Margarete Böhme
Tagebuch einer Verlorenen
Margarete Böhme

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8. Januar 1894.

Es treibt mich immer wieder zu dem Büchelchen. Ich weiß nicht warum. Manchmal bilde ich mir ein, es sei ein Mensch, mit dem ich rede, ein lieber, vertrauter Freund, mein einziger auf der Welt. Und es macht mir Spaß, aufzuschreiben, was ich erlebe und was mich beschäftigt in meinen Gedanken. Ich habe Osdorff 152 geschrieben und getröstet mit dem Frühjahr und ich denke wohl, daß ich ihm bis dahin Geld zur Reise schicken kann. Alsdann werde ich mir ein anderes Logis suchen und Osdorff mitnehmen. Man erlebt so mancherlei und fast jeden Abend was anderes, aber selten was Gutes. Ich bin so sehr nervös, daß manchmal meine Glieder fliegen wie im Veitstanz, und manchmal habe ich Lust, zu schimpfen und grob zu werden und zu schmeißen und mich auszutoben. Denn dies Leben ist gräßlich, aber man kommt nicht hinaus, man sitzt wie eingemauert drin und ist nirgends ein Ausgang und nur hoch oben ist ein Fenster, aber was hineinschaut, ist dumpfe, graue Luft und kein hoffnungsfrohes Himmelslicht mehr.

Da saß ich neulich im National mit Duda und Kietsche an einem Tisch nahe am Springbrunnen und nebenan saßen zwei Herren, einer mit langem, schwarzem Vollbart und goldenem Kneifer und ein alter Meergreis mit einer blaurot verwarzten Nase. Der alte Knacker schmiß ein Markstück in das Wasser, ich streifte den Ärmel auf und holte es heraus. Da warf er noch eins rein, und noch eins, und da kam auch Duda und fischte und nachher schmiß er immerzu Geld hinein, Marken und Fünfgroschen- und Zehnpfennigstücke, und da kamen sie alle herangewimmelt, und eine wollte der anderen zuvorkommen und der alte Kerl lachte, daß ihm der Bauch wackelte und ließ sich eigens vom Kellner zwanzig Mark Kleingeld bringen. In dem Gedränge verlor die Goldfischelse ihren Wilhelm, sie meinte wohl, ich hätt's getan und aus Wut ging sie hinterrücks hin und riß meine Nadeln aus dem Haar und dachte wohl, daß mir das gleiche Mißgeschick passieren würde wie ihr, aber da hatte sie sich geschnitten, die Haarsträhnen tollten mir nur so über den Nacken und lösten sich auf, und ich schüttelte sie mit Willen und stand da, vom Nacken bis 153 an den Kleidsaum wie mit einem losen schwarzen Gewand umhüllt. Das war ein Anstaunen. Aus allen Ecken und von allen Seiten kamen sie herbei und besichtigten das Wunder, und auch der große, schwarze Herr, der sich all die Zeit nicht gerührt hatte, und mit der Hand in der Tasche gleichgültig und teilnahmlos da saß, erhob sich und betrachtete mein Haar und sagte: »Prachtvoll! Prachtvoll! Sie könnten ja für eine Haarwasserfabrik Reklame machen, Mädchen . . .« Ich schnitt ihm eine Fratze, denn das Wort »Mädchen« paßte mir nicht, weiß nicht weshalb, da ich doch nicht mehr gewöhnt bin, per gnädig angeekelt zu werden. Die Mädchen waren alle neidisch, und das freute mich, und ich ließ das Haar den Abend so wild hängen, und jeder, der mir nahekam, wollte das Haar befühlen und darin herumfuhrwerken, aber ich litt's nicht und ließ jeden, der das wollte, erst fünf Mark bezahlen und hatte gleich an sechzig Mark zusammen, wofür ich mir nächsten Tags einen Pariser Hut mit gelben Federn kaufte. Was das Wunderbare war, daß ich immer wieder nach dem schwarzen Kerl hinsehen mußte, je länger ich ihn ansah, desto besser gefiel er mir. Er hat ein so schönes Profil gehabt, eine Adlernase und prachtvolle braune Augen und herrlich schöne, weiße, feste, glatte Hände. Ich wünschte ihn mir zum Mitkommen, und nahm keinen anderen an, und nach einer Weile kam er richtig und setzte sich an meinen Tisch und der Alte kam auch hinterher gemeckert. Ich hörte, daß der Schwarze ein Doktor ist, und nachher sagte er richtig, er begleite mich nach Haus. Und ich Schaf, anstatt zuzulangen, wurde patzig und sage raschweg nein, worauf er lacht und gemächlich sagt: »Na, dann nicht, lieber Schatz,« und zahlte und ging fort, und nachher habe ich mich blau geärgert, wie sich mir solch ein Lausejunge von zwanzig Jahren anhing, und ich habe die ganze Nacht an den schönen Menschen 154 denken müssen. Ich schreibe das nur auf, weil es eigentlich das erste Mal in meinem Leben ist, daß ich tatsächlich nach einem bestimmten Mann Verlangen gehabt habe. Ich muß noch an ihn denken und wünsche sehr, ihn wiederzusehen und werde ihn dann nicht mehr entwischen lassen. Aber so bin ich, mir selber unberechenbar. Auf einmal stößt etwas in mir auf: Nun gerade nicht. Dann ist es, als ob ein fremder Mensch in mir sitzt und ich muß machen und sagen, was der will und nicht was ich möchte. So ist es.

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