Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Montag.

Liebes Buch, sei doch ein Mensch! Ich rede zu dir wie zu niemand auf der Welt. Du bist meine einzige Freundin. Ich habe kein Geheimnis vor dir. Du kennst mich, wie ich bin. Du bist mein Beichtvater. Du nimmst alles still und stumm in dir auf, was ich dir sage, und ich habe dir schon viel gesagt. O, sprich doch mal. Rate mir doch! Sage mir, was ich tun soll. Ich bin so irre. Ich weiß nicht, was ich anfange. Soll ich? Soll ich nicht? Rede doch. Wenn du »Ja« sagen willst, plustere mir deine Seiten auf, sonst bleibe still. »Nein« sagst du? Ach, du bist ja nur ein dummes, totes Buch. Du hast keine Seele. Warum habe ich eine Seele? Es wäre bequemer, ich hätte keine.

Warum muß der Mensch überhaupt denken? Gedanken sind doch so unbequem und überflüssig.

Deshalb ist auch alle Moral so unbequem und so dumm und langweilig, weil sie aus dem Mutterschoß irgend eines Gedankens hervorgegangen ist. Tante Friedas Briefe lese ich nie zu Ende. Sie irritieren mich durch ihre Moralität und grauenhafte Langweiligkeit. Vater schreibt auch nicht mehr so oft. Sie haben zu Hause wieder ein Mädchen. Ich gerate wohl nachgerade in Vergessenheit. Gut. Ich will auch vergessen, daß ich mal ein Heim und eine Mutter und sogar einen Vater hatte. Ich 114 bin wie ein losgerissenes Blatt, mit dem der Wind spielt, das in den Schmutz getreten wird und müde weitertorkelt.

Das heißt: In Wahrheit fühle ich mich durchaus nicht müde. Eine wilde Lebenslust, ein heißer Hunger nach Glück und Genuß brennen in meinen Adern. Immer wieder drängt sich mir die Frage auf, wie sich meine Zukunft gestalten wird.

Wenn ich »brav« bleibe, und mich auf dem »schmalen« Wege halte, endet dieser schmale Weg der Ehrbarkeit und der Wohlanständigkeit todsicher einst in ein kleines, stilles Altjungfernkämmerlein à la Tante Frieda. Na, und wenn ich da mal sitze und zurückschaue, was hab' ich dann gehabt von meinem Leben . . . Nein, das will ich nicht. Ich habe wieder Freude an mir selber. Ich bin hübsch. Es macht mir Vergnügen, vor dem Spiegel ein Stück meiner Kleidung nach dem andern abzuwerfen und mich selbst anzuschauen, wie ich bin, schneeweiß und tannenschlank, und das Haar lang und weich, wie ein Mantel aus schwarzer Seide. Wenn ich mit beiden Händen in die schwarze Flut greife und sie auseinanderbreite, habe ich Schwingen: Ein weißer Schwan mit schwarzen Flügeln.

Konni ist wieder zurück. Sie hatte mir viel mitgebracht und sagte, sie freute sich, daß ich mich amüsiere, sie hätte nichts dagegen, solange ich ihr nicht ins Gehege käme. Na, ich werde doch nicht. Das wäre doch eine Gemeinerei über alle Maßen.

Konnis und der Kindermann Ansichten über das, was mich jetzt beschäftigt, sind sehr interessant verschieden. Konni hat zuweilen melancholische Anwandlungen.

Sie sagt, wenn sie die vergangenen Jahre ungeschehen machen könnte, täte sie es, und täte einen jungen Mann heiraten, wenn es auch nur ein kleiner Beamter oder ein Handwerker wäre. Es sei doch ein ganz anderes Leben. Man wäre doch dann ein ganzer Mensch und könne sich als Mensch geben, so sei man weder Fisch noch Fleisch.

115 Die Männer, die einem das Geld geben, seien schlimmer wie die Sklavenhalter, sie meinen, sie können für ihre paar Blaufüchse über einen verfügen wie über einen Strohwisch. Von Liebe sei keine Rede. Man sei ihnen nichts anderes wie – – na – Leider sei es sehr schwer und fast unmöglich, wieder zurückzukehren, wenn man das gute Leben mal geschmeckt habe.

So spricht Konni. Frau Kindermann suchte mir eine andere Auffassung der Sachlage beizubringen. Die Herren hätten sich über mich beschwert, ich sei ihnen zu kokett. Ich war sehr erstaunt und mußte lachen über solchen Unsinn. Da wurde sie ordentlich böse.

»Natürlich sind Sie kokett, ganz raffiniert kokett, Fräulein Thymian,« sagte sie. »Ja, wenn Ihre Jungfernschaft noch ganz intakt wäre und Sie noch nichts erlebt hätten, da würde ich annehmen, Sie wären mit einem solchen Ballast hoffnungslosester Anständigkeit und Moralität behaftet, daß es tatsächlich für Sie am besten wäre, Sie heirateten einen Postsekretär, brächten sechs Kinder zur Welt, kochten und stopften und ließen sich nachher vom Pastor eine schöne Leichenpredigt halten: Hier wird eine brave Kloßköchin und Saugmuhme begraben. Aber Sie! Ein schönes Weib, das seinen Roman bereits hinter sich hat, klug und gebildet, wie Sie sind, temperamentvoll und in der Liebe nicht unerfahren . . . Nein, nein, sagen Sie nichts! Sie sind erkannt. Ist ja ganz schön und richtig, aber Sie übertreiben's, meine Liebe. Sie schießen über das Ziel hinaus. Einmal lassen die Herren es sich gefallen, daß Sie ihnen einheizen und dann abschnappen, ein zweites Mal vielleicht auch noch, aber das dritte Mal bedanken sie sich . . . Es gibt mehr hübsche Mädel auf der Welt . . . Lieber Himmel, mir kann's ja egal sein, aber Sie dauern mich! Ich an Ihrer Stelle langte zu. Man ist wirklich nur einmal jung. 116 Nachher, wenn Sie mal alt sind und Sie keiner mehr mag, tut's Ihnen leid, daß Sie so dumm waren.« »Ja,« sagte ich, »das ist alles ganz gut, Frau Kindermann. Ich will mich auch gar nicht besser machen als ich bin. Aber ich hab' zuviel durchgemacht. Ich mag nicht mehr leichtsinnig sein. Wenn mir schlechte Gedanken kommen und Wünsche, brauche ich mich nur an die Stunde zu erinnern, wie ich an der Schleuse stand und mich ertränken wollte, dann zieht alles vorüber.« – »Aha,« sagte sie und pfiff, »da liegt das Häschen im Pfeffer. Sie haben Angst. Nun, wenn's weiter nichts ist, mein Schäfchen, da sind Sie man stille. Wofür wäre dann die Kindermann ärztlich geprüfte Masseuse, wenn sie nicht mit solchen Kleinigkeiten umzuspringen wüßte!! Das ist ein Griff und tut nicht mal so weh, als wenn Ihnen der Barbier einen Zahn ausreißt. Nee, da haben Sie man keine Bange nicht. Nur Vertrauen, Kindchen.« »Ach Gott, es ist nicht das allein, Frau Kindermann,« sagte ich traurig. »Nein,« sagte sie, »ich kann mir's denken: In Ihnen steckt noch ein Teil Philistermoral, und Sie können sich noch nicht ganz mit der freien Anschauung, die in unseren Kreisen herrscht, abfinden. Sie sind nicht hochmütig, aber ganz heimlich denken Sie doch, Sie sind etwas Besseres, als jede beliebige. Aber das nützt Ihnen alles nichts mehr, mein Herzchen, Sie haben ein Kind, und die bürgerliche Gesellschaft will nichts mehr von Ihnen wissen. Für die sind Sie doch verloren, da können Sie machen, was Sie wollen, für voll werden Sie nicht mehr genommen, und wenn Sie wirklich nochmal hereinkommen, leben Sie doch immer in Angst, daß was herauskommt und wird immer ein Hängen und Würgen zwischen Tür und Angel sein. Deshalb kommen Sie lieber zu uns, bei uns braucht man sich nicht zu genieren und kann jeder nach seiner Façon selig werden. Bei uns fragt niemand: Woher der Fahrt, wes Nam' und Art? . . . 117 Wir freuen uns unseres Lebens, tun recht und scheuen niemand, und nun überlegen Sie es sich mal, ob Sie den armen Glimm in Zukunft besser behandeln wollen. Der arme Kerl kann einem leid tun, er grämt sich ordentlich.«

So sprach Frau Kindermann und ich denke oft darüber nach. Ihre Worte enthalten viel Wahrheit. Daß ich für die bürgerliche Gesellschaft tot bin, ist mir bei Daubs oft genug plausibel gemacht worden. Meine Nähe könnte »unschuldige« junge Mädchen verführen. Keine anständige Frau will was mit »so einer« zu tun haben. Na, und dann? Was soll ich denn mit mir anfangen? Da bleibt mir schlechterdings nichts anderes übrig, als meine Auferstehung in einer anderen Welt zu feiern.

Ich durchschaue alles. Was für eines Geistes Kind Frau Kindermann ist, weiß ich längst. Sie hat selbst »massiert«, so lang' es ging, und sieht sich nun nach anderen Erwerbszweigen um. Das ist mir alles aber höchst gleichgültig. Sie plant eine Umsiedelung nach Hamburg, wo sie einen Salon begründen will. Sie hätte dort viel Verbindungen, sagt sie, und ihre Freunde in Hannover wollen dann zweimal im Monat zu einem Gesellschaftsabend herüberkommen. – – –

Ich bin beinahe vierzehn Tage noch nicht vor die Tür gekommen. Glimm will erst wieder mit mir ausgehen, wenn ich vernünftig geworden bin. Dann schenkt er mir eine Chiffontoilette und einen Brillantring.

Nun weiß ich nicht . . . Etwas in mir lehnt sich auf. Ich möchte nicht so eine sein, die von den Herren mit Verachtung behandelt wird. Glimm ist immer sehr ehrerbietig gegen mich. Er liebt mich, sagt er. Daß er nicht heiratet, ist Prinzipiensache bei ihm, sagt er.

Ich möchte mal gerne wieder abends fort, Sekt trinken und lustig sein und alle überflüssigen Gedanken abschütteln. Diese Gedanken sitzen wie ein schwarzes Ungeheuer mit hundert Köpfen und glühenden Augen und 118 fletschenden Zähnen auf meiner Brust und schlagen ihre Krallen in meine Seele.

Geliebtes Buch – ich möchte wissen – ich bin – ich bin verrückt.

* * *


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