Charles de Coster
Uilenspiegel und Lamme Goedzak
Charles de Coster

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XLII

Der Tag war heiß; von der stillen See kam kein Lüftchen. Schier unmerklich säuselte das Laub der Bäume am Kanale von Damme, und die Grillen zirpten in den Wiesen, derweil die Leute der Kirchen und Abteien auf die Felder kamen, um den Dreizehnten der Ernte für die Pfarrer und Äbte zu fordern. Von dem blauen, glühenden, unergründlichen Himmel goß die Sonne die Hitze aus, und die Natur schlief unter dem Strahle wie ein schönes Mädchen, nackt und erschlafft unter den Küssen ihres Geliebten. Die Karpfen schnellten sich über den Spiegel des Kanals, um die summenden Fliegen zu schnappen, während ihnen die Schwalben mit den langen Leibern und den großen Flügeln die Beute bestritten. Von der Erde stieg ein warmer Dunst auf, der im Lichte schillerte und flimmerte. Auf einer zersprungenen Glocke, die wie ein Kessel klang, verkündete der Küster vom Turme Dammes den Bauern, die im Heu arbeiteten, daß es Mittag sei und Zeit, essen zu gehn. Die Frauen riefen durch die hohlen Hände ihre Männer und Brüder bei den Namen: Hans, Pieter, Judocus; und über den Hecken sah man ihre roten Schnitterhüte.

In der Ferne erhob sich vor den Augen Lammes und Uilenspiegels hoch, wuchtig und massig der Turm von Unserer Frau, und Lamme sagte: »Hier, mein Sohn, ist dein Schmerz und deine Liebe.« Aber Uilenspiegel antwortete nichts.

»Bald«, sagte Lamme, »werde ich meine alte Wohnung sehn, vielleicht auch meine Frau.« Aber Uilenspiegel antwortete nichts.

»Du Holzmensch,« sagte Lamme, »du Steinherz, vermag dich denn gar nichts zu rühren, nicht die unmittelbare Nähe der Orte, wo du deine Kindheit verbracht hast, nicht die teuern Schatten des armen Klaas und der armen Soetkin, der zwei Märtyrer. Wie? Du bist nicht traurig, nicht lustig; was hat denn dein Herz so vertrocknet? Sieh mich, wie es mich vor Bangigkeit und Unruhe in meinem Wanste schüttelt; sieh mich . . .« Lamme betrachtete Uilenspiegel und sah, daß sein Haupt bleich und gesenkt war, daß seine Lippen zitterten und daß er lautlos weinte. Und er schwieg.

Sie wanderten, ohne ein Wort zu sprechen, bis nach Damme und betraten die Stadt durch die Reigerstraat. Sie sahen niemand, wegen der Hitze; die Hunde gähnten, mit heraushängender Zunge und auf der Seite liegend, auf den Türschwellen. Lamme und Uilenspiegel gingen geradeswegs zum Stadthaus, vor dem Klaas verbrannt worden war; die Lippen Uilenspiegels zitterten noch mehr, und seine Tränen versiegten. Als sie vor dem Hause Klaasens waren, das nun ein Kohlenhändler bewohnte, sagte er zu diesem, indem er eintrat: »Kennst du mich? Ich möchte hier ausruhn.«

Der Kohlenhändler sagte: »Ich kenne dich: du bist der Sohn des Opfers. Geh, wohin du willst in diesem Hause.« Uilenspiegel ging in die Küche, dann in das Zimmer Klaasens und Soetkins, und dort weinte er.

Als er herunterkam, sagte der Kohlenhändler zu ihm: »Hier ist Brot, Käse und Bier. Wenn du Hunger hast, so iß; wenn du Durst hast, so trink.« Uilenspiegel deutete mit der Hand, daß er nicht Hunger und nicht Durst habe.

So zog er weiter mit Lamme, der rittlings auf seinem Esel saß; Uilenspiegel führte den seinigen an der Halfter.

Sie kamen zur Hütte Katelijnens, banden ihre Esel an und traten ein. Es war die Zeit des Mahles. Auf dem Tische waren Fisolenschoten, gemischt mit großen weißen Bohnen. Katelijne aß; Nele stand neben ihr und schickte sich an, auf Katelijnens Teller eine Essigtunke zu gießen, die sie eben vom Feuer genommen hatte. Als Uilenspiegel eintrat, verlor sie so die Fassung, daß sie den Topf samt der Tunke in Katelijnens Teller fallen ließ; die machte sich, den Kopf schüttelnd, daran, die Bohnen rund um den Tunkentopf mit dem Löffel aufzulesen, und sagte, sich vor die Stirne schlagend, in ihrer Verrücktheit: »Nehmt das Feuer weg! Der Kopf brennt!«

Der Geruch des Essigs machte Lamme hungrig.

Uilenspiegel stand ruhig da und sah Nele an, vor Liebe lächelnd in seiner großen Traurigkeit. Und Nele schlang ihm, ohne ein Wort zu sagen, ihre Arme um den Hals. Auch sie schien verrückt: sie weinte und lachte und sagte, ganz rot vor der großen, süßen Wonne, nur: »Thijl! Thijl!« Uilenspiegel betrachtete sie voll Seligkeit. Dann ließ sie ihn, trat ein paar Schritte zurück, sah ihn glücklich an und warf sich von neuem an seine Brust, die Arme um seinen Hals schlingend; und so noch öfter. Er hielt sie selig fest und wollte sie nicht loslassen, bis sie endlich, erschöpft und wie von Sinnen, auf einen Stuhl sank; und sie sagte, ohne sich zu schämen: »Thijl! Thijl! Mein Geliebter! Endlich bist du wieder da!«

Lamme stand bei der Tür; als sich Nele beruhigt hatte, sagte sie, auf ihn weisend: »Wo habe ich diesen dicken Mann schon gesehn?«

»Er ist mein Freund,« sagte Uilenspiegel. »Er sucht seine Frau als mein Gesell.«

»Jetzt kenne ich dich,« sagte Nele zu Lamme; »du hast in der Reigerstraat gewohnt. Du suchst deine Frau; ich habe sie in Brügge gesehn, wo sie in aller Frömmigkeit und Gottesfurcht gelebt hat. Als ich sie gefragt habe, warum sie ihrem Manne so grausam entflohen sei, hat sie mir geantwortet: ›Das war der heilige Wille Gottes und der Befehl der heiligen Buße; aber ich darf fortan nicht mit ihm leben.‹«

Daraufhin wurde Lamme traurig und betrachtete die Essigbohnen. Und die Lerchen erhoben sich trillernd in den Himmel, und die erschlaffte Natur ließ sich vom Sonnenstrahle liebkosen. Und Katelijne löffelte rund um den Topf die weißen Bohnen, die grünen Schoten und die Tunke auf.


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