein wenig, als sie entdeckten, daß er die Absonderlichkeit so weit treiben konnte, Schmerzen ohne Klage zu erdulden. Einen großen Teil seiner Jugendzeit verbrachte er in Ravensham, denn er war stets Lady Casterleys Lieblingsenkel gewesen. In ihm erkannte sie den zielbewußten Ernst, der irgendwie beim Charakter ihrer Tochter vergessen worden war. Doch nur Clifton gegenüber, der damals ein würdevoller Fünfziger mit langen, schwarzen Kotelettes war, erleichterte Eustace sein Herz. »Clifton, das erzähle ich nur Ihnen, weil Sie mein Freund sind,« pflegte er zu sagen, während er auf der Anrichte saß, oder auf der Lehne des großen Stuhls in Cliftons Zimmer, oder zwischen den Himbeeren umherwanderte.

Und Clifton, den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt, hörte mit besorgtem Interesse die Vertraulichkeiten seines ›Freundes‹ an, die manchmal verwickelter Natur waren, und antwortete hin und wieder: »Gewiß, Mylord,« doch noch öfter: »Gewiß, mein Lieber.«

In dieser Freundschaft lag etwas Schönes und mit beider Charakter Übereinstimmendes, denn keiner der zwei ›Freunde‹ gestattete sich eine Freiheit gegen den andern, oder hatte sie von diesem zu ertragen, und beide interessierten sich für Tauben, die sie oft mit erstaunlicher Aufmerksamkeit beobachteten.

Im Laufe der Zeit ging Eustace, der Familientradition folgend, nach Harrow. Dort verbrachte er fünf Jahre – einer von jenen Knaben, deren Ärmel und Hosenbeine stets zu kurz sind und die man allein, mit ungelenkem Gang zu ihren besondern Schlupfwinkeln trotten sieht, ziemlich staubig und die eine Schulter ein wenig in die Höhe gezogen durch die Gewohnheit, etwas unterm Arm zu tragen. Obwohl ihn sein Titel, der Mangel an jeder auffallenden Begabung zur Gelehrsamkeit, seine offenbare Gleichgültigkeit gegen alles, was man von ihm dachte, und eine sarkastische Zunge, mit der sich niemand gern einließ, davor schützten, für einen eingebildeten Narren angesehen zu werden, so blieb er doch das häßliche Entchen, das sich weigerte, vorschriftsmäßig im grünen Teich der Schultradition zu schwimmen. Seine sportlichen Leistungen waren so mangelhaft, daß seine Kameraden ihm aus bloßer Notwehr gestatteten, allein zu spielen. Bei ›Fives‹, einer Art von Ballspiel, machten sie eine Ausnahme, denn darin brachte er es, dank seiner an die Flügel einer Windmühle erinnernden Gelenkigkeit, sehr weit. Auch war er wegen seiner kühnen chemischen Experimente berüchtigt, und gewöhnlich braute er an einem oder zweien, zuerst im geheimen und später mit besonderer Erlaubnis des die Aufsicht führenden Lehrers, der meinte, daß wenn ein Zimmer unbedingt einen Geruch haben müsse, es lieber ohne Geheimtuerei übel riechen solle. Er schloß nur wenige Freundschaften, doch diese waren von Dauer. Seine lateinischen Verse waren so jämmerlich und seine griechischen so erbärmlich, daß man allgemein überrascht war, als er am Ende seiner Studierzeit eine ganz beträchtliche Begabung zeigte, seine eigene Sprache zu sprechen und zu schreiben. Er verließ die Schule ohne Trennungsschmerz. Als er jedoch vom Zug aus den alten Hügel mit dem alten spitzen Turm entschwinden sah, würgte ihn etwas in der Kehle, zwei- oder dreimal schluckte er schwer, dann drückte er sich tief in die Wagenecke zurück und schien zu schlafen.

In Oxford fühlte er sich wohler, war aber noch immer verhältnismäßig einsam; dort wohnte er, so lange die Sitte es erlaubte, außerhalb seines ›College‹ und vergrub sich hernach in entlegenen, getäfelten Zimmern hoch oben, die die Universitäts-Gärten und einen Teil der Stadtmauer übersahen. In Oxford war es, wo er zuerst anfing, jene Leidenschaft für Selbstzucht zu entwickeln, die ihn später auszeichnete. Er begann zu rudern, und obzwar er von Natur aus für diesen Zeitvertreib ganz ungeeignet war, sicherte er sich einen Platz in dem für das Frühjahrs-Wettfahren bestimmten Boot seines ›College‹. Am Ende eines Wettfahrens, wenn man ihn von seinem Fußbrett losschnallte, befand er sich gewöhnlich in einem Zustand äußerster Erschöpfung, da er den letzten Teil des Rennens einzig und allein mit seinem Geist gerudert hatte. Der gleiche Drang nach Selbstzucht bestimmte auch seine Wahl der Unterrichtsgegenstände; er bereitete sich auf die Reifeprüfung in Griechisch und Latein vor, wozu er infolge seiner mittelmäßigen Beherrschung dieser Sprachen am wenigsten geeignet war. Nach enormer Arbeit bestand er das Examen mit Auszeichnung. Daneben trug er die höchste Auszeichnung der Universität für englischen Aufsatz davon. An dem gewöhnlichen Collegeleben nahm er nicht teil. Kein einziges Mal während seiner ganzen Studienzeit war er betrunken gewesen. Er ging nie auf die Jagd; er sprach niemals von Frauen, und niemand sprach von Frauen in seiner Gegenwart. Doch dann und wann gingen jene Stürme über ihn hin, wie sie Asketen heimzusuchen pflegen. Alles Leben schien plötzlich aufgesogen und verzehrt von einer Flamme, die Tag und Nacht brannte und dann wie eine Kerze, die man ausbläst, gleichsam aus Gnade erlosch, ohne daß er wußte warum. So ungesellig er auch im eigentlichen Sinne des Wortes sein mochte, gebrach es ihm während seiner Zeit in Oxford doch keineswegs an Gesellschaft. Er war mit vielen bekannt, sowohl mit Professoren wie auch ganz jungen Studenten. Sein langer Schritt und die ewige Ziellosigkeit seiner Spaziergänge stellten selbst alle jene auf eine schwere Probe, die sich mit einem so langsamen Zeitvertreib wie das Umherschlendern um des Plauderns willen abfinden konnten. Auf dem Lande kannte man ihn – obwohl er nie das Land kennen lernte – von Abingdon bis Bablock Hythe. Auch hatte sein Name einen guten Klang in der literarischen Studentenvereinigung, wo er sich während des ersten Semesters in einer Debatte über die ›Zensur der Literatur‹ hervortat, die er düster, halsstarrig und mit einem gewissen jugendlichen Feuer verfocht, und fast hätte er den Sieg errungen, wäre nicht ein Ire aufgestanden, der auf die Gefahr hinwies, die dem Alten Testament drohte. Hierauf hatte er entgegnet: »Besser, daß darum gestritten wird, als daß es nicht der Mühe wert ist, darum zu streiten.« Von diesem Augenblick an war er bekannt.

Er blieb vier Jahre dort und ging voller Verwirrung und mit dem Gefühl, etwas verloren zu haben, wieder fort. Das endgültige Urteil Oxfords über dieses sein Kind lautete: ›Eustace Miltoun! Ah, ein Sonderling! Wird noch von sich reden machen!‹

Ungefähr um diese Zeit hatte er eine Unterredung mit seinem Vater, die beide in ihrer Meinung von einander bestärkte. Sie fand in der Bibliothek zu Monkland Court an einem Nachmittag im späten November statt.

Das Licht von acht Kerzen in glatten silbernen Leuchtern, von denen je vier zu beiden Seiten des aus Stein gehauenen Kamines standen, erhellte das Gemach. Nur ganz leise durchdrang ihr sanfter Glanz den großen, dunkeln Raum, der von Büchern eingefaßt und mit schwarzem Eichenholz getäfelt und gedielt war, und wo der durchdringende Geruch von Leder und trockenen Rosenblättern die Seele bis in ihr Innerstes mit dem Aroma der Vergangenheit zu überfluten schien. Über dem riesigen Kamin hing ein Porträt von einem unbekannten Maler, die eine Seite des rasierten Gesichtes vom Feuerschein beleuchtet – es war jener Kardinal Caradoc, der im sechzehnten Jahrhundert für seinen Glauben gelitten hatte. Asketisch, märtyrerhaft, mit einem matten Lächeln, das um die Lippen spielte und in den tiefliegenden Augen schien, präsidierte er hoch über den bläulichen Flammen eines Holzfeuers.

Vater und Sohn fanden es etwas schwierig anzufangen.

Ein jeder der beiden hatte das Gefühl, als ob er sich dem nahen Verwandten irgend eines andern gegenüber befände. Sie hatten sich tatsächlich sehr selten und dann auch nur ganz kurz gesehen.

Lord Valleys machte die erste Bemerkung:

»Na, lieber Junge, was willst du jetzt beginnen? Ich glaube, das Mandat hier ist uns sicher, wenn du kandidieren willst.«

Miltoun hatte erwidert: »Besten Dank! Aber das ist im Augenblick nicht meine Absicht.«

Durch den feinen Rauch seiner Zigarre beobachtete Lord Valleys die hagere Gestalt, die in dem Stuhle gegenüber tief zurückgesunken saß.

»Warum nicht?« fragte er. »Du kannst nicht früh genug anfangen; es sei denn, du hältst eine Weltreise für zweckdienlich.«

»Damit ich Weltmann werden kann?«

Lord Valleys lachte etwas aus der Fassung gebracht.

»In der Politik gibt es nichts, das du nicht in der Praxis lernen könntest,« sagte er. »Wie alt bist du?«

»Vierundzwanzig.«

»Du siehst älter aus.« Eine leichte, nachdenkliche Falte zeigte sich zwischen seinen Brauen. War es nur Einbildung, daß ein leises Lächeln um Miltouns Lippen schwebte?

»Ich bin der lächerlichen Ansicht,« kam es von diesen Lippen, »daß man zuerst die Verhältnisse kennen lernen muß. Ich will mich zumindest fünf Jahre damit befassen.«

Lord Valleys zog die Augenbrauen hoch. »Zeitvergeudung!« erklärte er. »Wenn du sofort ins Parlament gingest, wüßtest du am Ende der fünf Jahre mehr. Du nimmst die Sache zu ernst.«

»Zweifellos.«

Eine volle Minute gab Lord Valleys keine Antwort; er fühlte sich fast verletzt. Aber er wartete, bis diese Empfindung vorüber war, und sagte: »Na, lieber Junge, wie du meinst.«

Miltoun verbrachte seine politischen Lehrjahre in einem Armenviertel; auf den Gütern seines Vaters; in einer Wohnung im ›Temple‹-Gebäude; auf Reisen nach Deutschland, Amerika und den britischen Kolonien; mit Arbeit bei den Wahlen; und zweimal mit der vergeblichen Hoffnung, eine Wählerschaft zu gewinnen, die ihren Grundsätzen unabänderlich treu blieb. Er las viel, langsam, aber mit gewissenhafter Ausdauer: Poesie, Geschichte und Werke über Religion, Philosophie und soziale Fragen. Für Romane, besonders ausländische, hatte er kein Interesse. Vom Wunsche besessen, großzügig und unparteiisch zu sein, nahm er das in sich auf, was den Bedürfnissen seiner Natur entsprach und verwarf unbewußt alles, was das Leben seiner innersten Seele hätte gefährden können. Was er las, diente eigentlich nur dazu, ihn in jenen tieferen Überzeugungen zu bestärken, die aus seinem Temperament hervorgingen. Mit der Verachtung für den gemeinen Tand von Rang und Reichtum verband er die demütige, aber intensive und stets wachsende Überzeugung von seiner Befähigung zur Führerschaft, von seiner geistigen Überlegenheit über jene, denen er zu nützen wünschte. Miltoun hatte tatsächlich keine Spur des gewöhnlichen Pharisäers an sich, er war einfach und geradeaus; doch seine Augen, seine Gesten, der ganze Mann verriet das Vorhandensein einer geheimen Quelle der Sicherheit, eines tiefverborgenen Brunnens, wohin kein verwirrender Lichtstrahl drang. Er hatte Witz, aber nicht jenen, der das Auge nach innen kehrt und etwas von dem Spaß gewahrt, der darin liegt, daß man ist, was man eben ist. Miltoun sah die Welt und alle ihre Dinge nach aufwärts streben, selbst wenn sie am Boden hinkrochen. Er schien kein Verständnis dafür zu haben, daß beide Symbole gleichzeitig im Universum existieren, und ihre Versöhnung bisher noch nicht gelungen war.

So war er beschaffen, als der Abgeordnete seines Wahlkreises in den Pairsstand erhoben wurde und deshalb auf seinen Sitz im Unterhaus verzichten mußte.

Er war dreißig Jahre alt geworden, ohne je verliebt gewesen zu sein, und abgesehen von einer einzigen Entgleisung hatte er ein Leben von fast fanatischer Reinheit geführt. Die Frauen fürchteten ihn. Und er fürchtete vielleicht ein wenig die Frauen. Sie waren in der Theorie zu schön und zu begehrenswert – der Halbmond am Sommerhimmel; in der Wirklichkeit empfand er sie als zu süßlich oder zu streng. Er liebte seine jüngere Schwester Barbara innig, doch seiner Mutter, seiner Großmutter und seiner älteren Schwester Agatha war er niemals nähergetreten. Es war in der Tat amüsant, Lady Valleys mit ihrem Erstgeborenen zusammenzusehen. Ihre schöne Gestalt, die aufgeblühten Rosen ihrer Wangen, die graublauen Augen, die manchmal funkelnd hin- und herrollten, als ob eine von einer Spur Ironie durchsetzte Lustigkeit dahinter sprudelte, nahmen in Miltouns Gegenwart einen sonderbaren Ausdruck spöttischer Zurückhaltung an. Gedanken und Aussprüche an der Grenze des Gewagten waren charakteristisch für ihren robusten Körperbau, für ihre Seele, die fast alles aussprechen durfte, was ihr in den Sinn kam. Miltoun hatte ihr niemals, nicht einmal als Kind, Vertrauen geschenkt. Sie trug ihm nichts nach, denn sie besaß jene großzügige Anlage des Körpers und der Seele, die selten – nie jedoch in ihrer Klasse – mit der Eigenschaft vereint ist, sich durch die Meinung anderer verletzt oder in irgend jemandes Achtung herabgesetzt zu fühlen, nicht einmal in der eigenen. Er war ja stets ein sonderbarer Junge gewesen, und damit basta! Vielleicht empfand Lady Valleys seinen mangelhaften Takt den Frauen gegenüber am peinlichsten. Es schien ihr abnormal, ebenso wie sie in ihrem Gatten und jüngern Sohn den normalen, wenn auch aus Konvention scheinbar zurückhaltenden Mann erblickte. Aus diesem Gefühl heraus beschäftigte sie sich fast lebhafter mit der Gefahr, in der Miltoun durch seine Freundschaft mit jener Dame schwebte, auf die sie so diskret als ›Anonyma‹ angespielt hatte, als ihr im Drange politischer und gesellschaftlicher Pflichten Zeit blieb.

Der reine Zufall war an dem Beginn dieser Freundschaft Schuld gewesen. Als Miltoun an einem Dezember-Nachmittag zu dem Farmhaus eines Pächters ging, den gerade ein Fall vom Pferde getötet hatte, fand er die Witwe in einem Zustand irren Jammers, den sie nicht ganz offen zeigte, weil sie beinahe nicht mehr imstande war, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und in Gegenwart der ›Herrschaft‹ keines Wortes mehr fähig schien. Nachdem er der Ärmsten versichert hatte, daß sie sich wegen der Pacht keine Sorgen zu machen brauche, verließ er sie gerade, als er in dem mit Steinfliesen gepflasterten Eingang eine Dame in Pelzmütze und -Jacke traf, die einen kleinen, weinenden Knaben auf den Armen trug, der aus einer Wunde auf der Stirn blutete. Indem Miltoun ihn ihr abnahm und ihn auf einen Tisch im Wohnzimmer setzte, betrachtete er die Dame genauer und bemerkte, daß sie ungewöhnlich ernst, sanft und liebreizend aussah. Er fragte sie, ob man es der Mutter sagen sollte.

Sie schüttelte den Kopf.

»Die Arme! Nicht gleich. Wir wollen zuerst die Wunde waschen und verbinden.«

Beide wuschen und verbanden daher den Schnitt. Nachdem sie fertig waren, blickte sie Miltoun an und schien zu sagen: ›Sie könnten es ihr um so viel besser beibringen als ich.‹

Deshalb brachte er es der Mutter bei und ward mit einem leisen Lächeln von der ernsten Dame belohnt.

Von diesem Zusammentreffen nahm er die Kenntnis ihres Namens, Audrey Lees Noel, und die Erinnerung an ein Gesicht mit sich, dessen Schönheit unter der Mütze aus Fähpelz ihn verfolgte. Als er ein paar Tage später am Gemeindeanger vorbeiging, sah er sie durch eine Gartentür treten. Bei dieser Gelegenheit hatte er sie gefragt, ob sie gern ein neues Strohdach für ihr Häuschen möchte; eine Untersuchung des Daches folgte darauf; er war lange Zeit plaudernd dort geblieben. An Frauen gewöhnt, von denen die besten trotz all ihrer Anmut und Natürlichkeit durch das gesellschaftliche Leben dahin gekommen waren, alles für ausgemacht zu halten, übte diese sanfte, dunkeläugige Dame, die offenbar ganz abseits von der Welt lebte und einen so eigenen, heimlichen Reiz besaß, eine besondere Anziehung auf Miltoun aus. So war aus einem zufälligen Samenkorn eine jener seltsamen Freundschaften zwischen einsamen Menschen rasch emporgeblüht, die in kurzer Zeit eine so große Rolle in beider Leben spielen kann.

Eines Tages fragte sie ihn: »Sie wissen doch um mich Bescheid?« Miltoun machte eine bejahende Bewegung mit dem Kopf. Der Pfarrer hatte ihm Auskunft erteilt.

»Jawohl, ihre Geschichte soll sehr traurig sein – eine Scheidung.«

»Wollen Sie damit sagen, daß der Mann sich scheiden ließ, oder – –«

Der Vikar hatte vielleicht den Bruchteil einer Sekunde gezögert.

»Ach nein, nein! Ich bin überzeugt, sie ist unschuldig gewesen. Eine nette Frau, so weit ich sehen kann, wenn sie auch leider nicht zu meiner Gemeinde zu gehören scheint.«

Damit gab sich Miltoun, dessen Ritterlichkeit bereits erweckt worden war, zufrieden. Als sie ihn fragte, ob er ihre Vergangenheit kenne, hätte er um alles in der Welt nicht zugegeben, daß sie die peinliche Geschichte wieder aufrühre. Was sich auch immer zugetragen hatte, sie konnte kein Tadel treffen. Seine Phantasie hatte bereits begonnen, sie umzugestalten, und er erblickte in ihr nicht mehr das menschliche Wesen, das sie war, sondern die Verwirklichung seiner Wünsche …

 

Am dritten Abend nach seinem Waffengang mit Courtier war er wieder in ihrem kleinen weißen Häuschen, das sich zwischen den hohen Gartenmauern barg. Von Rosen umhüllt und mit dem schwarz-braunen Strohdach, das die altmodischen Butzenscheiben der obern Fenster überragte, sah es aus, als verstecke es sich vor der Welt. Zwei Föhren dahinter, die Wache zu stehen schienen, breiteten ihre dunklen Äste über die Nebengebäude, und im Südwestwind konnte man sie ernsthaft übers Wetter raunen hören. Hohe Fliederbüsche säumten den Garten zu beiden Seiten ein, und eine riesige Linde im benachbarten Feld seufzte und raschelte oder ließ an stillen Tagen das schläfrige Gesumme zahlloser kleiner bräunlicher Bienen vernehmen, die jene grüne Gaststätte häufig besuchten.

Er fand sie damit beschäftigt, ein Kleid zu ändern, was sie auf ihre besondere, zarte Art und Weise tat, als erfordere alles und jedes – Kleider, Blumen, Bücher, Musik – die gleiche Sympathie von ihr.

Er hatte einen langen, ermüdenden Tag der Wahlvorbereitungen hinter sich, war auf zwei Versammlungen arg gehänselt worden und hatte diese Behandlung noch nicht verwunden. Noch nie hatte es so beruhigend auf ihn gewirkt, sie zu beobachten, von ihr besänftigt und umsorgt zu werden; und in einem Liegestuhl ausgestreckt, lauschte er ihrem Spiele.

An dem irisgrauen Himmel stieg der Mond mit einem Pierrotgesicht langsam hinter dem Hügel hervor. Und wie verzückt starrte Miltoun das ausgebrannte Gestirn an, wie es in blassem Lichte dahinglitt.

Dicht über das Heidemoor wälzte sich ein Nebelmeer hin und die Bäume im Tal standen wie weidendes Vieh knietief im weißen Dunst, die ganze Atmosphäre über ihnen bleich wie von zahllosen Mondstaubfäden, die wie Regen in jenes weiße Meer fielen. Dann zog der Mond hinter der Linde weiter, so daß ein großer angezündeter Lampion blauschwarz vom Himmel zu hängen schien.

Plötzlich rissen lärmende Schmährufe die Klänge der Musik roh auseinander. Sie schwollen an, wurden schwächer, und schwollen wieder an.

Miltoun erhob sich.

»Das hat mir meinen Traum zerstört,« erklärte er. »Mrs. Noel, ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Als er jedoch zu ihr hinuntersah, wie sie, die Hände auf den Tasten, so ruhig dasaß, blieb er stumm vor lauter Anbetung.

Eine Stimme von der Tür her rief:

»Ach gnädige Frau – ach Mylord! Sie mißhandeln einen Herrn am Gemeindeanger!«


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