Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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1. September.

Seit zwei Wochen sind wir wieder in Berlin. Die Kur in Wiesbaden ist meinem Grafen sehr gut bekommen, er ist wieder ganz flink auf den Beinen, aber mein Husten hat sich immer noch nicht gebessert. Der Wiesbadener Arzt riet mir, noch ein paar Wochen nach Schlangenbad zu gehen, und der Graf bestand darauf, daß ich es tat. Ein scheußlich langweiliges Nest, dieses Schlangenbad. Ich nehm' auf Anraten des Arztes täglich in der Mittagsstunde Sonnenbäder. Ich glaube, ich bin total blutarm. Das ist meine Hauptkrankheit. Da in Schl. traf ich endlich einmal Bekannte von früher, nämlich die Amma aus Hannover. Sie ist jetzt in Leipzig und verdient, wie sie sagt, kolossal viel Geld, hatte dieses Frühjahr aber das Pech, einen Hautausschlag zu bekommen. Nun ist sie schon überall herum bei den berühmtesten Spezialitäten, und es ist auch ziemlich wieder gut, im Gesicht wenigstens ist sie wieder ganz glatt, und sie nimmt Schlangenbad als Nachkur, da es sehr gut für den Teint sein soll. Ihre Wirtin war mit ihr dort. Von Amma erfuhr ich, daß die Kindermann in Leipzig-Gohlis als Rentiere lebt und Heiraten vermittelt. Auf ihre alten Tage ist sie solide geworden und wirbt für Hymen. Ich möchte sie wohl mal wiedersehen und habe ernstlich vor, noch diesen Monat, wo ich Emmy besuchen will, auch einen Abstecher nach Leipzig zu machen. Die Amma ist noch die alte, womöglich noch hagerer als früher. Ich verstehe wirklich nicht, daß die noch immer zahlungsfähige Kunden findet; ihr Gesicht hat einen recht gemeinen Ausdruck, man sieht sofort, was sie ist, trotz ihrer großen und tatsächlich geschmackvollen Toilette. Die Wirtin war auch ein fürchterlich gemeines Weib. Die ist jahrelang in Leipzig im »Grünen Affen« gewesen; ist später kreuz und quer durch ganz Europa herumgerutscht und schließlich wieder in Leipzig gelandet. 284 Die Sächsinnen scheinen alle von einem großen Patriotismus erfüllt, denn es zieht sie immer wieder nach ihrem geliebten Sachsen zurück, trotz der rigorosen Sittenpolizei ihres Vaterlandes. Ich komme nicht mehr richtig ins Fahrwasser mit meinen früheren Kolleginnen. Ich bin weit entfernt, mich über sie erheben zu wollen, aber die zotigen Redensarten und überhaupt die ungenierten Erörterungen dieser Cochonnerien ekeln mich direkt an und stoßen mich ab. Ich weiß wohl, wenn man dazwischen ist, ist man abgestumpft, es ist dann gerade so, als wenn man eine Kokaineinspritzung vom Arzt an irgendeiner Körperstelle bekommen hat, die die betreffende Stelle unempfindlich macht; man denkt gar nicht mehr daran, daß die geschlechtlichen Verhältnisse eigentlich Punkte sind, über die zu sprechen im gewöhnlichen, bürgerlichen und gesellschaftlichen Leben verpönt ist. Aber jetzt kann ich es nicht mehr, und ich würde auch ein solches Leben nicht mehr ertragen können, sondern mich lieber aufhängen.

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