Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Nun bin ich schon fünf Wochen in Hamburg. Frau Rammigen heißt die Hebamme, bei der ich wohne. Sie bewohnt ein Häuschen ganz allein an der Eimsbüttler Chaussee, mit einem Gärtchen dahinter. Mit mir zusammen ist noch eine Dame hier, die schon im nächsten Monat ihrer Niederkunft entgegensieht. Frau Liesmann heißt sie, sagt sie. Ich glaube aber nicht, daß sie verheiratet ist, sonst war sie wohl nicht hier. Sie ist aus Hannover. Ein schönes Weib mit goldrotem Haar und milchweißer, hier und da von ein paar blassen Sommersprossen durchsetzter Haut. Wir gehen oft zusammen spazieren, weil wir uns ja beide so sehr langweilen.

Was soll man auch den ganzen lieben langen Tag machen!

»Frau« Liesmann ist vierundzwanzig Jahre alt. Gott, hat die elegante Toiletten! Ich möchte auch so schöne Sachen haben. Die ersten Gelenke ihrer sämtlichen Finger sind dicht mit Brillanten garniert.

Neulich war ein Herr hier und besuchte sie. Ihr 73 »Mann«, sagte sie. Ist aber natürlich nicht wahr. Er hatte ein Taschentuch hier liegen lassen, das ich fand, und das mit den Initialen V. v. V. gezeichnet war. Ihr Mann müßte doch Liesmann heißen. Sie waren sehr zärtlich zusammen. Einen Abend hatten sie mich mit ins Theater genommen und nachher speisten wir bei Ehmke am Gänsemarkt. Er war ja sehr nett, aber ich kam mir doch recht überflüssig vor bei den beiden, die sich gar nicht genierten, und sich in meiner Gegenwart küßten, daß es eine Art hatte. Dann machte der Herr einige Bemerkungen und Anspielungen, die ich sehr taktlos fand. Ich war direkt verletzt dadurch. Das merkte der Herr V. v. V., alias Liesmann, wohl, denn er lachte und klopfte mir auf die Wange und sagte lachend: »Nur nichts übel nehmen, Kindlein. Ist ja alles menschlich. Und schön ist's doch – – das Leben auf der Landstraße.« Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Wie wir aber nachher nach Hause gingen, die beiden Arm in Arm, und ich daneben, kam ich mir doch recht einsam und verlassen vor. Wenn ich darüber nachdenke, meine ich, in meinem Schicksal wäre noch etwas Besonderes, was es erst recht düster und trostlos macht. Ich weiß auch, was es ist. Das ist es, daß kein Zweiter da ist, der mit mir leidet und um dessentwillen ich leide. Wenn ich nur sagen könnte, ich hätte einen Menschen unendlich lieb gehabt, und mich ihm hingegeben, und ich müßte dafür büßen, dann wäre das alles nicht so furchtbar. Aber so . . . Manchmal ist mir, als ob das alles nur in meiner Phantasie wäre, und als ob ich gar nicht – – – lieber Gott! – –

Frau Rammigen ist eine sehr nette Frau, aber nicht viel zu Hause. Heute ist Frau Liesmann nach St. Pauli zu einer Schneiderin, ich mochte nicht mit, weil mir so müde ist. Da habe ich mir das Buch hervorgeholt und schreibe.

* * *


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