Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Ich dachte erst, ich würde gar nichts zu schreiben haben, aber nun ich einmal im Gang bin, sehe ich, daß ich doch eine Menge erzählen kann. Wenn ich alles, was ich in T . . . . . erlebte, niederschreiben wollte, würde ich ja das halbe Buch ausfüllen. Ich werde mich deshalb nur an die Hauptsachen halten.

Zuerst kam ich zum Pastor Flau. Da waren noch zwei Schulmädchen mehr in Pension. Die Lebensführung im pastorlichen Haushalt machte seinem Namen alle Ehre: sie war mehr als flau. Frau Pastorin hatte fünf kleine Kinder und kein Dienstmädchen, dafür aber drei Haushaltselevinnen, die jede 350 Mark zubezahlten. Diese drei Mädel hatten jede ihre bestimmte Arbeit oder »Woche«, wie sie sagten. Eine besorgte die Küche, eine machte die Zimmer, eine hatte die Kinderstube zu 16 beaufsichtigen. Jede Woche wechselten sie ihre Beschäftigung ab. Wenn dann das Jahr um war, hatten sie alles gelernt: Kochen, Haushalt, Kinderhüten, und der Frau Pastorn war ihre Arbeit umsonst getan und verdiente sie ausgerechnet noch 1000 Mark dazu. Sie selbst, die Frau Pastorn, schrieb in ihrer freien Zeit Romane. Sie sagte, es sei der schönste Traum ihres Lebens, mal in der Gartenlaube herauszukommen.

Es gab die ganze Woche mittags Gehacktes, Sonntags Braten, Montags Frikandellen, Dienstags Klopse, Mittwochs falscher Hase, Donnerstags aufgebratene Scheiben vom falschen Hasen, Freitags Haschee, Sonnabends Ragout von Suppenfleisch oder, wenn es gut ging, gefüllten Sellerie oder verlorene Vögel, nämlich Gehacktes in Kohlblätter gewickelt und gebraten. Einmal, als der Generalsuperintendent zu Tisch da war, gab es Frikandellen als Zwischengang. Und der alte Herr lobte diese Frikandellen über alle Maßen und bat sich das Rezept aus. Na – wir dachten unser Teil. Uns wurde schlimm, wenn wir sie sahen. Vater kam jeden ersten Sonntag im Monat und brachte mir viel Schokolade mit. Und fast jedesmal bekam ich ein Zehnmarkstück als Taschengeld. Da aß ich mich in der Konditorei an Crêmeschnittchen satt, wenn ich mittags hungrig vom Tisch aufstand. Zuweilen besuchte Meinert mich auch. Nach einem Jahr wurden Flaus versetzt. Ich kam dann zu zwei alten Fräuleins, die Pensionärinnen hielten. Im ganzen waren wir sieben Mädchen da. Die andern waren Nordmarscher Hofbesitzertöchter, wir waren fast alle ungefähr gleich alt und gingen natürlich alle in Fräulein Lundbergs höhere Töchterschule. Insofern war es in der neuen Pension netter, als die Kost dort besser war und nebenan ein Gymnasialprofessor wohnte, der auch Pensionäre hielt und zwar Knaben, wodurch wir etwas Unterhaltung hatten. Unsere Pensionsmütter, die Fräulein Saß, 17 lebten in Feindschaft mit Professors wegen der Hühner. Professors Hühner kamen nämlich immer in Saß' Garten und zerkratzten die Spargelbeete und wühlten die Blumenrabatten um. Die Fräulein Saß verlangten, Professors sollten ihre Hühner aufschütten, aber Professors behaupteten, es wären andere Hühner, ihre Hühner täten so etwas nicht. Nun waren aber sonst gar keine Hühner in der Nachbarschaft da. Die Fräulein Saß und Professors wechselten wegen der Hühner Dutzende von beleidigenden Briefen, und es war eine Seltenheit, wenn Professors Hühner nicht unser Tischgespräch beherrschten.

Trotzdem es uns streng verboten war, mit Professors Pensionären zu reden, lernten wir sie doch kennen, und zwar in der Mittagsstunde, wenn die alten Damen schliefen und wir uns unten im Garten in der Laube aufhielten, während die Jungen nebenan auf dem Turnplatz waren. Sie kletterten dann über die Planke und kamen zu uns oder saßen auf dem höchsten Turnreck, wo sie uns auch sehen und mit uns sprechen konnten. Die meisten von ihnen waren Nordmarscher und Nordschleswiger und einige kannte ich von meinen Besuchen bei unseren Verwandten her. Auch ein Vetter von meiner besten Freundin Anni Meier, die auch bei Saß' in Pension war, Boy Detlefs, war bei Professors. Die beiden wollen sich heiraten, wenn Boy erst Doktor ist, er will nämlich Medizin studieren. Damals ging er noch in Sekunda. Dann war auch ein richtiger Graf da, Casimir Osdorff mit zwei f, das ist nämlich feudaler, sagt er. Es existiert auch noch eine Familie Osdorf mit einem f, aber das ist nur ein kleiner ordinärer Adel und zählt nicht, sagt Osdorff.

Wir hatten jede unseren speziellen Freund, und Osdorff war meiner. Er ist nicht gerade hübsch. Seine Unterlippe hängt ein wenig vor, sein Gesicht ist ein wenig gedunsen und seine hellgrauen Augen sehen immer aus, als ob er schläft. Anni nennt seine Augen 18 »Schellfischaugen«. So ist er noch heute. Boy Detlefs behauptet, Osdorff wäre dumm wie Stroh und faul wie Ruß. Was mir so sehr an ihm gefiel, und noch heute gefällt, sind seine Stiefel und seine Hände. Ich habe nie zuvor so wunderbare Stiefel und so entzückende Hände gesehen. Die Stiefel sitzen wie an den Füßen gewachsen, glatt und blank wie Aalhaut, und die Hände sind weiß und samtweich, und die Nägel sind so schön rosenrot mit schneeweißem Rand wie bei einer sehr feinen Dame.

Casimir Osdorff ist das zweitjüngste von sechs Kindern, und seine Mutter ist Witwe. Viel Vermögen ist nicht da. Der älteste Sohn bekommt das Gut und da dieses überschuldet ist, bleibt für die anderen nicht viel übrig. Nach seinem Abiturium sollte er eigentlich Forstwissenschaft studieren. Er hatte noch nicht sein Einjährigenzeugnis.

Osdorff machte gar kein Hehl daraus, daß ihm das Lernen zuwider war. Er sagt, die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse wären oberfaul, und der Staat würde über kurz zugrunde gehen, wenn nicht eine kräftige Reaktion ans Ruder käme. Anstatt daß so viele Millionen für allerhand Dummereien zum Fenster hinausgeworfen würden und die Regierung mit dem Mob kokettiere, indem sie allerlei Wohlfahrtsbestrebungen sanktioniere, müsse ein Ehrenunterstützungsfonds für unbemittelte Edelleute gegründet werden. Dieser Fonds müsse dazu dienen, daß die Zinsen an alle richtig feudalen unvermögenden Adligen derartig verteilt würden, daß ihnen dadurch ein standesgemäßes Auskommen ohne Arbeit ermöglicht werde und die Edelsten des Reiches nicht gezwungen wären, sich in niederem Broterwerb mit dem Bürgervolk zu liieren. Dieses wäre nur für den Staat von Vorteil, indem der Adel dadurch gekräftigt würde. Denn es gäbe nur drei berechtigte Stände: Adel, Geistlichkeit und Proletariat. Die Übergangslagen, der sogenannte breite 19 Mittelstand, sei der Krebsschaden eines feudalen Staatswesens. Der Adel sei da zum Befehlen und das Proletariat zum Arbeiten und Dienen, und die Geistlichkeit für die Aufrechterhaltung der Ordnung. Die Bourgeoisie sei der Nährboden aller Revolution. Es sei eine Schande, daß ein junger, hochbegabter Mann aus altem, edlem Geschlecht, wie er, ein Osdorff mit zwei f, mit Bauernjungen und Bürgersöhnen dieselbe Schulbank drücken und sich von bürgerlichen Lehrern Anschnauzereien gefallen lassen müsse. Er entwickelte mir oft stundenlang seine Ansichten, die ich keineswegs unterschreiben möchte, die ich aber teilweise sehr merkwürdig und interessant fand.

Die anderen Mädchen wollten ihre Freunde alle heiraten, aber Osdorff sagte mir gleich im Anfang, daß er mich nicht heiraten könne. Vor Jahren, erzählte er mir, habe er sich in die entfernte Verwandte einer angeheirateten Cousine verliebt. Als besonnener Mann sei er aber nicht gleich mit einer Erklärung losgerückt, sondern hatte sich vorher erst gründlich erkundigt und ihren Stammbaum beaugenscheinigt. Und da hatte es sich herausgestellt, daß ihre Urgroßmutter mütterlicherseits eine sächsische Geheimratstochter namens Düppel gewesen war. Niemals hätte er es sich verziehen, wenn er durch ein leichtfertig gegebenes Ehrenwort seiner Familie eine solche Schmach zugefügt hätte. Es sei sein Stolz und seine Ehre, sein Wappenschild blank zu halten, und diese Urgroßmutter Düppel wäre ein furchtbarer Fleck gewesen. Ich muß sagen, seine Aufrichtigkeit berührte mich sympathisch. Sonst gefällt mir, wie gesagt, nichts an ihm wie die Nägel und die Hände.

In Fräulein Lundbergs Schule schnitt ich soweit ganz gut ab. Ich war gerade ein halbes Jahr in der ersten Klasse, als der große Kladderadatsch kam, der meinem Aufenthalt in T . . . . .ein vorzeitiges Ende bereitete. Das kam nämlich so. In T . . . . . wurde eine große 20 Hochzeit gefeiert, zu der Fräulein Saß und auch Professors eingeladen waren. Wochenlang hatten die Fräuleins überlegt, ob sie Professors wegen ablehnen sollten oder nicht. Die Hühnerfeindschaft war so groß, daß sie stark dreiviertel geneigt waren, eine Absage zu schicken, aber schließlich entschlossen sie sich doch, hinzugehen und Professors wie Luft zu behandeln.

Wir hatten für den Hochzeitstag mit Professors Jungen einen Ausflug nach dem Grünen Baum verabredet. Das heißt nur Anni Meier, Lina Schütt und ich, Boy Detlefs, Heite Butenschön und Osdorff. Die anderen Mädchen waren alle jittig. Der »Grüne Baum« ist ein einsames Wirtshaus, eine Stunde Wegs von T . . . . ., und ist berühmt wegen der feinen Grogs, die es da gibt.

Wir gingen gegen fünf Uhr nachmittags weg und bummelten langsam die Chaussee hinaus, so daß es schon fast sieben war, als wir im »Grünen Baum« anlangten. Dort eingekehrt, bestellten wir uns sechs Grogs und stießen an, und tranken aus. Das Zeug brannte wie Feuer auf der Zunge, ich kann nicht sagen, daß ich etwas Feines daran finden konnte, aber Boy sagt, wir müssen anstandshalber noch eine Runde nehmen, sonst sehe es zu lumpig aus, und auf einem Bein könne man überhaupt auch nicht stehen. Ich dachte: denn man zu . . . halt den Atem an und trink es wie Medizin . . . . . . Aber es war sonderbar, ob die Wirtin nun das zweite Mal besseren Rum genommen und mehr Zucker hineingetan, das zweite Glas schmeckte viel besser, man wurde so schön warm danach und so lustig. Nachher tranken wir noch ein Glas, »weil's so schöne ging«, sagte Boy Detlefs, und wir wurden immer ausgelassener und lachten wie toll. Dann ließ Boy Detlefs eine Bowle kommen und sagte, wir feierten seine und Annis Verlobung, und da gabs ein Hallo, und dann tranken wir alle miteinander du und du. Zuletzt wurde mir übel von dem heißen starken Zeug 21 und die anderen mochten auch nicht mehr. Um viertel nach neun brachen wir auf, aber es wurde beinahe zehn, ehe wir fortkamen. Wie ich aus der warmen Stube hinaus in die Luft trat, drehte sich alles vor meinen Augen, und es war gut, daß Boy Detlefs hinter mir stand und mich festhielt, sonst wäre ich umgepurzelt.

»Ja, Thymian, das ist recht, bleib man bei uns und halt dich lieber an Menschen, als an den ollen Kretin,« sagte er, »der Osdorff hat heute abend genug mit all seinen f'en zu schleppen. Er hat heute davon vier, zwei f'n im Namen und zwei in seinem Kopf, nämlich 'n Affen . . .« Und während er meine Hand festhielt, bumste er Osdorff, der tatsächlich erbarmungswürdig aussah, auf den Schädel und schrie: Wie klingt das hohl! Wie klingt das hohl! Darüber mußten wir lachen. Aber Anni kam wie ein Stoßvogel von hinten und haute mich auf die Hand, die Boy festhielt, und rief: ich solle mich fortscheren, ich hätte mit ihrem Bräutigam nichts zu schaffen. Da nahm Boy sie in den anderen Arm und dann trollten wir ab, indem wir bunte Reihe bildeten und die Chaussee sperrten.

Aber als wir an die Luft kamen, wurde uns recht schlecht. Anni jammerte laut, sie konnte nicht gehen, ich schleppte mich auch nur mit Mühe und Not fort, und Lina Schütt hinkte wie 'ne angeschossene Krähe, aber die Jungen, das heißt Boy Detlefs und Butenschön, hielten uns fest und bugsierten uns weiter. Da auf einmal gab es einen Knacks in der Reihe. Osdorff, der an einem Ende ging und von Lina untergefaßt wurde, war vornübergefallen und riß Lina mit und um ein Haar wären wir alle gestürzt. Aber während Boy und Butenschön sich um die beiden, die sich im Chausseeschmutz wälzten, bemühten, taumelten Anni und ich seitwärts nach dem Graben. Ich setzte mich auf einen Chausseestein und Anni warf sich auf den Bauch ins nasse Gras und fing 22 laut an zu schreien, sie müsse sterben und sie gehe keinen Schritt weiter, es sei schon einerlei, wo sie verende, es wäre doch gleich vorbei mit ihr. Niemand hörte auf sie, denn Boy und Butenschön hatten genug mit Osdorff und Lina zu tun und es gelang ihnen nur, Lina auf die Beine zu bringen, aber fort konnte die auch nicht mehr. Die beiden Jungen beratschlagten, was sie tun sollten und kamen endlich zu dem Schluß, daß sie nach T . . . . . laufen und einen Wagen holen wollten, damit wir alle noch vor Toresschluß in die Kajüte kommen konnten. Dann rannten sie fort und wir blieben an der Chaussee zurück.

Lina und Anni heulten um die Wette, Osdorff grunzte wie ein Schwein im Chausseepatsch, und die Mädchen fingen an zu würgen und sich zu erbrechen. Das ekelte mich so, daß mir beinahe auch schlimm geworden wäre, und deshalb schleppte ich mich etwas weiter fort, aber die Füße waren mir so schwer, daß ich mich bald wieder am Graben hinsetzte. Ich merkte wohl, daß ich ebenso wie die andern total betrunken war, aber ich wußte, sah und hörte alles. Weil mir der Kopf so weh tat, streckte ich mich lang im Gras aus und blinzelte in die Luft. Der Mond spiegelte sich in den Regenpfützen der Chaussee, und Millionen Sterne standen am Himmel. Wie ich so hinauf sah, war es mir, als wären die Sterne lauter helle Menschenaugen, und als gehörten zwei davon, zwei goldne, klare, meiner lieben toten Mutter. Da machte ich die Augen zu, denn ich konnte diese beiden Sterne nicht ansehen. Mir war plötzlich sehr weh ums Herz. Ich schämte mich so fürchterlich. Es ist gewiß nichts Feines, wenn Schulmädchen sich vollsaufen und wie das liebe Vieh am Wege liegen bleiben. Aber wer konnte auch wissen, daß das Deibelszeug so nachwirkt. – Damals, an dem Therese Krones-Abend, war es doch viel netter. Das habe ich jetzt heraus, daß 23 ein Sektrausch ein viel feineres Ding ist, als ein ordinärer Rumaffe, das ist ungefähr ein Unterschied wie zwischen einem Rassehund und einem ekligen, kläffigen Dorfköter. Nach einer Weile kam ein Wagen. Als die Leute das Jammern von Anni und Lina hörten, hielten sie an und kletterten ab. Es war ein Schlachter, der mit einigen Viehkommissären über Land gefahren war, und diese Menschen sammelten nun, unter lautem Gelächter, Osdorff und die Mädchen auf den Wagen. Um nicht allein zurückzubleiben, kletterte ich auch hinauf, aber ganz allein, denn mit mir wurde es schon allmählich besser. Was wir da auf dem Wege nach T . . . . . für Witze und rohe Späße über die höheren Töchter und den gelehrten Jungen anhören mußten, das geht schon auf keine Kuhhaut mehr. Es war das reine Fegefeuer. Anni und Lina waren noch nicht in der Verfassung, alles zu verstehen, aber ich hab' auf diesem Wege meine Sünden an dem Abend abgebüßt, das kann ich mit gutem Gewissen behaupten.

Um nur nichts zu hören, stopfte ich mir die Finger in die Ohren, so entsetzlich war das. In T . . . . . luden uns die Kerle vor dem Schlächterladen ab, und die Frau Schlächtermeister kam mit der Lampe heraus, und die Dienstmädchen und Gesellen ebenfalls, und das Lachen und Witzereißen ging von vorne los. Wie Osdorff nach Hause gekommen ist, weiß ich nicht. Fräulein Saß' Mädchen brachte Lina und Anni zu Bett und für Lina mußte der Doktor geholt werden. Ich suchte es zu verhindern, aber Lina war wie verrückt und wollte partout sterben, gerade wie vorher Anni.

Na, am anderen Morgen war die Stadt natürlich voll von unserem Abenteuer. Fräulein Lundberg schickte uns nachmittags aus der Schule nach Hause, weil eine Untersuchung eingeleitet werden sollte. Das Resultat dieser Untersuchung aber war, daß wir alle drei geschaßt 24 wurden. Fräulein Lundberg behauptete, ein solcher Fall von unmoralischem Lebenswandel wäre in den Annalen ihrer Schule noch nicht verzeichnet, und unser Beispiel würde verderblich auf unsere Mitschülerinnen wirken; es sei eine Existenzbedingung ihrer Schule, daß sie sich alle schlimmen Elemente fernhalten müsse. Anni und Lina heulten wie die Schloßhunde, und Anni war so gemein, alle Schuld auf mich schieben zu wollen, womit sie aber nicht durchkam.

Was die Jungen anbelangte, so teilte Osdorff unser Schicksal, er wurde mit Schimpf und Schande relegiert – trotz seiner zwei f'n. Boy Detlefs und Butenschön kamen mit einem Verweis davon, was ich nun sehr ungerecht fand, denn es lag doch kein anderer Milderungsgrund für ihr Verhalten vor, als daß sie ihren Affen besser zu tragen verstanden, wie der arme Osdorff. Einige böse Zungen behaupteten, der Direktor hätte gegen Boy nicht so hart sein dürfen, weil Frau Detlefs der Frau Direktor jeden Sonnabend drei Kopp Butter und ein Stieg Eier umsonst brachte. Ob's wahr ist, weiß ich nicht.

Die anderen Mädchen weinten Tag und Nacht, weil sie Furcht vor ihren Eltern hatten. Ich gar nicht. Ich wußte, daß Vater mir nichts tun würde. Nur vor Tante Friedas bösen Augen hatte ich ein bißchen Angst.

Vater holte mich am anderen Abend ab. Er war gar nicht böse und schimpfte nur auf Fräulein Lundberg, es sei von der ollen Schachtel eine Kleinlichkeit und Engherzigkeit über alle Maßen, einen solchen Kinderstreich gleich so schwarz anzustreichen, sagte er, und er freute sich, daß ich nun wieder nach Hause komme. Er hätte mich doch sehr entbehrt. Ich freute mich auch.

Zu Hause hatten sie die Türe bekränzt und ein Transparent »Willkommen« angebracht:. Ich' war so gerührt, daß ich vor Freude weinte.

Im Hause hatte sich wenig verändert, nur daß statt 25 der ollen Köchin eine Wirtschafterin im Hause war, eine ganz hübsche, aber sehr dicke Person. Fräulein Reinhard hieß sie. Als wir zu Abend gegessen und die Reinhard hinaus und Meinert wieder in der Apotheke war, setzte Vater sich zu mir aufs Sofa und unterhielt sich mit mir ganz vernünftig, wie mit einer erwachsenen Dame. Es sei ein Elend mit den Wirtschafterinnen, erzählte er mir, die Reinhard wäre nun die vierte in zwei Jahren. Er sei sehr froh, wenn ich mal erst so weit wäre und den Haushalt führen könnte, daß man das fremde Pack nicht mehr brauche. Dann nahm er meinen Kopf in seine linke Hand und sah mich lange an und strich mit der rechten Hand über meine schwarzen Zöpfe und sagte, ich sei hübsch geworden, bildhübsch, und wenn ich mal erwachsen wäre, täte er mit mir in Bäder reisen, damit ich Bekanntschaften mache; es wäre ein Jammer, wenn ich hier in dem Drecknest versauere und einen der dämlichen Philister heiraten müsse.

»Weißt du, wem du ähnlich siehst, Thymi?« sagte Vater. Ich schüttelte den Kopf.

»Der Mutter schlägst du nicht nach. Die hatte ein kleines, pusseliges Gesichtchen, aber eine Schönheit war sie nie. Von mir hast du die Schönheit auch nicht geerbt. Aber frage mal Tante Frieda nach dem Bild deiner Urgroßmutter Madame Claire Gotteball – es muß irgendwo in der Rumpelkammer bei ihr stehen – du wirst da verwandte Züge finden. Sie war eine Französin und muß eine pikante Schönheit gewesen sein. –

»Was ist das, eine ›pikante‹ Schönheit,« fragte ich. Vater lachte.

»Das kann ich dir nicht so bedeuten, Thymi. Eine ›pikante‹ Schönheit ist eine Schönheit, die den Männern gefällt. Nun weißt du es.«

Ja, nun wußte ich es, aber ich war nicht viel klüger dadurch geworden.

26 Von nun an ging alles seinen gewohnten Gang. Ich ging das letzte halbe Jahr bis zu meiner Konfirmation wieder bei Fräulein Vieterich in die Schule. Eines Tages hatte ich eine große Überraschung. Ich hatte eine Besorgung bei Tante Wiebke Henning zu machen und an der Ecke der Bismarckstraße begegnet mir – – Casimir Osdorff. Ich traute meinen Augen nicht, aber er war es, in Lebensgröße. Und es ging alles mit rechten Dingen zu. Er ist bei Doktor Bauer in Pension und soll dort zum Einjährigen gepreßt werden. Doktor Bauer war zurzeit Hauslehrer beim Grafen von und zu Ypsilon, der in Berlin ein großes Tier und Casimirs Vormund ist. Osdorff jammerte, daß er hier in G. mit noch »gemischteren Elementen« in Berührung käme als in T. Ich tröstete ihn, und wir verabredeten uns, öfter zusammen zu kommen. Ich habe hier seit meiner Rückkehr keine richtigen Freundinnen. Anni Meier ist nach Wandsbek und Lina Schütt nach Kiel in Pension gekommen. Da ist es doch ganz nett, daß ich wenigstens noch einen Freund habe, mit dem ich mal plaudern kann.

In dem letzten Jahre bis zu meiner Konfirmation passierte nichts Besonderes. Mit unserer Wirtschafterin stehe ich mich ganz gut, sie ist gefällig und freundlich. Wenn sie nur nicht so schrecklich gefräßig wäre! Ich kann die Menschen nicht leiden, die immer essen. Es ist unglaublich, was sie bei Tisch für Portionen verschlingt. In der Zwischenzeit schnuckert sie immer noch aus den Taschen. Unausstehlich!

* * *


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