Charles de Coster
Uilenspiegel und Lamme Goedzak
Charles de Coster

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IX

Es war damals der Mond des reifen Korns, und die Luft war drückend, der Wind lau; die Schnitter und Schnitterinnen waren schier nicht imstande, unter dem freien Himmel auf der freien Erde das von ihnen gesäte Korn einzusammeln.

Friesland, Drenthe, Oberyssel, Geldern, Utrecht, Nordbrabant, Nord- und Südholland, Walcheren, Nord- und Südbeveland, Seeland, nämlich Duiveland und Schouwen, die ganze Küste der Nordsee von Knokke bis Helder und die Inseln Texel, Vlieland, Ameland und Schiermonnikoog hatten sich, von der Westerschelde an bis zur Osterems, freigemacht von dem spanischen Joche; Moritz, der Sohn des Schweigers, führte den Krieg weiter.

Uilenspiegel und Nele, im vollen Besitze ihrer Jugend, ihrer Kraft und ihrer Schönheit – denn die Liebe und der Geist Flanderns altern nie – lebten still in dem Turme von Beere und harrten der Zeit, wo nach mannigfacher grausamer Prüfung der Sturm der Freiheit über das belgische Vaterland brausen werde.

Uilenspiegel hatte gebeten, als Befehlshaber und Wächter des Turmes bestellt zu werden, indem er sagte, seine Adleraugen und seine Hasenohren befähigten ihn, die Wacht zu halten, ob es nicht der Spanier versuchen werde, sich wieder in den befreiten Landen zu zeigen, und dann werde er Wacharm läuten. Die Obrigkeit hatte nach seinem Willen getan: wegen seiner guten Dienste gab man ihm täglich einen Gulden, zwei Pinten Bier, Bohnen, Käse und Zwieback und wöchentlich drei Pfund Fleisch.

Uilenspiegel und Nele lebten wohlgemut zu zweien: in der Ferne sahen sie freudigen Auges die freien Inseln von Seeland, die Wiesen, den Busch, die Schlösser und die Festen und die Küstenwachtschiffe der Geusen.

Oft stiegen sie des Nachts auf den Turm, um oben auf dem Söller von den harten Schlachten zu plaudern und von den Liebeswonnen der Vergangenheit und der Zukunft. Von da sahen sie, wie in dieser heißen Zeit die See leuchtende Wogen ans Ufer warf und wieder heimholte, sie auf die Inseln schleudernd wie Gespenster aus Feuer. Und Nele erschrak über die Irrlichter in den Poldern; sie sagte, das seien die Seelen der armen Toten. Und dort überall waren Schlachtfelder gewesen. Die Irrlichter stiegen über den Poldern auf, liefen die Deiche entlang und kehrten wieder in die Polder zurück, als ob sie den Leibern nicht hatten entsagen wollen, die sie verlassen hatten.

Eines Nachts sagte Nele zu Uilenspiegel: »Sieh, wie sie zahlreich sind in Duiveland und wie hoch sie fliegen; in der Richtung der Vogeleilande sehe ich die meisten. Willst du hin, Thijl? Wir nehmen den Balsam, der zeigt, was unsichtbar ist für sterbliche Augen.«

Uilenspiegel antwortete: »Wenn es der Balsam ist, der mich zu dem großen Sabbat gebracht hat, dann traue ich ihm nicht mehr als einem eiteln Traume.«

»Man braucht«, sagte Nele, »die Kraft der Zauber nicht zu leugnen. Komm, Uilenspiegel.«

»Ich will es tun.«

Am nächsten Tage bat er bei der Obrigkeit, daß ihn ein scharfsichtiger und treuer Soldat vertreten möge, um den Turm zu hüten und über die Lande zu wachen. Und er machte sich mit Nele auf den Weg zu den Vogeleilanden.

Wandernd über Feld und Deich, sahen sie kleine grüne Eilande, getrennt durch Meeresarme. Und auf den Rasenhügeln, die bis zu den Dünen reichten, saß eine große Schar von Kiebitzen, Möwen und Seeschwalben, die in ihrer Unbeweglichkeit mit ihrem Gefieder die Eilande ganz weiß erscheinen ließen; und in den Lüften flogen Tausende dieser Vögel. Der Boden war voller Nester: Uilenspiegel, der sich bückte, um ein Ei vom Wege aufzulesen, sah eine Möwe heranfliegen, die einen Schrei ausstieß. Auf diesen Ruf kamen mehr als hundert dazu, schreiend vor Angst, und flatterten über den Nestern am Wege und über dem Kopf Uilenspiegels, ohne daß sie es jedoch gewagt hätten, sich ihm zu nähern.

»Uilenspiegel,« sagte Nele, »diese Vögel bitten um Gnade für ihre Eier.«

Dann sagte sie zitternd: »Ich habe Angst: sieh, die Sonne sinkt, der Himmel ist weiß, die Sterne erwachen; es ist die Stunde der Geister. Sieh die roten Dünste, die über die Erde streichen. Thijl, mein Geliebter, was ist das für ein Ungeheuer der Hölle, das im Gewölke seinen Feuerschlund öffnet? Sieh in der Richtung von Philippsland, wo der königliche Henker in seinem grausamen Eifer zweimal so viele arme Menschen hat töten lassen, sieh dort die Irrlichter tanzen. Es ist die Nacht, wo die Seelen der armen, in den Schlachten getöteten Menschen die frostige Vorhalle des Fegefeuers verlassen, um sich auf Erden an der lauen Luft zu wärmen; es ist die Stunde, wo du alles verlangen kannst von Christus, der der Gott des guten Zaubers ist.«

»Die Asche schlägt an mein Herz,« sagte Uilenspiegel. »Könnte mir nur Christus die Sieben zeigen, deren in den Wind gestreute Asche Flandern und die ganze Welt glücklich machen soll.«

»Ungläubiger Mann,« sagte Nele, »durch den Balsam wirst du sie sehn.«

»Vielleicht,« sagte Uilenspiegel, indem er mit dem Finger auf den Sirius wies, »wenn irgendein Geist heruntersteigt von diesem kalten Sterne.«

Bei dieser Gebärde heftete sich ein Irrlicht, das um ihn getanzt hatte, an seinen Finger, und je mehr er sich bemühte, es abzulösen, desto fester hielt es. Nele, die es versuchte, Uilenspiegel zu befreien, hatte auch ihr Irrlicht an der Fingerspitze.

Uilenspiegel schlug das seinige und sagte: »Antworte! bist du die Seele eines Geusen oder eines Spaniers? Bist du eine Geusenseele, so geh ins Paradies; bist du eine Spanierseele, dann kehre in die Hölle zurück, woher du gekommen bist.«

Nele sagte zu ihm: »Schmähe nicht die Seelen, und seien es auch die Seelen von Henkern.« Und sie ließ ihr Irrlicht an der Fingerspitze tanzen und sagte: »Irrlicht, schmuckes Irrlicht, was bringst du Neues aus dem Lande der Seelen? Was treiben sie denn dort? Essen und trinken sie, obwohl sie keinen Mund haben? denn du hast keinen, liebes Irrlicht! Oder nehmen sie die menschliche Gestalt erst im gebenedeiten Paradiese an?«

»Wie kannst du denn", sagte Uilenspiegel, »die Zeit damit verlieren, mit dieser kümmerlichen Flamme zu sprechen, die keine Ohren hat, um dich zu verstehn, und keinen Mund, um dir zu antworten?«

Aber sie sagte, ohne auf ihn zu hören: »Irrlicht, antworte durch den Tanz; ich will dich dreimal befragen: einmal im Namen Gottes, einmal im Namen der Jungfrau und einmal im Namen der Elementargeister, die die Boten zwischen Gott und den Menschen sind.« Sie tat es, und das Irrlicht tanzte dreimal.

Nun sagte Nele zu Uilenspiegel: »Entkleide dich; ich tue desgleichen: hier ist die Silberbüchse mit dem Seherbalsam.« »Mir ist es einerlei,« antwortete Uilenspiegel.

Als sie dann nackt waren und sich mit dem Seherbalsam gesalbt hatten, legten sie sich aneinandergeschmiegt ins Gras. Die Möwen klagten, der Donner rollte dumpf in dem von Blitzen durchzuckten Gewölk, der Mond zeigte zwischen zwei Wolken kaum die goldenen Hörner seiner Sichel, und die Irrlichter Uilenspiegels und Nelens verschwanden, um mit den andern in der Wiese zu tanzen.

Plötzlich wurden Nele und ihr Freund von der großen Hand eines Riesen gepackt; er warf sie in die Luft wie Kinderbälle, fing sie wieder, rollte sie eins auf dem andern, knetete sie zwischen seinen Händen und warf sie in die Wasserlachen zwischen den Hügeln und zog sie voll Seetang heraus. Und indem er sie durch den Raum hin und wider fliegen ließ, sang er mit einer Stimme, die alle Möwen der Eilande aus dem Schlafe schreckte:

Mit schielendem Auge will es,
Dieses winzige Ungeziefer,
Lesen die göttliche Schrift,
Die wir in Verwahrung halten.

Lies, Floh, das Geheimnis,
Lies, Laus, das geheiligte Wort,
Das in Himmel, Luft und Erde
Mit sieben Nägeln verankert ist.

Und wirklich sahen Uilenspiegel und Nele auf dem Rasen, in der Luft und am Himmel sieben leuchtende eherne Tafeln, die durch sieben flammende Nägel gehalten wurden. Und auf den Tafeln stand geschrieben:

Durch den Dünger keimen die Saaten,
Sieben ist schlecht, aber Sieben ist gut.
Diamanten kommen aus Kohlenglut,
Von schlechten Lehrern die Schüler geraten;
Sieben ist schlecht, aber Sieben ist gut.

Und der Riese schritt dahin, und all die Irrlichter folgten ihm, summend wie die Grillen, und sie sagten:

Betrachtet ihn gut, er ist ihr Meister,
Der Könige König, der Päpste Papst,
Er ists, der Cäsars Durst stillt:
Betrachtet ihn gut, er ist aus Holz.

Plötzlich veränderten sich seine Züge; er wurde magerer, trauriger und größer. In der einen Hand hielt er ein Scepter und in der andern ein Schwert. Und er hieß Hochmut. Und er warf Nele und Uilenspiegel zu Boden und sagte: »Ich bin Gott.«

Dann erschien auf einer Ziege ein rotwangiges Mädchen, die Brüste nackt und das Kleid offen, und ihr Auge war keck; und ihr Name war Wollust. Und es kam eine alte Jüdin, die die Schalen der Möweneier auflas; sie hieß Geiz. Und ein Mönch, ein gefräßiger, schmatzender Mönch, der Würste aß, sich mit Fleisch vollstopfte und seine Kinnbacken ohne Unterlaß rührte wie die Sau, auf der er saß; das war die Völlerei. Weiter kam die Trägheit, ein Bein nachschleppend, bleich und gedunsen und mit erloschenen Augen, und der Zorn hetzte sie mit einem Treibstachel; die Trägheit klagte traurig, das Gesicht von Tränen überströmt, und fiel erschöpft auf die Knie. Dann kam der dürre Neid mit dem Schlangenkopf und den Hechtzähnen, und er biß die Trägheit, weil sie zu gemächlich war, den Zorn, weil er zu lebhaft war, die Völlerei, weil sie zu satt war, die Wollust, weil sie zu rot war, den Geiz wegen der Eierschalen und den Hochmut wegen seines Purpurkleides und seiner Krone. Und die Irrlichter tanzten rundherum.

Und sie sprachen mit den Klagestimmen von Männern, Frauen, Mädchen und Kindern und sagten wimmernd: »Hochmut, Vater der Herrschsucht, und Zorn, Quell der Grausamkeit, ihr habt uns getötet auf den Schlachtfeldern, in den Kerkern und auf den Richtstätten, um euere Scepter und Kronen zu behalten! Neid, du hast viel edle und nützliche Gedanken im Keime erstickt; wir sind die Seelen der verfolgten Erfinder. Geiz, du hast das Blut des armen Volkes in Gold umgewandelt; wir sind die Geister deiner Opfer. Wollust, du Gesellin und Schwester des Mordes, die du Nero, Messalina und König Philipp von Spanien gezeugt hast, du kaufst die Tugend und bezahlst die Verderbnis; wir sind die Seelen der Toten. Trägheit und Völlerei, ihr besudelt die Welt, und sie muß von euch gesäubert werden; wir sind die Seelen der Toten.«

Und eine Stimme erscholl, die sagte:

Durch den Dünger keimen die Saaten;
Sieben ist schlecht, aber Sieben ist gut.
Von schlechten Lehrern die Schüler geraten.
Um Asche zu erhalten und Kohlenglut,
Was da die unstäte Laus wohl tut?

Und die Irrlichter sagten: »Das Feuer, das sind wir, die Rache für die alten Tränen, für die Schmerzen des Volkes, die Rache für die Herren, die in ihren Ländern Jagd gemacht haben auf menschliches Wild, die Rache für die unnützen Schlachten, für das in den Kerkern vergossene Blut, für die verbrannten Männer, für die lebendig begrabenen Frauen und Mädchen, die Rache für die in Ketten geschlagene, blutende Vergangenheit. Das Feuer, das sind wir; wir sind die Seelen der Toten.«

Bei diesen Worten wurden die Sieben in Holzbilder verwandelt, ohne daß sie etwas von ihrer frühern Gestalt verloren hätten. Und eine Stimme sagte: »Uilenspiegel, brenne das Holz.« Und Uilenspiegel wandte sich zu den Irrlichtern: »Ihr, die ihr Feuer seid, tut euer Werk.«

Und die Irrlichter umringten die Sieben in Haufen und verbrannten sie, und die Sieben wurden zu Asche. Und ein Strom von Blut rollte.

Und aus der Asche erstanden sieben andere Gestalten. Die erste sagte: »Ich hieß Hochmut, ich nenne mich edler Stolz.« Und die andern sprachen ebenso, und Uilenspiegel und Nele sahen aus dem Geiz die Sparsamkeit erstehn, aus dem Zorn die Lebhaftigkeit, aus der Völlerei die Eßlust, aus dem Neide den Wetteifer und aus der Trägheit das Träumen der Dichter und Weisen. Und die Wollust auf ihrer Ziege wurde in ein schönes Weib verwandelt, die den Namen Liebe hatte. Und die Irrlichter tanzten um sie einen jauchzenden Reigen.

Nun hörten Uilenspiegel und Nele tausend volltönende und kichernde Stimmen von verborgenen Männern und Frauen. Und ihr Gesang war wie ein Klirren:

Wenn auf dem Lande und auf der See
Die verwandelten Sieben gebieten,
Männer, dann hebet das Haupt in die Höh:
Die Welt hat ausgelitten.

Und Uilenspiegel sagte: »Die Geister machen sich lustig über uns.«

Und eine mächtige Hand packte Nele am Arme und schleuderte sie in den Raum.

Und die Geister sangen:

Wann der Norden
Küßt den Schläfer,
Hat die Not ein Ende:
Suche den Gürtel.

»Ach,« sagte Uilenspiegel, »Norden, Schläfer und Gürtel. Ihr sprecht dunkel, Geister.«

Und sie sangen kichernd:

Norden, das ist Niederland,
Belgien ist der Schläfer.
Der Gürtel, das ist der Bund,
Der Gürtel, das ist die Freundschaft.

»Geister,« sagte Uilenspiegel, »ihr seid wahrlich nicht dumm.«

Und kichernd sangen sie von neuem:

    Der Gürtel, du Wicht,
Zwischen Belgien und Niederland,
Das ist die innige Freundschaft,
    Der Treubund.

Met raad
En daad;
Met dood
En bloed.

    So müßt es sein,
    Wär nicht die Schelde,
Wär nicht die Schelde,
du Wicht.

»Ach,« sagte Uilenspiegel, »so ist also unser qualvolles Leben: Tränen der Menschen und Lachen des Geschicks.«

Und kichernd wiederholten die Geister:

Treubund des Bluts
    Und des Tods,
Wär nicht die Schelde.

Und eine wuchtige Hand packte Uilenspiegel und schleuderte ihn in den Raum.


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