Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10 Ja, es war eine tolle Nacht und ist mir noch so im Gedächtnis, als ob es gestern erst gewesen sei, obgleich schon vier Jahre seitdem verflossen sind.

Im Mai kam Mutter aus Davos zurück. Eine Krankenschwester brachte sie nach Hause und blieb auch bei ihr. Sie war sehr krank, ging nur vom Bett auf die Chaiselongue und von der Chaiselongue ins Bett. Es war plötzlich im Hause so still wie in der Kirche. Ich mußte mich zuweilen auf einen Schemel neben sie setzen, und dann strich sie mit der schmalen kleinen mageren Hand über mein Haar und sagte: »Meine süße kleine Thymi, meine arme kleine Deern, was soll aus dir werden! Wenn ich dich doch wenigstens hätte großziehen dürfen.« Ich wußte nicht recht, was ich dazu sagen sollte. Mir war sehr beklommen und traurig zumute.

Eines Nachts wurde ich geweckt. Als ich die Augen aufmachte, stand die Krankenschwester vor meinem Bett.

»Zieh dich an, kleine Thymian, und komm mit herüber,« sagte sie. »Deine liebe Mutter will in den Himmel gehen und möchte dir gern Adieu sagen.« Ich fing laut an zu weinen, aber die Schwester sagte, ich dürfe nicht weinen und der lieben Mutter den Abschied schwer machen; denn für sie sei es eine große Gnade und Freude, daß sie nach langem Leiden nun in das schöne Paradies dürfe. Da hielt ich das Schluchzen zurück, denn ich hatte riesig viel Respekt vor der Schwester.

In Mutters Schlafzimmer waren Tante Frieda und der Pastor, und auf dem Tisch neben dem Bett brannten Wachskerzen, denn Mutter hatte in der Nacht das Abendmahl bekommen. Vater war nebenan im Wohnzimmer. Man sah Mutter kaum im Bett, so weiß und klein war ihr Gesicht. Mir war sehr bange. Sie röchelte so entsetzlich.

Als sie mich sah, wurde sie sehr unruhig. Sie griff mit beiden Händen nach mir und ich mußte mich über sie 11 neigen und sie auf beide Wangen küssen und sie hielt mein Angesicht mit ihren feuchten, kalten Händen fest und seufzte immerzu und sprach, aber ich konnte nicht richtig verstehen, was sie sagte. Ich glaube, sie sagte, daß sie mich so furchtbar gern mitnehmen möchte. Und dann küßte sie mich wieder und schrie auf und röchelte so jämmerlich, es war geradezu entsetzlich. Der Pastor sagte: »Wir wollen Ihr Kind der Treue unseres Heilands empfehlen, liebe Frau Gotteball. Wir wollen beten.« Aber Mutter hörte nicht, sie weinte so furchtbar und ich auch. Da hörte ich, wie die Schwester leise zum Pastor sagte: »Das Kind muß hinaus. Es ist eine Quälerei für die arme Frau, sie kommt nicht eher zur Ruhe.« – Und dann küßte Mutter mich noch 'mal und dann kam wieder ein Anfall, und da nahm Schwester Anna mich an der Hand und führte mich hinaus. Ich konnte lange nicht wieder einschlafen, aber schließlich schlief ich doch ein. Am andern Morgen kam die Schwester wieder zu mir und sagte, daß Mutter in der Nacht zum lieben Gott gegangen sei.

Das war am Dienstag, und am Sonntag wurde Mutter begraben. Es waren gräßliche Tage. Mutter lag in der besten Stube. Mich graulte vor ihr, wie sie so steif und eiskalt dalag, und es zog mich auch wieder zu ihr hin. Am Sonntag war sehr schönes Wetter. Als ich gleich nach Mittag vor der Tür stand, kamen Fite Raasch und Lide Peters und fragten, ob ich nicht ein bißchen mit ihnen Marmel spielen wollte, nur ein Pott, und das tat ich denn. Wir gingen unter die Linden, gerade vor unserm Haus, und ich gewann Fite Raasch im Handumdrehen zwanzig Marmeln ab. Wie ich sie einraffen wollte, nahm er mir zwei weg und lief davon. Ich ihm nach, Lide auch, und plötzlich, ich weiß nicht, wie es kam, spielten wir Greif und schrien und lachten laut, und ich hatte im Augenblick alle Traurigkeit vergessen und würde auch 12 erst noch nicht daran gedacht haben, wenn Tante Frieda nicht plötzlich gekommen wäre. Sie hat wirklich ein Talent, immer gerade dann wie ein deus ex machina vor einem aufzusteigen, wenn man sie am wenigsten gern haben möchte.

»Thymian!« rief sie entrüstet, »Mädchen, bist du denn so gottvergessen herzlos, daß du dich nicht mal heute ruhig verhalten kannst, am Begräbnistag deiner Mutter?«

Da fing ich bitterlich an zu weinen, denn ich sah ein, daß ich wirklich sehr schlecht gewesen war. Tante Frieda streichelte mir die Wangen und seufzte.

»Armer lüttjer Stackel! Du ahnst in deiner Dummheit nicht, was sie dir heute hinaustragen,« sagte sie und dabei liefen ihr die hellen Tränen aus den Augen.

Um vier Uhr brachten wir Mutter nach dem Kirchhof. Der Pastor wandte sich in seiner Rede auch an mich und ermahnte mich, immer gut zu bleiben und es nie zu vergessen, daß Mutters letzter Gedanke ein Gebet für mich gewesen sei. Viel hörte ich nicht, mir wurde auf einmal ganz schwarz vor den Augen und dann weiß ich nichts mehr, als daß ich erst im Wagen wieder zu mir kam. Ich war nämlich auf dem Kirchhof ohnmächtig geworden. –

Die erste Zeit nach Mutters Beerdigung war sehr traurig. Das Haus kam mir so furchtbar groß vor, es war mir, als sei ein Loch im Hause, es war doch ganz anders als damals, wie Mutter in Davos war. Oft ging ich heimlich nach dem Kirchhof und setzte mich auf Mutters Grabhügel. Auf den weißen verwurstelten Kranzschleifen stand »Auf Wiedersehen« gedruckt. – Der Pastor sagt ja auch immer, daß man sich im Himmel mal wiedersieht, aber ich konnte mir damals gar nicht vorstellen, daß man jemand, der da tief in der schwarzen, klebrigen Erde eingescharrt ist, noch mal wiedersehen kann. – So vieles, an das ich vor Mutters Tod gar nicht 13 gedacht hatte, fiel mir wieder ein. Wie oft sie mich früher auf den Schoß genommen und lieb gehalten hatte. Eine große Sehnsucht nach ihren Küssen überkam mich. Ich fühlte mich so sehr einsam und verlassen mit einemmal.

Am Abend war es schön auf dem Kirchhof. Die Linden blühten, und die Narzissen dufteten. Wenn ich die Augen zumachte, träumte mir, daß Mutter in einem weißen Kleid an mich heranschwebte und mich küßte. Manchmal sah ich sie so deutlich, daß ich die Arme ausstreckte, um sie festzuhalten.

Einmal holte Vater mich um 10 Uhr abends vom Kirchhof. Er war sehr bestürzt, schien mir.

»Aber Thymi, mein kleiner Engel, das ahnte ich ja gar nicht, daß du dich hier auf dem Kirchhof umhertreibst und dich grämst,« sagte er. »Tante Frieda verriet es mir heute. Das darfst du nicht, mein Liebling. Du mußt dich jetzt beruhigen. Wir müssen ja alle mal sterben, aber bis es soweit ist, müssen wir das schöne Leben genießen. Ich nehme dich zum Herbst mit nach Hamburg zum Zirkus Renz und kauf dir eine Puppe, so groß wie ein Kind. Versprich mir, daß du nicht wieder heimlich nach dem Kirchhof gehst.«

Ich versprach es und ging vorläufig auch nicht wieder hin. Dann kam allmählich alles ins alte Gleis . . . Tante Frieda inspizierte alle Naselang unser Haus und schimpfte und kalfaktorte und giftete sich – wie gewöhnlich. Sie hätte gern gesehen, wenn Vater eine ältere Dame als Respektsperson ins Haus genommen hätte. Vater wollte aber nicht, er sagte, Mutters lange Krankheit hätte so viel gekostet, und er müsse erst mal wieder zu Atem kommen. Wir wurden auch sehr gut mit unseren zwei Mädchen fertig. Die Köchin war auch schon eine ältere Person und schon sieben Jahre bei uns. Als Stubenmädchen hatten wir damals Lene Hannemann, eine Tochter vom Fischer Hannemann aus der 14 Wiedemanngasse. Lene war erst siebzehn Jahre und ein sehr nettes, hübsches Mädchen. Sie konnte so schön mit mir spielen. Leider kam sie im September mit einem großen Krach weg. Weshalb, weiß ich nicht, es würde mich auch weiter nicht interessiert haben, wenn sich nicht unmittelbar daran für mich ein Ereignis geknüpft hätte.

Also eines Tages erschien Frau Hannemann bei uns, machte einen Höllenlärm und schrie, Lene soll sofort ihre Sachen packen und mitkommen. Auf der Hinterdiele lief Vater ihr in den Weg, und da stellte sie ihn und schimpfte greulich und fuchtelte ihm immer mit der eisernen Fischwage vor den Augen, daß ich heil bange war, sie könnt' ihn hauen. Sie sprach so rasch, daß ich nur ein paar Worte verstand, und die waren nicht die feinsten. Vater rief, sie solle sich zum Teufel scheren, aber sie spektakelte fort und lief in die Küche und brüllte laut: »So'n verfluchten Kirl! Sin Stackels Fru is noch nich richtig kold in de Grund, un nu will so'n Beest all son junge Deern angahn. – Man schull det Aas verraftig bi de Been in 'ne Rökerkammer uphangen.« Mir war richtig unheimlich, ich dachte, Frau Hannemann war verrückt geworden; ich war froh, als sie mit Lene aus dem Hause war.

Zwei Tage danach, wie ich aus der Schule kam, saß die halbe Verwandtschaftsklerisei um den runden Tisch im Wohnzimmer und trank Kaffee. Onkel Henning und Tante Wiebke, Lehnsmann Pohns und Tante Frauke und natürlich die unvermeidliche Tante Frieda. Vater sah sehr rot und alteriert aus.

»Ja, nun komm man her, Thymi,« sagt er, »hier ist großer Familienrat deinetwegen abgehalten. Die Tanten und Onkeln meinen partout, du müßtest nach T . . . . . in Pension. Was meinst du dazu? Willst du das?«

»Thymi hat gar nichts zu meinen und zu wollen, 15 sondern nur zu sollen und zu gehorchen, und als ordentliches Kind das zu tun, was wir Erwachsene zu ihrem Besten anordnen,« sagte Tante Frieda mit ihrer harten, spitzen Stimme.

»Du altes Aas,« dachte ich bei mir, sagte aber natürlich nichts.

»Jawoll, jawoll, nur zu gehorchen,« päppelte Onkel Henning nach, und die Tanten nickten dazu wie porzellanene Pagoden . . .

Ich merkte wohl, Vater war es lange nicht recht, aber er ist viel zu gut, und er kann nicht gegen Tante Frieda mit ihrem Maulwerk an. So wurde denn beschlossen, daß ich am 1. Oktober nach T . . . . . sollte. Als die Sippschaft fort war, tröstete Vater mich und sagte, er tät mich doch bald wieder heim holen und er würde mich jeden Monat einmal besuchen und mir jedesmal etwas Schönes mitbringen.

Vater hat mich sehr lieb.

* * *


 << zurück weiter >>