Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Wien, 30. Oktober 1897.

Du hast wohl schon lange gewartet, daß ich mal wieder mit dir schwatze, alter Weggenosse, denn du bist ja so etwas wie ein Mensch, d. h. eigentlich bist du klüger als ein Mensch, du läßt dir nur immer was erzählen und schweigst dazu und bist geduldig – wie Papier. Aber weil ich mir einbilde, daß du so etwas wie eine Seele hast, deshalb würde ich nie wagen, dich anzulügen, und deshalb kennst du meine innersten Gedanken. Der Sommer war ziemlich trist. Zuerst in Elster, dann vier Wochen in Kreuznach. Dann ein paar Wochen in Berlin. Habe die Kurvorschriften gewissenhaft befolgt und lebe noch danach, aber bis jetzt haben sich die Spuren eines Erfolges auch nicht gemeldet. In Berlin habe ich mir meine Wohnung eingerichtet, sehr elegant und geschmackvoll, und wäre gern gleich eingezogen, aber da der Graf im September nach Wien mußte und mich mithaben wollte, da er den Sommer über ohnehin nicht viel an mir hatte, mußte ich mich fügen und freue mich nun aufs Heimkommen im Dezember. Denn ganz offen gestanden, dies Leben macht mir auf die Dauer auch keine Freude, es ist zu »dov«, wie die Kindermann immer 207 sagte. Der Graf ist dreiunddreißig Jahre älter als ich, und kommt nicht recht mit, und trotz seiner Klugheit und Weltgewandtheit finde ich ihn manchmal schwerfällig und langweilig. Er ist sehr streng konservativ und adelsstolz, wenn er auch zu klug und taktvoll ist, um das jemand merken zu lassen. Aber vor mir kann er sich doch nicht verstecken, ich merke es aus manchen gelegentlichen Bemerkungen, aus seinen Ansichten, aus vielen Kleinigkeiten. Wenn Casimir früher das Maul aufriß und von seinem Stammbaume und seiner Verwandtschaft räsonierte, habe ich höchstens darüber gelacht, aber dies ärgert mich, und es kribbelt mir manchmal in den Nerven, und die Opposition in mir drängt nach einem Ausbruch, und ich muß tüchtig an mich halten, um nichts zu sagen, denn ich will mich doch um Gotteswillen meinem alten Freund nicht unangenehm machen. Ich kann nichts dafür, aber so etwas ist mir zu dumm. Ich kann absolut nicht einsehen, wieso der Adel das Recht hat, sich als eine besondere und bevorzugte Kaste aufzuspielen. Einmal hätten wir uns ohnehin bald verkracht. Wir saßen den Tag im Matschakerhof und da kam die Rede auf ein souveränes europäisches Fürstenhaus, das gerade keine Ursache hat, auf seine Mitglieder besonders stolz zu sein, und ich gab meiner Meinung Ausdruck, daß eine Republik eine viel gesündere Einrichtung ist, als wie solch ein souveränes Staatswesen mit der geregelten Erbfolge. Ob solch ein Thronfolger nun dumm oder klug, schlecht oder gut ist, Fähigkeiten zum Regieren besitzt oder nicht, er wird König, resp. Kaiser oder Fürst, weil ihn ein Kaiser, König oder Fürst erzeugt und ihn eine ebenbürtige Mutter zur Welt gebracht hat, und in die Hände eines solchen unfähigen, unguten Menschen ist dann das Schicksal einer ganzen Nation gelegt. Ich legte ihm das alles auseinander, aber er lächelte nur ironisch und sagte: »Du gestattest wohl, 208 liebe Thymian, daß ich darüber etwas anderer Meinung bin –« und sprach dann unvermittelt von einem Kostüm, das ich mir morgens bei Zwiebeck gekauft hatte, und das empörte mich so maßlos, daß ich gar nichts mehr herunter brachte und ihm am liebsten das Glas Wein, von dem ich trank, ins Gesicht geschmissen hätte. Das will ich dir sagen, wenn der Graf mich heute heiraten wollte, und meine Versorgung davon abhängig wäre, ob ich's tu oder nicht, dann tät ich doch noch ergebenst danken. Denn mit solchem langweiligen Mann ebenso langweilig Tag für Tag und Jahr um Jahr zusammen zu leben, – nee, das würde mich verrückt machen. Dabei ist er auch mißtrauisch, wenn ich allein fort gewesen bin, heißt es: Wo warst du? Wie lange bist du da und dort gewesen? Was hast du gemacht? Was hast du erlebt? Gott, nein, das macht mich ganz zippelig.

Zum Glück ist er hier sehr oft in Anspruch genommen, und ich bin mir viel selbst überlassen, und wenn ich über den Graben oder den Ring in der Kärntner Straße entlang bummle, erlebe ich immer etwas. Sobald ich in ein Café trete, drehen sich alle Köpfe nach mir um, und wohin ich komme, errege ich immer noch Aufsehen. Manchmal hätte ich wohl Lust, mal wieder ein bißchen zu abenteuern, so ganz en passant mal ein kleines Intermezzo mitzumachen zur Auffrischung, aber einmal fürchte ich mich vor Otto, und zweitens macht es mir Spaß, irgend 'n Frechdachs, der sich an mich heranwagt, dann von oben herab abzuwimmeln, daß er wunder meint, wie groß er sich geschnitten hätte. Vor einigen Tagen war ich nachmittags im Café Scheidl, an der Elisabethstraße, das die Wiener Café »Fenstergucker« nennen, und da setzte sich ein Herr zu mir und wir wurden bald bekannt. Er war aus München-Gladbach und Schriftsteller und hielt sich studienhalber ein paar Wochen in Wien auf, und ich stellte mich als Frau Osdorf aus 209 Berlin vor, und sagte ihm, daß ich auch zu meinem Vergnügen nach Wien gereist sei, um es kennen zu lernen, wobei ja auch nichts gelogen war. Nachher meinte Dr. Martin, so hieß er, ob wir nicht den Abend zusammenbleiben könnten, und da der Graf zu einem Diner war, konnte ich einwilligen. Wir haben uns dann im Theater an der Wien den »Mikado« angesehen, nachher bei Leidinger gegessen, und dann wollte mein Begleiter mir »Wien bei Nacht« zeigen. Da sind wir in ein Nachtcafé, dessen Leben genau dieselbe Signatur trug wie die Nachtcafés in Berlin, nur daß, wie mir schien, das Angebot verhältnismäßig größer war als in B. und die Nachfrage jedenfalls weit überstieg. Der Doktor sagte: »Bemerken Sie, gnädige Frau, wie wütend Sie angestarrt werden? Man fürchtet hier stark die Konkurrenz, und eine anständige Frau wird von den Königinnen der Nacht da, wo sie das Reich behaupten, wie ein Schlag ins Gesicht empfunden. Die Sorte kennen ja so genau ihresgleichen und wissen sofort, was zu ihnen gehört und was nicht . . .« Ich sagte nichts und dachte bei mir: O, du Menschenkenner –. Nachher fragte er mich, ob es mich interessiere, noch einen anderen Ausschnitt des Wiener Nachtlebens kennen zu lernen, was ich natürlich bejahte. Dann gingen wir in ein Kellerlokal in der Nähe des Stephandom, das anscheinend nur Eingeweihten bekannt ist, der Schriftsteller sagte: »Dies ist der richtige moderne Sklavenmarkt, ein regulärer Schacher mit Menschenfleisch – –« In den mäßig großen Sälen war Musik, gute ungarische Streichmusik, die das Blut in Wallung brachte. Die Menschen wogten tatsächlich wie auf einem Markt hin und her. Aber was für Publikum! Unsere Berliner Halbwelt leidet auch nicht gerade an einem Überschuß von sehr schönen Erscheinungen, aber es sind doch eine Menge sehr hübscher Mädchen darunter und die ganz unansehnlichen wissen, wenn sie Schick haben, 210 immer noch etwas aus sich zu machen. Aber diese Weiber waren unter Null, wenn das, wie der Martin behauptet, die Elite der Wiener Demimonde ist, reicht sie unserm Berliner Durchschnitt nicht das Wasser. Ich habe an dem Abend wenigstens nicht eine Nette gesehen, alle abgerackelt, widerlich geschminkt, zum Teil geradezu häßlich und scheußlich aufgedonnert. Widerwärtig wie das weibliche, war auch das anwesende männliche Publikum, Greise und unreife Bengel von zwanzig und darunter, die mit Gigerlknütteln umherliefen und das große Wort führten und kein einziger ordentlicher Mann. Tatsächlich stellen die ganz alten und ganz jungen Herren ja auch in Berlin das Kontingent der Kunden, aber man findet doch auch Männer in den besten Jahren bei uns, hier keinen einzigen, an dem Abend wenigstens nicht. In einem Raum nebenan wurde getingelt, ein halbnacktes Frauenzimmer trug mit einer unglaublichen Stimme ein Lied im Wiener Dialekt vor, von dem ich kein Wort verstand; dieser »Gesang« war geradezu eine Strafe und wir zogen uns schleunigst wieder zurück. Ich sagte dem Doktor, daß ich Durst hätte, und wir setzten uns in den Hauptsaal an die Wand und bestellten uns Wein. Es waren auch ein paar Provinzler da, die Frauen guckten sich die einzelnen Gestalten an, als ob sie im Panoptikum wären. Es war gewiß kein erquickliches Bild, dieser »moderne Sklavenmarkt«, und doch – und doch . . . der heiße, süßliche Österreicher Wein ging mir ins Blut, und ich schloß unwillkürlich die Augen und lauschte auf die prickelnde, feurige, laute Musik, die die Sinne aufquirlt, und spürte etwas in mir, das ich nicht anders als etwas »Heimatliches« bezeichnen kann; das Gefühl meiner Zugehörigkeit zu dieser Welt machte sich in mir bemerkbar und verursachte mir eher eine Art Wohlbefinden denn Unbehagen. Ich glaube wirklich, wer einmal diese Luft atmete, dem setzen sich ihre Bazillen 211 ins Blut wie eine Krankheit, die niemals ausheilt, die immer wieder herausbricht. Ich dachte an meinen süßen Schatz in Berlin, den ich so furchtbar lange entbehrt habe, und wenn ich ihn den Abend da gehabt hätte, wär mir alles egal gewesen, und ich hätte alles hingeworfen, den Grafen mitsamt seinem Geld, und alles, alles, wenn ich ihn dafür hätte haben können. Ich will ihn auch wieder haben, wenn ich nach Berlin komme, und wenn alles draufgeht. Ich pfeif auf alles. Die Liebe ist doch das Schönste in der Welt und es geht nichts darüber. Ja, ich träumte von meinem Julius und mir wurde warm und sehnsüchtig dabei, und wie ich die Augen aufmachte, bemerkte ich, daß der Schriftsteller mich betroffen anstarrte. Ich lächelte ihn an, denn ich wäre gleich mit ihm gegangen, wenn er gewollt hätte, aber der Tölpel merkte nichts und machte mir nur so von hinten herum und sehr ehrerbietig den Hof. Komisch, es hat Zeiten gegeben, wo ich mich fast krank sehnte nach ein bißchen Achtung und Ehrerbietung, und da war es mir lästig, und ich wurde kurz und übelgelaunt. Wir verabredeten für den andern Tag am Tegetthoffdenkmal am Pratereingang ein Rendezvous, aber ich ging nicht hin, konnte auch nicht, weil der Graf da war, und hatte auch keine Lust, den Mann noch einmal wiederzusehen.

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