Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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2. März 98.

Ich war sehr krank. Anfang Februar fing es an. Husten, Schnupfen, Bruststechen, hohes Fieber. Ich schickte zu Julius, der natürlich auch gleich kam, und eine Rippenfellentzündung konstatierte. Ich muß mir die Erkältung bei einer Automobilfahrt nach Potsdam, die ich 222 mit dem Grafen machte, geholt haben. Es zog furchtbar, und ich war verhältnismäßig zu leicht gekleidet. Ich kann ja gar nichts vertragen. Julius kam zweimal tags zu mir, morgens und abends, und blieb jedesmal über eine Stunde, und seine Nähe tröstete und beruhigte mich. Und eines Nachts, als ich erwachte, saß er auch an meinem Bett, das Mädchen hatte ihn geholt, weil ich so raste und sie sich fürchtete. Aber als ich zu mir kam, hatte das Fieber nachgelassen, und ich war nur matt und doch glücklich, daß er da war. Und ich bat ihn, doch da zu bleiben und wieder gut zu mir zu sein, wie früher, weil ich mich krank sehne nach seiner Liebe.

»Was habe ich dir getan, daß du mich schlecht behandelst?« sagte ich. Er schüttelte den Kopf und erwiderte leise: »Es fällt mir gar nicht ein, dich schlecht zu behandeln, Thymian. Im Gegenteil! Ich habe von Anfang unserer Bekanntschaft an ein großes Interesse für dich gehabt, und meine Sympathie für dich streifte schon nahe die Grenze einer tieferen Leidenschaft, und hätte vielleicht eine solche gezeitigt, wenn nicht das Pflichtbewußtsein meiner Familie gegenüber mich wachsam erhalten hätte.«

»Du verachtest mich, Julius,« sagte ich.

»Nein doch, ich verachte dich nicht, wenn ich auch größere Hoffnung in deine Standhaftigkeit gesetzt hatte. Ich weiß ja, mit wie großen Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten du zu kämpfen hattest, aber es hätte sich doch schließlich eine andere Existenz finden lassen, zumal nach deines Mannes Tode. Ich mache dir auch keine Vorwürfe deswegen, im allgemeinen mag es ja furchtbar schwer sein, jemand aus dieser Tiefe wieder zu einer soliden Existenz zu führen und ihn dauernd darin zu erhalten. Ich betone nur immer wieder, ich konnte und kann es nicht fassen, wie eine Frau von deinen geistigen und seelischen Qualitäten es in diesem Sumpf 223 aushielt und wieder dahin zurückkehren mochte. Aber jetzt ist ja alles geordnet. Ich glaube, daß hundert und tausend »solide« Frauen ohne Vergangenheit der Versuchung, die mit dem Grafen an dich herantrat, auch erlegen wären. Für dich ist es entschieden das beste. Ich weiß auch nicht, was du dir besseres wünschen kannst. Dein alter Freund ist vornehm und reich, und legt dir alles, was du dir wünschst, zu Füßen. Du hast alles, was sich tausend andere Frauen vergeblich ersehnen, im Überfluß, hast keine Sorgen, bist von Behagen und Luxus umgeben und kannst deine Zeit nach Belieben ausfüllen. Siehst du nicht selber ein, daß du deine gute, sorgenfreie Existenz aufs Spiel setzen würdest, wenn du wieder ein Verhältnis mit einem andern Mann hinter dem Rücken des Grafen anbandelst? – –«

Ich schlang die Arme um den Kopf und sah mit tränenschweren Augen zur Decke hinauf. »Ganz recht,« sagte ich bitter, »so eine Dirne ist ja nichts weiter als eine pappschachtelne Attrappe, angefüllt mit Lüsternheit, Geldgier und Gemeinheit. Eine Seele und ein sehnsüchtiges Herz sind nur Privilegien der Ehrbaren, Anständigen . . .«

»Nein, nein, aber nein!« sagte er wieder und setzte sich vom Stuhl auf mein Bett und zog meinen rechten Arm herab und ergriff meine Hand, »so war es nicht gemeint, Thymian. Du hast ein Herz und hast eine Seele. Wenn ich dich für eine »Dirne« im gewöhnlichen Sinne hielte, würde ich mir vielleicht kein Gewissen daraus machen, die Kirschen aus des Nachbars Garten zu pflücken . . .«

»Nein,« sagte ich wieder, »das ist kein richtiger Vergleich. Um Kirschen in Nachbars Garten zu pflücken, mußt du die Mauer übersteigen, die Recht und Gesetz um das private Eigentum zogen. Wenn aber ein Kirschbaum auf freiem Felde steht, gibt die Tatsache, daß ein einziger ihn pflegt und umgräbt, dem Betreffenden noch 224 lange kein alleiniges Eigentumsrecht an den Früchten, die der Baum des Feldes bietet . . .«

»Du bist klug, sehr klug, Thymian,« sagte Julius – »aber gerade weil du so klug bist, mußt du doch einsehen, daß bei einem Vertrag jeder Kontrahent von dem anderen Innehaltung der vereinbarten Verpflichtung verlangen kann. Der Graf sichert deine Existenz, du gelobst ihm dafür Treue.«

Ich seufzte nur. Und er fuhr mit seiner weichen, angenehmen Stimme fort: »Ach, liebe Thymian, das Leben ist so kurz. Kein Mensch weiß, wie lange oder wie kurz die Strecke ist, die die Parzen ihm noch zugemessen haben. Die Philosophie aller Philosophien klingt doch darin aus, daß man das Glück und die innere Zufriedenheit mehr in abstrakten als in konkreten Dingen suchen muß. Du weißt, was ich meine – –«

Ich nickte. Mein Kopf war so matt und leer, und darum erfaßte ich jedes Wort und hielt es fest, und vor allem erfaßte ich seine Andeutung von dem kurzen Leben.

»Nicht wahr, ich lebe nicht mehr lange?« sagte ich. »Ich bin lungenkrank, nicht wahr? Es wundert mich nicht, denn es ist in unserer Familie. Meine Mutter und ihre zwei Schwestern sind daran zugrunde gegangen.«

Er schüttelte den Kopf. »Gott bewahre. Denk ja gar nicht daran. Deine Lunge ist etwas angegriffen, und bei einem wilden Leben wie früher würde ich für nichts einstehen. Bei solider Lebensführung kannst du damit hundert Jahre alt werden.«

»Davor behüte mich Gott,« sagte ich. »Wenn ich nichts mehr vom Leben erlangen kann, als Essen und Trinken und Kleider, bedanke ich mich. Dann sei barmherzig und gib mir eine Morphiumeinspritzung, aber eine kräftige, die für den langen Schlaf bis zum jüngsten Gericht vorhält. Ich mag nicht mehr. Nein, ich mag nicht mehr.« Ich konnte nicht mehr sprechen, denn 225 ich war zu matt, um mich zu beherrschen, und weinte laut. Der Doktor aber beugte sich zu mir nieder und sagte innig:

»Arme kleine Thymian. Arme kleine Frau,« und er ließ es geschehen, daß ich ihn umarmte und küßte, und sagte, daß er mein Freund bleiben werde und daß ich mich immer auf ihn verlassen könne. – Und seitdem ist es wieder wie früher mit uns. –

Er kommt jeden Tag zu mir, und der Graf findet nichts darin, weil er doch mein Arzt ist. Und ich soll, sobald ich wieder kräftiger bin, nach dem Süden, wogegen ich mich wehre, weil ich jetzt wieder so glücklich bin. Aber Julius will es durchaus, weil das Klima hier zu rauh für mich ist, und der Graf, der selbst nicht mitreisen kann, hat eine ältere Dame engagiert, die mich begleiten soll. Er tut ja alles mögliche für mich, und ich bin ihm von Herzen dankbar und möchte ihm alles Liebe erzeigen können. Aber Julius aufgeben kann ich nicht, nein, ich kann es nicht.

* * *


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