Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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18. Juni 1894.

Wir hatten gestern Hochzeit. Ach du liebes Herrgöttchen! Was für eine Hochzeit! Der Standesbeamte soll nur immer den Kopf geschüttelt haben, als er den »Bräutigam« ansah. Der Kerl kann kaum noch aufrecht stehen. Total schwindsüchtig. Er schlenkert nur so hin, die Handgelenke sind dünn wie Federhalter und auf dem ganzen Knochengerüst kein Lot Fleisch. Während des standesamtlichen Aktes hat er einen Hustenanfall gekriegt und Blut gebrochen, und der Beamte hat die Menge gefragt ob sie nicht lieber verzichten wollte, es sei ja der 164 reine Hohn. – – Als sie nach Hause kamen, mußte der junge Ehemann gleich ins Bett und wir feierten allein Hochzeit, zwanzig Personen, bis heute früh zwei Uhr, und es war so lustig, daß die Aufwärterin das Zimmer nachher mit dem verschütteten Sekt hat aufnehmen können und gar kein Wasser brauchte.

Ich habe endlich meinen Schwarzen gefunden und ihn festgehalten. In der Bellevuestraße begegnete ich ihm und ging auf ihn zu und entschuldigte mich wegen meiner neulichen Grobheit. Er lächelte und schüttelte den Kopf: »Das hab ich Ihnen nicht übel genommen, liebes Fräulein –« und wir gingen wieder zusammen in den Tiergarten und unterhielten uns wie ein Herr und eine Dame von allerhand Dingen, die sonst von Mädchen meiner Sorte in der Unterhaltung mit Männern nicht berührt werden; auch kein Interesse für sie haben, und ich merkte instinktiv zu meiner Befriedigung, daß sein Interesse für mich von Minute zu Minute stieg. Wir setzten uns auf eine Bank im Tiergarten und plauderten weiter, und ich erzählte ihm allerhand Details und Episoden aus meinem gegenwärtigen Leben, und dann erzählte er von sich. Er ist Arzt und hat eine sehr große Praxis und ist glücklich verheiratet und hat vier gesunde, gut geratene Kinder, zwei Mädel und zwei Jungen, aber er ist nervös infolge von Überarbeitung. Und er sagt, er brauche zuweilen Ausspannung und Zerstreuung und Ablenkung, und er suchte schon lange nach einer passenden Bekanntschaft, ob ich es ihm gestattete, mich in den Nachmittagsstunden von 6–8 Uhr dann und wann zu besuchen. Ich gab ihm meine Karte und am andern Tag kam er. Ich habe noch nie einem Besuch mit solcher Ungeduld entgegengesehen, und mich so auf einen Besucher gefreut, wie auf diesen. Wie er bei mir war, habe ich erst gemerkt, daß ich in den Mann tatsächlich verliebt bin. Wie er mir Geld geben wollte, hab' ich es zurückgewiesen 165 und auf einmal hab' ich ihn mit beiden Armen umschlungen und ihn vor lauter Liebe direkt in den Hals gebissen und ihn gebeten, mich ganz für sich zu nehmen, ich will auch nur ganz allein für ihn da sein. Und er zog mich mit auf den Diwan und strich mir mit einer ganz zarten, leisen Handbewegung das Haar aus der Stirn und sagte mir, daß er, ohne seine Familie zu schädigen, mir nicht mehr als monatlich zweihundertfünfzig Mark geben kann, wenn ich damit auskäme, sei er einverstanden. Und sagte mir auch, daß seine Frau im letzten Wochenbett vorigen Herbst so furchtbar gelitten habe und sie geschont werden müsse, und sie eigentlich jetzt nur als Geschwister zusammen lebten, und es könnten ein paar Jahre vergehen, bis sie so weit gekräftigt sei, daß er sie wieder als seine Frau betrachten und mit ihr verkehren könnte. Da wußte ich ja auch direkt, daß ich nur Notbehelf bin und der Doktor W . . . in mir nichts anderes sieht, als die anderen Männer, und das war mir im Moment so furchtbar bitter, daß ich nahezu wieder grob geworden wäre, aber ich beherrschte mich, und er versprach mir, mich bald wieder zu besuchen. Als er ging, betrachtete er die Bücher auf meinem Schreibtisch und wunderte sich, daß dort Werke von Storm und Fontane und Keller lagen. »Lesen Sie die, oder ist das nur Dekor?« sagte er. »Ich lese sie,« sagte ich. »Sind Ihnen die nicht zu langweilig? Finden Sie nicht mehr Geschmack an spannenden Romanen?« »Romane hab' ich selbst genug,« sagte ich. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Daß Sie kein alltägliches Mädchen sind, hab' ich gleich gemerkt. Aber ich glaub', in Ihnen steckt noch mehr, als man vermutet.« »Ach, Quatsch,« sagte ich, und dann ging er. Nachher überlegte ich mir das mit den zweihundertfünfzig Mark, ach, es wäre ja zu herrlich, aber es geht nicht, ich komme damit nicht aus, zumal nicht, wo ich Casimir jetzt auf dem Halse hab'. Denn wo ich ihn 166 einmal hier herübergelotst hab', ist es nicht mehr als anständig, daß ich auch für ihn sorge. Denn daß er sich selbst ernähren kann, ist tatsächlich ausgeschlossen. Das Scheußlichste ist, daß er in letzter Zeit anfängt, sich zu besaufen. Zum Glück ist er in besoffenem Zustand nicht rabiat, sondern schlapp wie ein nasses Tuch. Neulich bremste ich ihm ein paar gehörige Ohrfeigen an den Kopf, als er mir so nach Haus kam, da fing er an zu flennen, wie ein kleines Kind, mir wurde ordentlich übel, so ekelte ich mich, aber ich mußte auch wieder lachen. Ich halte ihn knapp genug mit Taschengeld, aber wenn ich ihm eine Mark und fünfzig abends für Essen und Bier gebe, ißt er womöglich nichts und versauft alles. Richtig gesund ist er auch nicht, dem großen Körper fehlt die entsprechende Kraft, er hat nur Knochen und Fett, kein Fleisch, keine Muskeln.

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