Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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10. Februar.

Ich habe einmal Pech. Wenn ich einmal denke, nun bin ich ungefähr da, wo ich hinwollte, flugs kommt ein neues Mißgeschick und setzt mich zurück. Der Casimir wurde vor vierzehn Tagen auf einmal so furchtbar krank, zuerst schwoll die Oberlippe, dann das ganze Gesicht, er sah entsetzlich aus und konnte sich vor keinem Menschen sehen lassen, wir mußten den Arzt rufen lassen, und als der ihn untersuchte, kam die Bescherung an den Tag: hat der Kerl sich eine schlechte Krankheit geholt. Fürchterlich. Bei der Quecksilbereinspritzung hat der Spezialist, der ihn behandelte, die Nadel abgebrochen, er schrie und schluchzte die ganze Nacht vor Schmerzen. Wir leben nun ganz getrennt, er schläft in der Mädchenkammer, und das Mädchen schläft bei mir im Zimmer, da ich mich so sehr vor Ansteckung fürchte. Mein Doktor sagt, er glaubt nicht, daß er es mit seinem Herzfehler und seiner 185 schwächlichen Konstitution lange macht. Die Welt ist gewiß groß genug, daß wir alle darauf Platz haben, und ich gönne gewiß jedem sein bißchen Leben, aber um Casimir wär' es nicht schade, wenn er heimginge. Ich hab' nun auch immer den Zulauf von seinen Konsorten auf der Tür, die ihn besuchen. Ich möchte nur wissen, welche Rolle er zwischen ihnen spielt, da er doch faktisch mit seinen verkrüppelten Sinnen zu nichts zu gebrauchen ist. Ich fürchte beinahe, sie gebrauchen ihn zu allerhand Zwecken, für die andere nicht zu haben sind. Mir soll es egal sein. Wenn ich das Geld hätte, tät ich ihn in ein Sanatorium, es ist eine furchtbare Last, die ich mir mit ihm auf den Hals geladen habe.

Die Sorgen verlassen mich nicht. Meine jetzigen Mieter essen alle außerhalb, und wenn sie mal eine Mahlzeit im Hause einnehmen, bezahlen sie so wenig dafür, daß man keine Seide damit spinnt. Ich verdiene mit den Mietern nicht viel mehr als die Abzahlungsraten für die Möbel betragen. Ich nehme auch ungern vom Doktor die volle Miete an, er hat schon ohnehin mehr für mich getan, als er eigentlich kann. Aber man will doch leben. Es ist schrecklich niederdrückend, sich immer mit den gleichen Sorgen morgens erheben und mit derselben Last abends sich niederlegen. Bald habe ich nichts mehr anzuziehen, ich bin es gar nicht mehr gewohnt, billige Sachen zu tragen. Zwei Sprachschüler habe ich, einen jungen Volontär und einen Studenten; die Stunde eine Mark, bringt auch nichts. Zuweilen denke ich: Ach was, Thymian, sei nicht dämlich. Ist doch alles eins. Für ein hübsches, gut gewachsenes, intelligentes Weib liegen die blauen Zettel immer noch auf der Straße. Einmal ist keinmal. Die Augen zu und die Zähne zusammengebissen und flugs sind ein paar Scheine verdient:, damit reicht man denn schon eine Weile. Ich will nicht wieder in das schreckliche Leben zurück, aber 186 die Versuchung, mir ein bißchen das Leben leichter zu machen und einen Teil der ekelhaften Existenzsorgen abzuschütteln, ist stark.

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