Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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Berlin, 13. Juni 1897.

Die Zeit wird mir sehr lang. Der Graf ist beschäftigt und gesellschaftlich in Anspruch genommen und kann sich mir nicht immer widmen, obwohl er's gewiß gern täte. Ich fürchte mich, auszugehen, um nicht Bekannten in die Arme zu laufen und von ihnen angeredet zu werden. Mache meine Besorgungen meist per Droschke ab und gehe abends nie allein fort.

205 Ich wohne einstweilen im Zentralhotel, da es sich nicht lohnt, vor Oktober eine Wohnung einzurichten. Zum ersten Oktober haben wir eine Fünfzimmerwohnung am Kronprinzenufer gemietet, die ich allein bewohnen werde. Vorläufig fahre ich nächste Woche nach Elster und im August noch einige Wochen nach Kreuznach. Indessen geht mein Freund auf sein Gut in Ostpreußen, wohin sein Sohn auf Urlaub kommt, und im Spätherbst begleite ich ihn nach Wien, wo er amtlich zu tun hat.

Aber es ist so schrecklich langweilig, obgleich mein Zimmer nach der Friedrichstraße schaut und es recht unterhaltsam ist, am Fenster zu sitzen und hinauszuschauen, aber schließlich wird auch das öde. Ich habe auch unendlich viel gelesen in dieser Zeit, und meine spanischen Sprachstudien wieder aufgenommen, aber der Tag hat zwölf Stunden, und in der Nacht kann ich auch nicht schlafen. So zwölf leere Tagesstunden auszufüllen ist keine Kleinigkeit. Zu gern möchte ich Julius mal wieder sprechen, und auch mit D . . . verplauderte ich gern mal eine Stunde, aber ich wag's nicht. Wenn der Graf Lunte röche, riskiere ich, daß ich mit ebenso hexenhafter Geschwindigkeit, wie ich hoch gekommen bin, wieder herunter glitte, und ehe ich mich's versähe, wieder unten im Straßendreck säße. Ich stehe oft abends im Dunkeln am Fenster und sehe auf das Treiben der Straße und beobachte die Mädchen, wie sie schrittweise auf und ab gehen und den Männern ihr Fleisch anbieten, und dann quillt etwas in mir auf, ich kann es nicht bezeichnen, ein furchtbarer Ekel und zugleich ein kochender, ohnmächtiger Zorn gegen die grausame Ungerechtigkeit und Willkür des Schicksals, das Menschen zu Tieren macht, und daneben ein tiefes, fast zärtliches Mitleid mit den Unglücklichen, zu denen ich auch gehörte, und ein wütender Haß gegen die Reichen, die moralisch Unanfechtbaren, die mit so wunderschöner, unnachahmlicher, 206 stolzschwerer Rührmichnichtan-Betonung das Wort »Dirne« aussprechen – – – Ach Gott! – – – Wenn sie wüßten, was zuweilen in der Seele solcher Dirne vorgeht, sie würden sich schämen, sie zu schmähen. Darum: Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun. Ich habe Dumas' Kameliendame und manche andere Bücher ähnlicher Art gelesen, aber sie befriedigen mich nicht, weil ich nichts Wahres in ihnen finde. Ich könnte ein Buch über »Dirnenpsychologie« schreiben, denn ich kenne meine eigene Seele. Schade, daß ich dazu kein Talent habe, ich hätte jetzt so schön Zeit dafür – – –

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